Provinzflughafen. Wenn je ein Ort diese Bezeichnung verdient hat, dann Karup. Viel zu kurz ist die Betonpiste, auf der die wackelige Propellermaschine nach 50 Minuten Flug aufsetzt. Im Terminalgebäude, das nicht grösser ist als eine Turnhalle, ändert die Anzeige nie: Kopenhagen–Karup, Karup–Kopenhagen, daneben ein Wikingerhelm als Symbol für die regionale Fluggesellschaft Cymber Air. Andere Verbindungen gibt es hier nicht.

Die Landschaft hält, was ihr Tor zur Aussenwelt verspricht: Auf den Magerwiesen weiden Schafherden. Die wenigen roten Ziegelhäuser sind als Zeichen der Zivilisation kaum geeignet. Dann schon eher die zahllosen Batterien gewaltiger Windkraftwerke, deren weisse Rotoren sich in der Meeresbrise drehen. 40 Minuten dauert die Taxifahrt durch diese Landschaft, man weiss nicht recht, soll man sie nun idyllisch finden oder einfach nur öde. Auf den einsamen Strassen kommt einem nur selten ein Auto entgegen. Die Fahrer winken sich zu. Hier kennt man sich. Hier ist die Welt noch in Ordnung.

Man muss schon einen Grund haben, um sich als Fremder in die spröde Schönheit des Westens Dänemarks zu verirren, genauer gesagt nach Struer (gesprochen: Strur). Entweder man ist Individualtourist. Oder Technikfreak. Dann heisst der Grund «The Farm», passend zum Geruch von Dung, der in der Luft liegt, aber nicht unbedingt passend zur Landschaft. Denn der Name steht für einen imposanten dunklen Steinbau, dessen glatte Formen nur von den aufgesetzten Fensterflächen durchbrochen werden. Ein Monolith, innen und aussen ein Designstatement, wie die Produkte, die hier hergestellt werden: «The Farm» ist das Hauptquartier von Bang & Olufsen (B&O), einem der erfolgreichsten Hersteller von Unterhaltungselektronik. Hier entstehen jene Stereoanlagen und Fernseher, die weltweit als die schicksten Geräte der Unterhaltungselektronik gelten. Und die es mit ihren eigenwilligen Formen ins Museum of Modern Art in New York geschafft haben.

B&O ist ein Nischenanbieter: Auf gerade mal acht Prozent Marktanteil kommen die Dänen in der Schweiz. Doch weltweit bedeutet die Nische eine halbe Milliarde Dollar Umsatz und 35 Millionen Gewinn, erwirtschaftet in 500 eigenen Verkaufsgeschäften rund um den Globus. Auch Medizinaltechnik und Funktelefone entwickelt B&O, aber die tragen nur unwesentlich zum Umsatz bei. B&O, das bedeutet Hi-Fi und TV.

Dabei ist das Unternehmen in vielerlei Hinsicht ein Kuriosum. In der schnelllebigen Branche der Unterhaltungselektronik, in der die Konkurrenten jedes Jahr neue Modellreihen auf den Markt werfen, bewegt sich B&O mit der Geschwindigkeit eines Gletschers. Die Entwicklung einer neuen Stereoanlage dauert drei bis fünf Jahre. Dafür steht sie danach durchschnittlich 15 Jahre im Wohnzimmer. Oder, wie manche Lautsprecher, bis zu 25 Jahre im Katalog. Kein Grund zur Eile also im beschaulichen Struer. So sind, technologisch gesehen, auch die jeweils aktuellsten Geräte oft ein alter Hut. Denn wann immer die Hi-Fi-Branche ihren neuesten Schrei von sich gibt – bei B&O verhallt er ungehört. «Das Wichtigste in unserer Strategie ist es, zu entscheiden, was wir nicht produzieren», nennt es Anders Knutsen, ein freundlicher, aber ansonsten trockener Mittfünfziger, der seit zehn Jahren an der Spitze des Unternehmens steht. Momentan schwärmt die Branche von Sieben-Kanal-Raumklang, DVD-Audio oder Super-Audio-CD. In Struer ist das alles kein Thema. Erst mal abwarten, ob sich die Technologie durchsetzt. Schliesslich soll sie auch in 15 Jahren noch relevant sein. Sogar DVD-Player gibt es bei B&O erst seit ein paar Monaten. «Da waren wir ein bisschen spät dran», räumt Knutsen ein. Gross stören tut es ihn freilich nicht. Denn B&O galt nie als avantgardistisch. Auch die Einzelteile ihrer Anlagen entwickeln die Dänen nicht selbst, sondern kaufen sie auf dem Weltmarkt, hauptsächlich von Philips. «Ein Küchenchef hat in der Regel auch keinen eigenen Bauernhof, sondern kauft die Produkte auf dem Markt», verteidigt sich Knutsen. So versteckt sich hinter der eleganten Fassade bessere Massenware, ein bisschen geschickter zusammengebaut als bei der Konkurrenz vielleicht, aber keinesfalls High End. Hi-Fi-Fans rümpfen denn auch die Nase ob der dänischen Brüllwürfel.

Umso wichtiger ist dafür das Aussehen: ausgefallene, aber strenge Formen; auffällige, aber edle Farben; das Ganze verpackt in hochwertigem Material. Dabei war B&O die ersten 30 Jahre ein Hersteller wie jeder andere auch. Mit seinen Tonbändern, Radios und den ersten Fernsehgeräten fand er kaum über die Landesgrenzen hinaus Beachtung. Während des Zweiten Weltkriegs, als Elektrobauteile knapp waren, stellte man in Struer sogar Rasierapparate her, um sich über Wasser zu halten. Erst 1954 entschied sich die Unternehmensführung, konsequent auf Design zu setzen. Auslöser war der flammende Artikel eines renommierten Architekten und Kritikers, der das damalige Spitzenmodell von B&O verbal in der Luft zerriss. «Man könnte erbrechen ob so viel konzentrierten Mangels an Talent», hiess es in seinem Bericht. «Eine Klotür in ihrer vulgärsten Form diente als Inspiration für die Lautsprecher … Wurde dieses Ding von Fischhändlern oder Kartoffelzüchtern gestaltet, die in ihrer Freizeit nichts Besseres zu tun hatten?»

Derartige Standpauken bekommt Designchef David Lewis heute nicht mehr zu hören. Im Dachstock eines baufälligen Gebäudes von 1945, direkt neben «The Farm», arbeitet der gebürtige Engländer seit einem Vierteljahrhundert für B&O. Vorbild ist ihm die Philosophie des Bauhauses aus dem Deutschland der Dreissigerjahre. Sie predigt, Produkte mit menschlichem Antlitz zu entwerfen und die Technologie nicht um der Technologie willen zu verwenden, sondern um das Leben einfacher zu machen. Mit zehn Mitarbeitern versucht Lewis, diese Prinzipien in Fernbedienungen, Kopfhörern und Lautsprechern umzusetzen. Heraus kommt etwa ein Fernseher, der sich automatisch in die Richtung des Betrachters dreht, oder ein CD-Player, der sich öffnet, wenn sich eine Hand der Laufwerkschublade nähert. Dafür ist der Kunde bereit, gegenüber dem Einheitslook der japanischen Konkurrenz (schwarz, Plastik, quaderförmig) einen happigen Aufpreis zu bezahlen. 1760 Franken muss mindestens hinlegen, wer ein B&O-Gerät sein Eigen nennen will. Eine voll ausgebaute Anlage kostet so viel wie ein Kleinwagen. Konkurrenz haben die Dänen in dieser Nische kaum: Bestenfalls noch Fernseher von Loewe und Lautsprecher von Bose verkaufen sich über das Aussehen.

Wer ins «Idealand» (so heisst die Denkfabrik von B&O) aufgenommen werden will, muss während mindestens sieben Jahren die Unternehmenskultur verinnerlicht haben, bevor er ein Gerät mitgestalten darf. Damit die Nachwuchsdesigner in dieser Reifephase nicht vor Langeweile sterben, dürfen sie auch für andere Firmen arbeiten. Was kaum jemand macht. Zu gross ist der Stolz, für den Inbegriff dänischer Gestaltungskunst tätig zu sein – auch wenn Stardesigner Lewis persönlich 95 Prozent der Designentscheide fällt. Und nicht nur die: Auch die Produktionsingenieure müssen sich nach seinen Vorstellungen richten. «Geht nicht» gibt es nicht. Wenn nötig, werden eigene Maschinen und Prozesse entwickelt, um Form oder Materialbeschaffenheit so hinzubekommen, wie der bärtige Engländer sich das ausgedacht hat. Und ein guter Teil der 350 Werkmitarbeiter wird damit beschäftigt, in Handarbeit den Produkten den letzten Schliff zu verpassen. Im Hochlohnland Dänemark eigentlich undenkbar.

Undenkbar auch, nach welchen Kriterien neue Produkte entwickelt werden. «Wir fragen unsere Kunden nicht, was sie wollen», sagt CEO Knutsen. «Wir sagen ihnen, was sie zu wollen haben.» Das Erstaunlichste daran: Diese Geschmacksdiktatur funktioniert. Die Floprate ist mit rund zehn Prozent bei B&O nicht höher als bei jenen Unternehmen, die systematisch Marktforschung betreiben. Was daran liegt, dass der typische B&O-Kunde seine Bedürfnisse nicht gross analysiert, sondern im Vertrauen in die Marke kauft. In ihrem Heimatland verzeichnen die Dänen 80 Prozent Markentreue, in der Schweiz (mit 63 Millionen Franken Umsatz der viertwichtigste Markt) ist jeder zweite Kunde ein Wiederholungstäter. Doch auch B&O spürt die drohende Rezession: Im April musste das Unternehmen eine Umsatzwarnung ausgeben; darauf verlor der Aktienkurs 25 Prozent. Nun geht es wieder leicht bergauf.

Schlimmer war es Anfang der Neunzigerjahre, als die Produkte aus Struer immer exklusiver wurden und die Kunden ausblieben. Gleichzeitig liefen die Kosten aus dem Ruder. Bis der Verwaltungsrat fast das komplette Managementteam auswechselte. Knutsen überlebte die Krise als Einziger und wurde CEO. Danach baute er ein Viertel der Belegschaft ab und schloss 1000 Verkaufspunkte in Europa. Die 500 verbleibenden eigenen Shops sind heute das wichtigste Marketinginstrument der Dänen – und eine weitere Besonderheit, denn kein anderer Hersteller ausser Sony leistet sich einen eigenen Verkaufskanal. Weltweit an den besten Adressen gelegen, zeigen die Shops, wo sich die mutigen Dänen selbst sehen: in unmittelbarer Nachbarschaft von Nobelmarken wie Louis Vuitton oder Gucci. Knutsen will die Anzahl der Shops sogar noch auf 800 erhöhen und damit auch die USA und Japan erobern, wo noch kein europäischer Hi-Fi-Hersteller Fuss gefasst hat. Aus Geschäften, die neben B&O noch andere Marken führen, zieht man sich hingegen immer mehr zurück.

Dieser Weltkonzern wird auch nach 77 Jahren noch immer aus der jütländischen Provinz gesteuert. Nur einmal, 1994, kam man auf die Idee, die Marketingabteilung in eine Metropole, nach Brüssel, zu verlegen. «Einer meiner grössten Fehler», sagt Knutsen. Nach einem Jahr machte er den Entscheid rückgängig. Inzwischen ist er überzeugt: «Eine internationale Unternehmung hat keine Identität.» Folgerichtig besteht die 2100 Mann starke Belegschaft in Struer zu 98 Prozent aus Dänen. Wenn Knutsen diesen Juli nach einem Vierteljahrhundert Unternehmenszugehörigkeit in Pension geht, wird er – natürlich – wieder durch einen Dänen ersetzt, den ehemaligen Lego-Manager Torben Ballegaard Sørensen. Auch dieser darf sich auf eine lange Amtszeit gefasst machen: In einem Saal neben der Kantine, «Ruhmeshalle» genannt, hängen die Bilder aller Mitarbeiter, die länger als 25 Jahre für das Unternehmen arbeiten. Letztes Jahr wurde das tausendste Foto aufgehängt. Bei vielen waren schon Vater und Grossvater mit dabei. «Ohne B&O bliebe hier nichts übrig», sagt Knutsen. «Wir sind Struer.»

Das weiss auch die Rezeptionistin im ersten Hotel am Platz, das «Grand» heisst und petit ist. Sie hat für die 11 000-Seelen-Gemeinde nur eine Befürchtung: «Warum sollte man so eine schöne Anlage kaufen, wenn das Programm immer schlechter wird?» In der Tat: Gegen diese Bedrohung könnten selbst die eigenwilligen Dänen nicht ankommen.
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