Leider hat Freud sich nicht für die Wirtschaftswelt interessiert und sie deshalb nie studiert, bedauert Manfred Kets de Vries. Der Managementprofessor von der französischen Eliteuniversität Insead wüsste zu gerne, wie der Vater der Psychoanalyse das Verhalten und die Beziehungen von Führungskräften interpretieren würde.

Unbewusste Motive, frühkindliche Prägungen, unkontrollierbare Triebe auf den ersten Blick scheint das Vokabular der psychoanalytischen Theorie nicht zu nüchternen, auf Rationalität bedachte Manager zu passen. Doch die von Sigmund Freud begründete Lehre kann ein realistisches Bild von dem erstellen, was wirklich in Unternehmen vor sich geht.

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Davon ist nicht nur Kets de Vries überzeugt. «Die psychoanalytische Schule beschäftigt sich intensiv damit, wie Menschen mit Komplexität, fehlender Kontrolle sowie dem Zusammenspiel von eigenen und fremden Bedürfnissen umgehen», so Rolf Haubl, Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie und stellvertretender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main, «das ist genau die Situation, in der sich Führungskräfte in den oberen Etagen ständig befinden.»

Coach statt Couch

Die Psychodynamik in den Chefetagen treibt Psychoanalytiker schon seit den 70er Jahren um. In jüngerer Zeit haben psychoanalytische Methoden auch Eingang in das Coaching von Managern gefunden.

Interessante Erkenntnisse über Unternehmenslenker liefert beispielsweise das psychoanalytische Persönlichkeitsmodell. Nach Freud existieren drei Persönlichkeitstypen, die ihren Ursprung in frühkindlichen Erfahrungen haben: der obsessive, der narzisstische und der erotische (der nichts mit Sexualität zu tun hat). Die meisten Menschen vereinen Elemente von allen drei Typen, aber einer ist gewöhnlich dominant.

Narzisse wie Vasella ...

Der narzisstische Typ spielt in den machtvollen Positionen der Wirtschaft eine besondere Rolle, betont Michael Maccoby. Der amerikanische Psychoanalytiker, Anthropologe und ehemalige Mitarbeiter Erich Fromms hat sich intensiv mit den Persönlichkeitsmustern von Managern befasst.

Den Begriff Narziss will er allerdings nicht wie im normalen Sprachgebrauch üblich als abwertende Beschreibung für einen egozentrischen, selbstverliebten und arroganten Menschen verstanden wissen. «Ein Narziss im psychoanalytischen Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass er wenige soziale Kontrollmechanismen internalisiert hat», so Maccoby, «das macht ihn unabhängig von der Meinung anderer und zwingt ihn, nach eigenen Antworten auf existenzielle Fragen zu suchen.»

Seine Analyse zeigt, dass Narzisse zahlreiche Eigenschaften besitzen, die sie für Führungsaufgaben in der heutigen Wirtschaftswelt prädestinieren. Als kreative Strategen und gewandte Redner gelingt es ihnen leicht, Menschen zu faszinieren. Zudem sind sie innovativ und visionär und schätzen es, sich mit anderen zu messen.

Novartis-Chef Daniel Vasella beispielsweise, gelernter Arzt und Psychoanalytiker, macht keinen Hehl daraus, dass er den Medizinerkittel gegen den Businessanzug ausgetauscht hat, um seinen Erlebnishunger, seinen Spass an Aggression und Wettbewerb besser ausleben zu können.

Unproduktive Narzisse können für ihre Unternehmen allerdings gefährlich werden, warnt Menschenkundler Maccoby: Sie sind nicht nur aggressiv, misstrauisch und unempathisch. Umso erfolgreicher und bewunderter sie werden, desto leichter fühlen sie sich unbesiegbar. Sie verhalten sich dann selbstgerecht und arrogant, ignorieren Warnungen von Mitarbeitern und Kollegen und nehmen unverantwortliche Risiken in Kauf.

Jürgen Schrempp hält er für einen typischen Narziss, im Guten wie im Schlechten. So habe der DaimlerChrysler-Chef grosse Visionen und einen ausgeprägten Veränderungswillen. Für die Implementierung allerdings interessiere er sich nicht und sei auch kaum bereit, Verantwortung für Fehler zu übernehmen.

... oder Josef Ackermann

Auch der früher als bodenständig und «low key» geltende Josef Ackermann lässt mittlerweile eine gewisse Hybris erkennen. So warnte der im soeben beendeten Mannesmann-Prozess freigesprochene Chef der Deutschen Bank mehrfach, wenn er sich wegen ein paar Millionen Euro vor Gericht rechtfertigen müsse, gerate der Standort Deutschland in Gefahr.

Auch das Victory-Zeichen, mit dem er am ersten Prozesstag den mitangeklagten Klaus Esser begrüsste und das ihm die deutsche Öffentlichkeit bitter übel nahm, lässt vermuten, dass der Top-Banker zuweilen die Bodenhaftung verliert.

Aber auch die anderen Persönlichkeiten haben ihre Licht- und Schattenseiten. Der obsessive Persönlichkeitstyp etwa, zu dem ebenfalls viele Topmanager zählen, lässt sich stark von inneren Überzeugungen und Regeln leiten.

Solche Menschen sind systematisch, diszipliniert und berechenbar. Sie können aber auch Kontroll-Freaks und Bürokraten sein und ihre Mitarbeiter durch Selbstgerechtigkeit und Perfektionismus in den Wahnsinn treiben.

Der erotische Typ, eher im unteren und mittleren Management als ganz oben zu finden, möchte vor allem geliebt und gebraucht werden. Ein Manager mit diesem Profil schafft es leicht, Menschen zusammenzubringen und eine familiäre Atmosphäre zu erzeugen. Dafür kann es ihm aber an Entscheidungskraft und Führungsstärke fehlen.

Topmanager sind anfällig

Ob aus einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur ein produktives oder unproduktives Verhalten folgt, hängt von der Reflexionsfähigkeit und Reife des einzelnen Menschen ab.

Die besondere Situation persönliche Macht, gepaart mit starkem psychologischem Druck durch hohe Verantwortung, die Einsamkeit an der Spitze sowie Angst vor Neid und Machtverlust mache aber gerade Topmanager anfällig für Irrationalitäten und dysfunktionale Beziehungen, behauptet Manfred Kets de Vries. Dazu trüge auch bei, dass Topmanager von ihren Mitarbeitern und Kollegen oft stark idealisiert werden.

Besonders narzisstische Führungskräfte ziehen bewusst oder unbewusst Menschen an, die ihre Wünsche ständig unkritisch in einen Anführer hineinprojizieren. Gleichzeitig geniessen gerade Narzisse, von anderen positiv gespiegelt zu werden, «oft bis zu einem Punkt, an dem sie ohne die Bewunderung ihrer Mitarbeiter gar nicht mehr auskommen können», so Kets de Vries.

Bedauerlicherweise komme es nur allzu häufig zu einer persönlichen oder wirtschaftlichen Bauchlandung, bevor Führer und Anhänger aus ihrer Scheinwelt erwachten.

Auch Firmen haben eine Seele: Wenn ganze Unternehmen neurotisch werden

Seit vielen Jahren erforscht der Psychoanalytiker und Wirtschaftsprofessor Kets de Vries an der französischen Eliteuniversität Insead das Seelenleben von Topmanagern und ihren Unternehmen. Eine seiner zentralen Erkenntnisse: Die spezifische Persönlichkeit eines Firmenlenkers führt oft zu einer dieser parallelen Organisationsstruktur.

Der Managementexperte hat diverse Arten «neurotischer» Organisation identifiziert, die jeweils mit einem bestimmten Führungstyp in Verbindung stehen. An der Spitze einer «zwanghaften» Organisation beispielsweise, die durch rigide Regeln, ausufernde Informationssysteme und Hierarchiedenken charakterisiert ist, steht oft ein Firmenlenker, der von Perfektionismus, Effektivität und Details besessen ist und Spontaneität und Meinungsvielfalt nicht ertragen kann.

Ein Chef, der an mangelndem Selbstbewusstsein und Erfolgsangst leidet, wird dagegen eher einer «depressiven» Organisation mit ausufernder Bürokratie, schlechter interner Kommunikation und Veränderungsresistenz vorstehen.

Die Psychoanalyse kann Managern auch ganz konkret bei ihrer täglichen Arbeit nützlich sein, meint Rolf Haubl vom Sigmund-Freud-Institut. Führungskräfte sollten üben, sich selbst und ihre Unternehmen probeweise mit dem Blick eines Psychoanalytikers zu sehen.

Dazu gehört ständige Selbstreflexion, eigene Wahrnehmungen und Gefühle ernst zu nehmen sowie Unbewusstes und Unkontrollierbares zu akzeptieren. Eine solche «psychoanalytische Haltung» könne Managern helfen, aus dem Modus des ständigen Agierens und Reagierens auszusteigen. «Managen von Komplexität heisst, sich zurücknehmen, beobachten, Unsicherheiten ertragen und Dinge sich entwickeln lassen», hebt der Gruppenanalytiker und Coach hervor.

Nur Führungskräfte, die dazu in der Lage sind, könnten Mitarbeitern Orientierung geben, den Gefahren von Hektik und Autismus widerstehen und ein zufriedenes und ausgeglichenes Leben führen. (as)