Prognosen sind schwierig – vor allem für die Zukunft. Die «Handelszeitung» wagt es trotzdem. Und sagt, was das Jahr 2024 prägen wird.
Die SNB senkt im Sommer die Zinsen
Auch wenn die Teuerung wieder im Zielbereich ist, verspürt die SNB noch keine Eile, den Leitzins zu senken. Sie hatte diesen zwischen Juni 2022 und Juni 2023 von minus 0,75 auf plus 1,75 Prozent erhöht. Auf diesem Niveau wird sie ihn auch noch ein paar Monate belassen, bevor sie im Sommer dem Beispiel der US-Notenbank und der EZB folgen und den Zins um einen Viertelprozentpunkt senken wird. Es ist zwar davon auszugehen, dass die Inflation im Frühling wegen der Mieten nochmals anzieht. Doch auch diese Welle wird abflauen. Ausserdem kann die von der globalen Konjunkturflaute gebremste Schweizer Wirtschaft eine kleine Zinsentlastung gut brauchen. Mit der Reduktion des Leitzinses auf 1,5 Prozent macht die SNB nicht nur Hypothekarschuldnern einen Gefallen, sondern auch der Exportwirtschaft. Denn eine einseitige Lockerung der EZB würde den Aufwertungsdruck auf den Franken erhöhen. Die sinken-den Zinsen bei den Geldmarkthypotheken führen zudem dazu, dass der Referenzzins weniger steigt als erwartet.
Roche kauft eine zweite Genentech
So schnell kann es gehen. Noch vor zwei Jahren schien bei Roche alles in Butter. Der Basler Pharmakonzern hatte den Ablauf der Patente seiner Krebsblockbuster brillant gemeistert – sie bedrohten immerhin die Hälfte seiner Pharmaumsätze. Neue Produkte wie das MS-Medikament Ocrevus oder Hemlibra gegen Hämophilie schienen die bei Krebs wegfallenden Milliardenumsätze spielend zu kompensieren, und die Pandemie sorgte für einen beispiellosen Boost beim Diagnostikgeschäft. Analystinnen trauten den Roche-Valoren Werte von bis zu 500 Franken zu. Inzwischen liegen sie bei weniger als der Hälfte, und der einstige Branchenprimus muss zuschauen, wie ihm ein vermeint-licher Nobody wie Novo Nordisk mit einer simplen Abnehmspritze den Rang abläuft. Die neue Rennleitung mit Konzernchef Thomas Schinecker und Pharmachefin Teresa Graham kämpft mit Rückschlägen in der Pipeline und versucht nun, mit kleineren und grösseren Zukäufen wieder an Terrain zu gewinnen. Meine Prognose ist, dass es nicht dabei bleiben wird. Ich sage: Die Zeit der «Bolt-on»-Übernahmen ist vorbei. 2024 wird sich Roche mit einem grossen, transformativen Deal nach dem Vorbild von Genentech wieder ins Spiel bringen. Das nötige Kleingeld dafür ist da, ebenso der unternehmerische Spielraum. Mit dem Rückkauf der Novartis-Anteile sitzt die Familie bei Roche fester denn je im Sattel und kann genau das tun, was sie für richtig hält. 2024 zeigt, was Schinecker draufhat.
Mit Apple anbandeln
Eine erste Schweizer Uhrenmarke wird 2024 mit dem grössten Uhrenhersteller der Welt die Zusammenarbeit suchen. Nämlich mit Apple. Der US-Techkonzern verkauft nicht nur mehr Uhren als die komplette Schweizer Uhrenindustrie, er macht mit Uhren auch mehr Umsatz als die mit Abstand grösste Schweizer Uhrenfirma Rolex. Natürlich werden nicht die beiden Handgelenkkönige zusammenarbeiten. Und es wird auch nicht um smarte Uhren gehen, also um Hardware. Es wird um Software gehen. Genauer: um digitale Zifferblätter für die Uhren von Apple. Für diese sind bei Apple und anderswo im Netz bereits heute viele Zifferblätter zum Download verfügbar, mit denen Nutzerinnen und Nutzer ihre Watch so gestalten können, wie es ihnen beliebt. Und es sind auch illegale Zifferblätter verfügbar: solche, die eine Rolex Daytona oder eine Royal Oak von Audemars Piguet auf der Apple Watch simulieren. Nun aber wird eine Schweizer Uhrenmarke in die Offensive gehen und zum Beispiel einen Wettbewerb unter Künstlerinnen und Künstlern lancieren, um die eigenen Zifferblätter in digitalen Varianten offiziell für die Apple Watch anzubieten. Als Brücke zwischen der digitalen und der mechanischen Welt. Und als Verbindung zwischen den Smartwatch-Kids und der eigenen Mechanikmarke. Mein Tipp: Es wird Girard-Perregaux sein. Denn ihr Chef hat früher für Apple gearbeitet.
Flugscham war vorgestern
War da mal so etwas wie «Flugscham»? Berühmt wurde das Wort durch Greta Thunberg. Aber so wie die schwedische Umweltaktivistin 2023 ihr Reputations-Grounding erlebte, wird auch das Wort der selbstauferlegten Flugabstinenz flügellahm. Gemäss den Prognosen des internationalen Airline-Verbandes Iata werden 2024 deutlich mehr Fluggäste als im Jahr vor der Pandemie erwartet. 4,7 Milliarden Passagiere sollen es nächstes Jahr werden, 200 Millionen mehr als noch 2019. Der Reisenachholbedarf, der Trend hin zum sogenannten Revenge-Travel, scheint grösser als allfällige Bedenken bezüglich des eigenen Ökofussabdrucks. Zum Boom trägt bei, dass für 2024 mit sinkenden (oder zumindest nicht mehr steigenden) Preisen gerechnet wird. Es sei denn, die Kerosinpreise gehen in starken Steigflug über. Der neuen Lust aufs Fliegen dürfte aber auch das nicht allzu sehr schaden. Wer sein Leben als Luftibus hinterfragt und dabei ein ungutes Gefühl verspürt, kompensiert seinen CO₂-Ausstoss. Oder hofft darauf, dass es in der Airline-Welt vorwärtsgeht mit sogenanntem SAF. Der technische Ausdruck hat das Zeug dazu, zum neuen Buzzword der luftgebundenen Mobilität zu werden. SAF steht für «Sustainable Aviation Fuel», also nachhaltige Treibstoffe.
Das Jahr des Quantencomputers
Das kommende Jahr wird das Jahr des Quantencomputers. Der «Supercomputer», der sich vom herkömmlichen Computer durch die Nutzung quantenmechanischer Phänomene mit einer aussergewöhnlich hohen Rechenleistung abhebt, hat dieses Jahr bedeutende Fortschritte gemacht. Start-ups sowie grosse Technologieunternehmen haben 2023 die ersten kleineren Quantencomputer entwickelt – auch Google, das von sich behauptet, bereits 2019 «Quantenüberlegenheit» erreicht zu haben. Das hat das Interesse von privaten Geldgebern geweckt: Laut McKinsey sind allein seit 2001 etwa 68 Prozent aller Startup-Investitionen in Richtung Quantentechnologie geflossen – 2022 war dabei das stärkste Jahr überhaupt. Aber nicht nur Privatinvestorinnen glauben an die Technologie, auch der öffentliche Sektor zückt gerne das Portemonnaie. Im Jahr 2022 verpflichteten sich die USA zu zusätzlichen Investitionen in der Höhe von 1,8 Milliarden Dollar und die EU zu weiteren 1,2 Milliarden Dollar. China hatte damals mit 15,3 Milliarden Dollar die weltweit höchste Gesamtinvestition in Quantentechnologie angekündigt. Zudem: Durch das Aufkommen von KI und Cloud-Systemen ist auch im Bereich der Zugänglichkeit zur Quantentechnologie einiges gegangen. Bereits heute können Forschungseinrichtungen ihre Quantenalgorithmen über Clouddienste auf einem Quantencomputer testen, ohne selbst einen im Labor stehen zu haben. Darum: Quantum is the next big thing.
Warten auf die Superbatterie
Neue Technologien für die Batterie der Zukunft sind weit gediehen. Der deutsche Batteriehersteller Customcells hat eine Lizenzvereinbarung mit dem US-Batterieentwickler Enevate bekannt gegeben, für siliziumbasierte Batterien in E-Autos. Die chinesische Farasis Energy hat in diesem Jahr die Super Pouch Solution vorgestellt – Zellen, die direkt im Chassis verbaut werden sollen. Der schwedische Batteriehersteller Northvolt arbeitet an einer Natrium-Ionen-Batterie für Energiespeichersysteme und E-Mobile. All diese Varianten pushen Fahrkilometer, Ladezyklen und Lebensdauer. Die Akkus sind kompakter, effizienter und leistungsstärker als Lithium-Ionen-Technologien, wie sie derzeit in jedem E-Auto stecken. Das Problem ist die Skalierung der Produktion der neuen Superakkus. Nur weil diese im Labor performen, heisst das nicht, dass sie es 2024 en masse auf die Strasse schaffen. Denn dafür fehlen die Maschinen in der Herstellung. Die Lieferzeit für die Anlagen beträgt 18 bis 24 Monate. Und Investitionen in neue Produktionen kosten Hunderte Millionen von Dollar. Kommt hinzu, dass Batterie- und Autohersteller in China, Europa und in den Vereinigten Staaten bereits hohe Summen in bestehende Technologien investiert haben, die sich erst rechnen müssen. Wir werden uns noch gedulden müssen, bis wir mit leistbaren Occasionen bequem nach Paris kommen.
Die Rückkehr der Bewerbung
Lange hiess es: Firmen müssen sich bei Kandidatinnen und Kandidaten bewerben. Nur so kämen sie an die besten Talente heran. Dieses Umwerben führte dazu, dass sich die Firmen beinahe überschlugen mit Fringe Benefits wie Fitnessangeboten, Kaffee aus der Siebträgermaschine oder zig Mitarbeitendenrabatten. Dazu kamen verhältnismässig übertriebene Versprechen bezüglich Lohn oder Arbeitsauftrag. Jobsuchende fühlten sich wie Königinnen und Könige – doch diese Zeit wird 2024 enden. Zwar bleibt der Fachkräftemangel gross, trotzdem wird sich der Arbeitsmarkt bewegen. Die Firmen schreiben weniger Stellen aus. Sie entlassen vermehrt auch Leute in hoch dotierten Positionen, und es wird für Stellensuchende wieder schwieriger, eine Stelle zu finden. Das führt zu einem Umdenken und dazu, dass sich die Leute wieder bemühen beim Bewerben. Statt ständig mit einer Position zu liebäugeln, bei der vielleicht der Chef ein besserer, der Lohn ein höherer oder die Benefits attraktiver wären, sind sie froh, überhaupt eine Anstellung zu haben. 2024 wird also das Ende der Ausnahmejahre.
GC wird verkauft
Fosun hat keine Lust mehr auf den Grasshopper Club. Seit letztem April sucht eine Investmentbank im Auftrag der chinesischen GC-Besitzer nach Käufern. Als Kandidat steht der Los Angeles FC im Raum. 2024 wird es nun zum Verkauf kommen. Eine lokale Lösung wird es nicht geben, dafür verbrennt GC zu viel Geld. Verlust 2022: 14 Millionen Franken. Dennoch sollte der eigentlich verblichene Glanz des stotternden Rekordmeisters noch genügend Strahlkraft haben, um Interesse aus Übersee zu generieren. Schliesslich hat sich dieses Jahr selbst der klar kleinere Name Yverdon Sport einen US-Investor angelacht.
Ja zur 13. AHV-Rente
Anfang März entscheidet das Land über die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente. Mit einem Ja würde die maximale Altersrente um 2450 auf 31 850 Franken steigen, bei Ehepaaren um 3675 auf 47 775 Franken. Das ist zwar nicht genug zum Leben, aber immerhin ein Zustupf. Natürlich wird einen das schlechte Gewissen plagen. Ein Ja dürfte den Bund, die Arbeitgeber und Werktätigen sehr teuer zu stehen kom-men: 4,1 Milliarden Franken jährlich – Tendenz steigend. Aber dann dürfte der Eigennutz das Zepter übernehmen, das Ja gekritzelt, das Abstimmungscouvert verklebt und das Votum eingeschickt sein. Die SVP- und SP-Klientel wird dafür sein. Die Jungen gehen nicht abstimmen. Ein Nein wäre eine Überraschung.
Die Finma bekommt mehr Macht
Der Fall der Credit Suisse hat es gezeigt: Die Finma hat nicht genug Macht. Die Forderung nach schärferen Instrumenten, welche die Finma vor Weihnachten erneuerte, dürfte erhört werden. Konsens ist, dass die Schweiz ein «Senior Managers Regime» nach britischem Vorbild einführen soll. Das fordert neben der Finma auch eine vom Bund eingesetzte Expertengruppe – und sogar UBS-Chef Ermotti. Bei einem solchen Regime wird die Verantwortung von Topmanagern und Topmanagerinnen bei Banken ex ante exakt formuliert. Geht etwas in diesem Bereich schief, so kann der betreffende Manager zur Rechenschaft gezogen werden. Das war bei der CS schwierig, weil alle heiklen Entscheide immer von Komitees getroffen wurden. Des Weiteren dürfte die Finma künftig offener über laufende Untersuchungen kommunizieren dürfen, denn Vorbilder im Ausland zeigen, dass ein «Naming and Shaming» disziplinierende Wirkung haben kann. Umstrittener ist, ob die Finma wie die britische Aufsicht oder jene in den USA auch Bussen verhängen können soll. Letztlich war die schwache Stellung der Finma politisch gewollt. Nach dem CS-Desaster ist der Druck gross für Reformen. Im Frühjahr will der Bundesrat dann kommunizieren, welche Reformen er für nötig hält.
Biden tritt nicht an
Kaum jemand wünscht sich eine Neuauflage der Schlammschlacht Joe Biden versus Donald Trump bei der nächsten US-Präsidentschaftswahl. Die Wählerinnen und Wähler nicht. Und auch Biden selbst offenbar nicht. Wenn Trump nicht kandidieren würde, wäre er sich nicht sicher, ob er selbst antreten würde, sagte Biden vergangene Woche vor Wahlkampfspenderinnen und -spendern. Der US-Präsident ist 81, am Ende einer zweiten Amtszeit wäre er 87. Sein Alter beschäftigt mittlerweile selbst die eigenen Reihen. Das Problem ist, dass es praktisch keine Alternative gibt. Seine Vizepräsidentin ist unbeliebt, möglichen anderen Kandidatinnen und Kandidaten fehlen die Kampagnenstrukturen. Die Wahrscheinlichkeit steigt dennoch, dass Biden am Ende doch nicht antritt. Neben unerwarteten gesundheitlichen Problemen könnte der öffentliche oder innerparteiliche Druck schlicht zu gross werden. Die gesichtswahrende Lösung: Trump wird von seinen zig Rechtsfällen aufgehalten, seine Wahlkampfkasse leert sich oder er muss aus anderen Gründen aufgeben – auch der Ex-Präsident ist schliesslich schon 77 Jahre alt. Dann kann Biden elegant aus dem Rennen aussteigen. «Trump verhindern» ist als Motivation für die wichtigste Wahl der Welt schliesslich so à la US-Wahl 2020.