Zürich, Pelikanstrasse 5, in Sichtweite der Bahnhofstrasse: Hier gibt es seit diesem Sommer die französischen Herrenschuhe der Marke J.M. Weston zu kaufen. Mokassins für 595 Franken, Golfer für 805 Franken und Stiefeletten für 1100 Franken. Sie finden das teuer? «Würde man die Kilometer rechnen, die man mit diesen Schuhen zurücklegen kann, sind sie die billigsten der Welt», sagt Christopher Descours, seit vier Jahren Chef von J.M. Weston.

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Als er in die Firma kam, war Descours mit seinen 26 Jahren gerade einmal halb so alt wie der durchschnittliche Weston-Träger. Da lag es nahe, sich zum Ziel zu setzen, die Marke für Männer seines Alters attraktiv zu machen, ohne die älteren zu vertreiben. Wie viel Modernität mag es leiden?, fragte Jungmanager Descours seine Stammkunden, und diese antworteten: «Un peu, mais pas trop» – ein wenig, aber nicht zu viel.

«Un peu, mais pas trop» ist zum Glaubenssatz des Jungmanagers geworden. Die Schuhe, die bei der stilistischen Gratwanderung zwischen Tradition und Trend herauskommen, sind etwas schmaler geschnitten als die Klassiker, haben dort eine kleine Schnalle, hier ein verspieltes Stanzmuster. Das Geschäft mit den Neuheiten entwickle sich sehr gut, sagt Descours, ihr Anteil am Umsatz betrage bereits 20 Prozent. Das neue Modell 636, Ligne Beaubourg, Preis 820 Franken, ist innerhalb von wenigen Monaten zum am zweitbesten verkauften Schuh im Weston-Sortiment geworden. Der Bestseller ist und bleibt aber der Mokassin. Das Modell hat Eugène Blanchard vor bald 50 Jahren erfunden. Es heisst, er habe 200 Versuche gebraucht, bis er den richtigen Leisten dafür entwickelt hatte.

Eugène Blanchard war es auch, welcher der von seinem Vater Edouard 1891 in Limoges gegründeten Schuhfabrik den englisch klingenden Namen J.M. Weston gab. Weston heisst die Stadt nahe Boston, wo der junge Blanchard zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein Handwerk erlernt hat. Was «J.M.» zu bedeuten hat, weiss niemand. Es wird vermutet, dass die beiden Buchstaben eine Art phonetisches Kürzel seien für «j’aime».

Mit dem neuen Namen wurde bei der alteingesessenen Firma auch sonst alles anders. Die Produktion von 400 Paar Schuhen pro Tag drosselte Eugène Blanchard auf 40 pro Tag. Und statt seine Schuhe an den Handel auszuliefern, verkaufte er sie selbst, in seinem eigenen Laden, den er 1927 in Paris eröffnete.

Klein, aber fein: Dabei blieb der Franzose, bis er Ende der Fünfzigerjahre starb. Da Blanchard keinen Nachfolger hatte, gelangte J.M. Weston nach seinem Tod ins Portfolio eines Finanztrusts. 1976 löste der französische Milliardär und Financier Jean-Louis Descours (siehe «Selfmademan» auf Seite 270) die Manufaktur aus und versprach, J.M. Weston über Frankreich hinaus bekannt zu machen. Er tat es mit bescheidenem Erfolg: Als sein Enkel Chistopher die operative Führung übernahm, gab es J.M.-Weston-Shops ausserhalb Frankreichs erst in New York und in Genf. Der junge Descours macht die Träume des alten Descours nun wahr: Seit er im Amt ist, hat er Läden in Boston, Tokio, Dubai, Beirut, Moskau, Brüssel, Antwerpen und diesen Sommer ausser in Zürich auch noch einen in London eröffnet. Nun will er nach Shanghai.

Das Besondere an J.M.-Weston-Schuhen ist die Sohle. Hergestellt wird sie in einer Gerberei, die zum Unternehmen gehört. Sie heisst Tannerie Bastin, befindet sich am Rande von Saint-Léonard-de-Noblat, einem kleinen Dorf in einem grünen, kaum bevölkerten Tal südlich von Limoges. Die Reise dorthin ist eine Reise in eine andere Zeit: Während der Französischen Revolution erbaut, ist bei F. Bastin et Fils die Zeit stehen geblieben. Gegerbt wird hier mit Methoden aus dem vorletzten Jahrhundert. Das braucht viel Geduld – und einen starken Magen: Die Häute des Schlachtviehs sind bedeckt mit Fell, Fett und getrocknetem Blut und stinken abscheulich, wenn sie per Camion aus Deutschland und Österreich – «die besten Kühe» (Descours) – angekarrt werden.

Als Erstes werden sie im Foulon, einer Art riesiger Waschmaschinentrommel aus Holz, mit Wasser gewaschen sowie mit Kalk gebleicht, und schliesslich wird das Fell entfernt. Nun werden die Häute an Stangen befestigt und in Gerbbäder getaucht. Das sind Wannen, zwei auf zwei Meter gross und drei Meter tief, in den Boden eingelassen und bis oben gefüllt mit «jus de tannard», einem Mix aus Wasser und gemahlener Baumrinde. Hier bleiben die bleichen Häute, bis sich ihre Poren mit der Gerbflüssigkeit voll gesogen haben. Das dauert zwei Monate.

Nach den Gerbbädern müssen die Häute getrocknet werden. Draussen vor der Gerbereihalle werden sie zu diesem Zweck in der Erde verscharrt. Es wird Haut auf Haut geschichtet – etwa 600 pro Grube – und dazwischen schaufelweise gehäckselte Eichenrinde eingestreut. Bis das Ganze trocken und damit die Gerbung fixiert ist, vergehen zehn Monate. Zum Vergleich: Moderne Gerbereien, die mit Chemikalien und Maschinen arbeiten, brauchen für den Trocknungsprozess keine zwei Wochen. Effizient gegerbtes Leder ist viel empfindlicher, nutzt sich rascher ab und verkratzt leichter.

Mit Mistgabeln werden die trockenen Häute ausgegraben, danach in einem weiteren Foulon gewaschen, an der Luft getrocknet, mit heissem Fischöl eingerieben, abermals getrocknet und schliesslich zwischen zwei Eisenwalzen gebügelt: Ein Jahr nach Lieferung ist aus der stinkenden Tierhaut ein Stück unverwüstliches Leder geworden, dick wie starker Karton, hart wie ein Brett.

Pro Monat verarbeiten die zehn Angestellten der Tannerie Bastin 24 Tonnen Tierhäute, die für vier Euro das Kilo eingekauft werden. Am Ende des aufwändigen Produktionsprozesses bleiben 16 Tonnen Sohlenleder, das zu einem Preis von 18 Euro pro Kilo verkauft werden kann. 80 Prozent übernimmt J.M. Weston, der Rest geht an andere Luxusschuhmacher, zum Beispiel Hermès.

Mit 100 000 Paar verkauften Schuhen im Jahr ist J.M. Weston ein Zwerg in der weltweiten Luxusgüterindustrie. Das Unternehmen ist zwar auf Expansionskurs, seit Christopher Descours das Steuer übernommen hat. Aber auch hierbei bleibt es dem Grundsatz «un peu, mais pas trop» treu, und das angestrebte Ziel – «wir wollen klein bleiben» (Descours) – ist genauso ungewöhnlich wie das Tempo, das der junge Chef einschlägt: Schritt für Schritt nahm er Gürtel, Aktentaschen und Krawatten eins ums andere ins Sortiment auf.

Ohne Hast baut er das Ladennetz aus. Vor vier Jahren hat er entschieden, dass er in Zürich ein Geschäft eröffnen will. Diesen Sommer hat er endlich darauf angestossen. Mit dabei war sein Chefdesigner, Michel Perry.

Als Descours bekannt gab, Perry werde künftig für J.M.Weston designen, schluckte manch einer der 200 Mitarbeiter am Hauptsitz in Limoges leer. Mit Perry hatte Descours nämlich einen ziemlich ausgeflippten Schuhdesigner unter Vertrag genommen. Einen, der bis dahin zudem ausschliesslich Frauenschuhe entworfen und mit Kreationen für Couturiers wie Jean Paul Gaultier Aufmerksamkeit erregt hat. «Er wird unsere Modelle moderner machen, ohne ihr Wesen zu verändern», beruhigte Descours und liess Perry machen.

Tatsächlich sehen Perrys Modelle nicht viel anders aus als die Weston-Klassiker. Dennoch haben sie das Geschäft tief greifend verändert: Wie andernorts gibt es bei J.M. Weston nun Kollektionen, Saisons und Saisonenden – mitsamt Ausverkauf. «Vorher hatten wir nur absolut klassische Schuhe und jahraus, jahrein das gleiche Sortiment in den Läden», sagt Descours. Perrys Entwürfe, etwa den Wildlederschuh mit Gummisohle, nennt er vorsichtig «nouveaux classics» – Schuhe, die man auch am Bassinrand tragen kann. Vom Design her ähneln die Freizeitschuhe denen von Prada und Gucci durchaus und kommen auch mit dem Preis von 475 Franken nahe an diese heran. Descours schwärmt, die neuen Kreationen kämen bei der Stammkundschaft gut an und lockten auch neue Kunden in die Läden: «Die Hälfte aller Perry-Modelle wird von Neukunden gekauft», sagt er, «von Männern um die dreissig.»

Die Descours gehören zur Korona von Frankreichs Gesellschaft. Wer sonst noch dazugehört, trägt J.M. Weston: Fussball-ikone Zinedine Zidane hat die neuen Golfer designed by Michel Perry an. François Mitterrand liebte den schwarzen Loafer, Jacques Chirac trägt den schwarzen Mokassin. «Seit wir J.M. Weston besitzen, tragen alle Präsidenten Frankreichs unsere Schuhe», sagt Descours. Zu den Orders von ganz oben gehören auch jene der Garde republicaine à cheval und der Police: Für sie produziert J.M. Weston exklusiv Reit- und Leutnantstiefel.

Westons sind keine Massschuhe. Trotzdem passen sie den Männern rund um den Globus wie angegossen. Mit sieben verschiedenen Breiten pro halber Grösse (beginnend bei Schuhgrösse 38,5) findet der Japaner mit seinen kleinen, breiten Füssen die richtige Passform genauso wie der Amerikaner, der auf grossen, schmalen Füssen steht: 43 000 verschiedene Leisten lagern in einem Nebentrakt der Produktionshalle in der Zone industriel Nord in Limoges. Imposant auch das Lederlager: stapelweise Sohlenleder, tonnenweise Rinds- und Kalbsleder in allen Farben und schliesslich eine exotische Auswahl an Haifisch-, Elefanten-, Eidechsen- und Straussenhäuten, alles streng selektioniert: «Wir nehmen nur drei Prozent von dem, was uns angeboten wird», sagt Produktionschef Patrick Rodier. Die vielen verschiedenen Leder gehören zum Weston-Konzept: Jedes Modell ist als Spezialausführung bestellbar, zu entsprechenden Preisen. Die Stiefelette aus schwarzem Rindsleder (890 Franken) etwa kostet in rotem Krokodilleder 4500 Franken.

Schuhe von Weston sind zeitlos und halten ewig: Eine Abteilung in der Fabrik bei Limoges macht nichts anderes, als alte Westons zu restaurieren. Oft sind Paare darunter, die seit mehreren Jahrzehnten getragen worden sind. Die Schuhe werden handwerklich derart raffiniert und solide verarbeitet, dass zum Beispiel die Sohle ausgewechselt werden kann, ohne dass auch die Innensohle – die sich an den Fuss angepasst hat – erneuert werden muss. Rund 1000 Paar Schuhe werden im Monat von geschickten Schuhmachern wieder wie neu gemacht. Und das für 120 Euro.

Sohlen vom Besten und Oberleder vom Feinsten werden mit einem Mix von moderner Technik und traditionellem Handwerk zu Qualitätsschuhen. In der Fabrikhalle in Limoges riecht es nach Leder und Schuhwichse. Hier arbeiten rund 200 Leute. Sie sitzen hinter Näh-, Stanz- und Schleifmaschinen, an Leim- und Farbtöpfen, hantieren mit Nadel und Faden, spannen Oberleder auf Leisten und machen es dort mit kleinen Nägeln für die nächsten drei Wochen fest. Zwischen Innen- und Aussensohle schieben sie einen Holzkeil («für die Federung», so Rodier) und eine dünne Schicht Kork. Die Innensohle wird mit der Aussensohle vernäht, das Oberleder mit der Innensohle. Dieses Verfahren ist nur möglich, weil die Sohlen der Tannerie Bastin eben viel dicker sind als jene von anderen Gerbereien. Genäht werden die Schuhe an der Maschine, mit einer Ausnahme: Das Modell La Chasse (1325 Franken) ist zu hundert Prozent handgemacht.

Der Mann, der bei diesem Modell das Oberleder mit der Innensohle vernäht, heisst Patrick Dumas. Zwei Stunden braucht er pro Schuh. Nicht eingerechnet die Zeit, die er aufwendet, um den sechs Meter langen Faden zu präparieren. Dazu dreht er fünfzehn Baumwollfädchen zu einer dünnen Kordel und wachst sie ein.

Der Postenlauf – jeder Weston-Schuh braucht zu seiner Entstehung mindestens 107 Arbeitsschritte und drei Wochen Zeit – endet in der Abteilung Mise en beauté. Zwei Damen in blassgrünen Schürzen wachsen dort die Sohle ein, polieren das Oberleder, drapieren die Schuhbändel, wickeln die Schuhe in Seidenpapier, legen sie in Kartonschachteln und räumen sie im Lager in die Gestelle ein.

Das Lager ist sehr klein. Bei J.M. Weston bleibt kaum etwas liegen. Bevor ein neues Modell im Markt eingeführt wird, wird es intern während eines Monats Probe getragen. Zum Beispiel vom klein gewachsenen Produktionschef Patrick Rodier oder vom dynamischen CEO Christopher Descours. Als Vertreter der Männer mit grossen Füssen macht der Kantinenkoch am Probelaufen mit, und auch Jean Cous, J.M. Westons Altmeister im Leistenmachen, testet den Tragekomfort seiner Neuheiten an den eigenen Füssen.

Verkaufsfördernde Massnahmen, die über die Eröffnung von neuen Läden hinausgehen, ergreift Descours kaum. Einmal im Jahr, im Herbst, schaltet er in Frankreich einige Inserate. An den meisten anderen Standorten, so auch in Genf, ist das Kommunikationsbudget gleich null. Trotzdem läuft der Laden dort laut Descours «sehr, sehr gut». Die Schuhe verkaufen sich von selbst – dank Mund-zu-Mund-Propaganda und bekennenden Weston-Trägern wie Harrison Ford, Bruce Willis und Nicolas Cage.