Keine elitäre Sitzgelegenheit wollte Michael Thonet zur Serienreife entwickeln, sondern einen «Consum»-Stuhl für jedermann. Ein Ziel, das er konsequent verfolgte. Der Stuhl ist populär, jeder kennt ihn, und er hat seit 1859 bis heute nichts an Schönheit und Charme eingebüsst. Spannender als jeder Fortsetzungsroman ist die Entstehungsgeschichte des schlichten, vollendeten «14er»: Kapitel um Kapitel wird die Thonet-Legende weitergeschrieben. Begriffe wie «Design», «Lifestyle», «Marketing» und «Outsourcing» gehörten zwar nicht zum Wortschatz des 19. Jahrhunderts, aber Michael Thonet (17961871) hätte man nicht erklären müssen, was darunter zu verstehen ist. Der Möbelschreiner aus Boppard am Rhein war bekannt für seine filigranen Biedermeierstühle, edle Unikate aus Nussbaum oder Mahagoni. Nur wohlhabende Leute konnten sich diese Möbel leisten. Das einfache Volk sass, wenn überhaupt, auf rustikalen Hockern und Stabellen. Doch der Möbelmacher erkannte die Zeichen der Zeit. Sitzen, so dachte er, sollte nicht das Privileg von wenigen sein, bald würden auch die Bürger mit bescheideneren Mitteln ihre Ansprüche stellen.
Die Idee liess ihn nicht mehr los. Die Herausforderung hiess: einen formschönen, einfachen Stuhl entwerfen, für jeden erschwinglich. Um in grossen Mengen günstig produzieren zu können, musste er einheimisches Holz verwenden, das reichlich vorhanden war, und die Modelle so konzipieren, dass sie industriell als Serie herzustellen waren. Michael Thonet hat die Bugholztechnik nicht erfunden, aber in jahrelangen Experimenten perfektioniert. 1842 zog Michael Thonet vom Rhein an die Donau. Es war Klemens Wenzel, Fürst von Metternich, der die Fähigkeiten, die kreative Kompetenz, des Möbelschreiners erkannte und ihm dringend riet, sich in Wien niederzulassen. Nachdem er und seine Söhne vorwiegend Aufträge für die Fürsten von Liechtenstein und Schwarzenberg ausgeführt hatten, wurde er in adeligen Wienerkreisen schlagartig bekannt. Erst 1849 konnte er eine eigene Firma gründen, intrigante Zünfter versuchten umsonst, den Einwanderer daran zu hindern.
Der Traum vom «klassenlosen» Stuhl
Die Kaffeesiederin Anna Daum verliebte sich in den zierlichen Bugholzstuhl, welchen Thonet 1850 an der Gewerbemesse ausstellte. Wirkte er nicht verspielt und schwerelos und war durchaus robust? Sie bestellte den Stuhl «Nr. 4» für ihr Kaffeehaus. Eine bessere Werbung hätte sich Thonet nicht wünschen können: Im Café war ein Kommen und Gehen, das Lokal in der Nähe der Hofburg galt als ein Umschlagplatz für Informationen. Die galanten Offiziere des Kaisers, die Dichter und Maler, Politiker und Weltverbesserer trafen sich bei Anna Daum. Die nächste Bestellung kam umgehend: Ein Budapester Hotel orderte vierhundert Sessel. Die hohe Qualität, die günstigen Preise, die Poesie des gebogenen Holzes sprachen für die Möbel von Thonet. Er war nicht nur ein innovativer Möbelschreiner, sondern entpuppte sich als ein cleverer Unternehmer. Die Nachfrage zwang die Gebrüder Thonet, so hiess fortan die Firma, zur Expansion. Die Produktion wurde dorthin verlegt, wo es genügend billige Arbeitskräfte und viel Holz gab: Im waldreichen Koritschan, in Mähren, baute man 1856 die erste Fabrik. Weitere folgten innerhalb weniger Jahre.
Zwei Thonet-Firmen
Etwas verwirrend mag es auch sein, dass es in Europa zwei unabhängig geführte Thonet-Firmen gibt. Der Fachhändler ist informiert, der Konsument nicht unbedingt.
Gebrüder Thonet Vienna, Wien: Mit dem Caféhaus-Stuhl wurde ein Stück Wien «sesshaft» in aller Welt. Der Thonet-Schaukelstuhl gehörte in der Donaumonarchie zum trendigen Renommierstück. «lch wollte nur schaukeln, nur schaukeln», erinnert sich Filmregisseur Billy Wilder an seine Kindheit in Galizien, der ein passionierter Sammler von Thonet-Möbeln wurde. Der Kaffeehaus-Stuhl ist ein ausdrucksstarkes Requisit, unentbehrlich für jede Schnitzler-Inszenierung. Hundertwasser sah im Showroom der Gebrüder Thonet Vienna die diversen Modelle und bestellte sie alle. Entsprechend attraktiv und originell ist die Möblierung im Café «KunstHausWien» (Hundertwasser Museum). Nicht zuletzt sei auf die Thonet-Sammlung im MAK (Museum für angewandte Kunst in Wien) hingewiesen. Gebrüder Thonet Vienna wurde 2001 von der italienischen Möbelfirma Poltrona Frau gekauft. In der Fabrik Friedberg in der Steiermark werden auch in Zukunft die klassischen Bugholzmöbel unter der Bezeichnung «REclassic» hergestellt. Seit 1996 ist auch der «14er» wieder im Angebot. Als «REmaster» werden jene Modelle angeboten, die von Architekten der Wiener Schule entworfen wurden.
Gebrüder Thonet GmbH in Frankenberg an der Eder: 1889 wurde im deutschen Frankenberg die siebte Thonet-Fabrik gebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Firmensitz in Wien zerstört, Frankenberg lag in Trümmern, und die sechs Fabriken in Osteuropa wurden verstaatlicht. Doch der kreative Geist und die Zielstrebigkeit des Firmengründers Michael Thonet beseelten auch den Urenkel, Dipl. Ing. Georg Thonet: Er baute die Möbelfabrik in Nordhessen wieder auf. Unermüdliches Engagement und eine überzeugende Kollektion führten bald zum Erfolg. Seine drei Söhne, die fünfte Generation, leiten heute das Unternehmen. In ununterbrochener Folge ist somit die Möbelfirma Thonet in Familienbesitz, und die Zukunft ist mit Felix Thonet, der sechsten Generation, gesichert: Er hat Ende 2002 wichtige Aufgaben im Betrieb übernommen.
Bugholz-Technologie
Die Rundhölzer aus Buchenholz müssen maximal gedehnt werden und dürfen beim Biegen nicht splittern. Man muss das Holz «überlisten», wird sich Michael Thonet gesagt haben. Die Rundhölzer wurden gewässert, gedämpft, das biegsame Material in vorgefertigte Eisenformen gespannt und bei gleichbleibender Temperatur sorgfältig getrocknet.