«Mangelernährung im Spital ist ein grosses Thema»

Nestlé wird dieses Jahr 7 Milliarden Franken mit Produkten wie Nahrungsergänzungsmitteln und medizinischer Ernährung machen. Die Gesundheitssparte Nestlé Health Science wird damit beim Umsatz erstmals mit Nespresso gleichziehen, einem der wichtigsten Wachstumspfeiler des Konzerns. Die Anfänge des Geschäfts gehen auf die Gesundheits- und Wellbeing-Agenda von Peter Brabeck zurück. Seither hat sich viel bewegt, Firmen und Produkte wurden gekauft und wieder verkauft. Zuletzt stellte Nestlé Palforzia, ein Medikament zur Behandlung von Erdnussallergien bei Kindern, ins Schaufenster. Im Interview mit der «Handelszeitung» sagt Greg Behar, der Chef der Gesundheitssparte, warum Palforzia scheiterte – und was der Entscheid für die weitere Entwicklung der Abteilung bedeutet. Sie stellen Palforzia zur Disposition, ein Medikament, das sie vor erst zwei Jahren für 2,6 Milliarden Dollar eingekauft hatten. Wo lag das Problem? Es gab eigentlich kein Problem. Das Produkt funktioniert, es erfüllt seinen Zweck, Kinder gegen Erdnussallergien zu sensibilisieren. Aber? Wir hatten die Erwartung, dass sich Palforzia zu einem Blockbuster entwickeln würde. Doch das war nicht der Fall. Es blieb ein Nischenprodukt. Wir mussten feststellen, dass die Allergologen und Allergologinnen das Produkt langsamer als erwartet aufnahmen. Zudem zeigte sich, dass auch die Eltern der betroffenen Kinder dazu tendieren, bei ihrem bisherigen Verhalten zu bleiben, also Erdnussbutter zu vermeiden. Dr. Nestlé Greg Behar war in Toppositionen bei Novartis und beim deutschen Pharmakonzern Boehringer Ingelheim, bevor er 2014 in Vevey aufschlug, um die Leitung der Gesundheitssparte des Nahrungsmittelkonzerns zu übernehmen. Seither hat er dank zahlreichen Übernahmen aus dem Geschäft am Rande einen wichtigen Umsatzträger gemacht. Nestlé Health Science wird dieses Jahr 7 Milliarden Franken Umsatz machen. Der 53-Jährige ist ehemaliger Spitzenschwimmer, er war Europa- und Schweizer Meister. Als Triathlet betreibt er schon heute das, was er aktive Ernährung nennt; eine Ernährung, die auf die spezifischen Bedürfnisse des Körpers des Einzelnen ausgerichtet ist. Auf dem Speiseplan des Präsidenten und CEO von Nestlé Health Science finden sich neben den obligaten Vitaminen, Proteinen und Omega-3-Fettsäuren auch spezielle Produkte für einen gesunden Verdauungstrakt, zum Recycling von Mitochondrien – das sind winzige Gebilde innerhalb der menschlichen Zellen – und für die mentale Fitness. Zudem achtet der Nestlé-Topmanager auf ein gesundes Mass an nicht tierischen Proteinen. Zeigt Palforzia auf, dass patentgeschützte Medikamente, die bei niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen verkauft werden müssen, nicht das Feld sind, auf dem Nestlé punkten kann? Wir haben viele Produkte, die patentgeschützt sind. Und wir haben nicht nur Produkte wie die medizinischen Nährlösungen, die in Spitälern vertrieben werden, sondern auch solche, die bei den Gastroenterologen und Gastroenterologinnen verkauft werden. Aber es ist schon so: Für Palforzia brauchte es eine eigene Salesforce für die Allergologen und Allergologinnen. Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Scheitern von Palforzia? Wir werden künftig vorsichtiger sein bei der Akquisition von Pharmaprodukten und uns noch stärker auf medizinische Ernährung und Supplements konzentrieren. Hier stehen wir Bolt-on-Übernahmen weiterhin positiv gegenüber. Unsere Ambition bleibt die gleiche. Wie kam es eigentlich, dass ein Unternehmen wie Nestlé, das für Schokoriegel, Tiefkühlprodukte und Kaffee bekannt ist, plötzlich pharmazeutische Produkte macht? 2007 konnten wir von Novartis das Geschäft mit medizinischer Flüssignahrung übernehmen; das sind spezifische Formulierungen für die künstliche Ernährung von Patienten und Patientinnen im Spital. Das war der entscheidende Schritt. Die Patienten und Patientinnen, die wir während der Pandemie im TV sahen, wie sie in den Spitälern auf dem Bauch lagen und künstlich ernährt werden mussten, sie wurden auch mit Produkten von uns ernährt. Dann erweiterten wir den Fokus und fragten uns: Welchen Einfluss hat Ernährung auf die Gesundheit und was können wir tun, damit die Menschen gesünder leben? Dann erweiterten wir unseren Fokus zu Consumer Care. Wie die Menschen gesünder leben können, fragen sich viele. Was unterscheidet Nestlé Health Science von den vielen anderen Unternehmen, die damit werben, dass ihre Produkte gut für die Gesundheit sein sollen? Dass wir die Dinge wissenschaftlich angehen. Das ist die DNA unseres Unternehmens. Es geht darum, die wissenschaftliche Evidenz auf das Niveau der pharmazeutischen Industrie zu heben. Wir publizieren heute zehnmal mehr Artikel, die von unabhängiger Seite begutachtet wurden, in wissenschaftlichen Zeitungen wie vor zehn Jahren. In einem gewissen Sinne knüpfen wir bei Nestlé Health Science auch an die Anfänge von Nestlé an, Ende des 19. Jahrhunderts, als unser Gründer Henri Nestlé mit dem Kindermehl ein Produkt entwickelte, mit dem Mütter, die nicht stillen konnten, ihre Kinder ernähren konnten. Das war damals ein unglaublicher Fortschritt. Wo steht Nestlé Health Science heute? Als ich 2014 zu Nestlé Health Science kam, waren wir 2000 Mitarbeitende, nun sind es 11’000, von denen viele einen wissenschaftlichen Hintergrund haben. Wir werden dieses Jahr 7 Milliarden Franken Umsatz machen. 2018 konnten wir Atrium übernehmen, einen bedeutenden Hersteller von Nahrungsmittelzusätzen wie Vitaminen und Mineralien. Wir sind ein bedeutendes Unternehmen geworden, einmal von der Grösse her, aber vor allen Dingen auch und in der Erforschung und Entwicklung neuer Ernährungslösungen. Ich bin selber Athlet, ich war Schweizer Meister und Europameister beim Schwimmen und ich mache Triathlons. Ich weiss, wie wichtig Ernährung für den Körper und die körperliche Leistungsfähigkeit ist. Meine Leidenschaft ist, die Dinge zu optimieren. Pharmaunternehmen wie Roche und Novartis geben 20 und mehr Prozent ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung aus. Wie sieht es bei Ihnen aus? Wir legen unser Forschungsbudget nicht offen. Aber im Vergleich zur Pharmaindustrie ist es sicher tiefer. Sie waren selbst in der Pharmaindustrie, bei Novartis und bei Boehringer Ingelheim, bevor Sie Chef von Nestlé Health Science wurden. Haben Sie den Wechsel je bereut? Nein, denn auch bei uns geht es um den Purpose. Das ist der Grund, warum wir jeden Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen, um das Leben der Menschen etwas zu verbessern. Wir sind stolz, dass wir Produkte haben, welche die Lebensqualität verbessern oder sogar Leben retten. Nehmen Sie unsere Produkte zur künstlichen Ernährung von Kindern, die eine zerebrale Lähmung haben und deshalb ihr ganzes Leben lang künstlich ernährt werden müssen, die nur so überleben können. Auch ihre Eltern möchten, dass die Produkte umweltfreundlich hergestellt werden. Wir haben deshalb Produkte zur künstlichen Ernährung, die aus biologischem Anbau stammen, die nicht gentechnisch verändert wurden. Zudem haben wir einen Plan für pflanzenbasierte künstliche Ernährung. Es gibt Eltern, die wollen eine vegane Ernährung für ihre behinderten Kinder, und wir kommen diesem Bedürfnis nach. Das Gleiche gilt für Erwachsene, die dauerhaft künstlich ernährt werden müssen, wie etwa Patienten und Patientinnen mit Morbus Crohn. Das ist eine chronische entzündliche Darmerkrankung. Hier sind wir mit unseren Produkten führend. Auch bei der künstlichen Ernährung werden Herkunft und Qualität der Rohstoffe immer wichtiger. Viele unserer Produkte sind B-Corp-zertifiziert (für Benefit Corporation, Anm. d. Red.), erfüllen also hohe Standards an Umwelt- und Sozialverträglichkeit. Darauf sind wir sehr stolz. Und das ist unseren Kunden und Kundinnen sehr wichtig. Nun ist medizinische Flüssignahrung zwar wichtig, aber für das ganz grosse Geschäft braucht es doch noch ein etwas grösseres Publikum. Wir sind überzeugt, dass uns die ganz grossen Trends unserer Zeit in die Hände spielen. Vor allem die Alterung unserer Gesellschaften, aber auch, gerade jetzt mit Covid, dass sich immer mehr Menschen Sorgen um ihre Widerstandskräfte machen. Die Menschen suchen nach Möglichkeiten, um sich besser zu schützen, Wohlbefinden wird immer wichtiger. Zudem: Das Risiko von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen nimmt zu. Auch das hat einen Einfluss auf unser Geschäft. Immer mehr Menschen haben eine spezielle Ernährungsweise. Eine Goldgrube? Das ist ein wichtiger Teil unseres Geschäfts, die Menschen ernähren sich vegetarisch, vegan, glutenfrei oder ketogen, also vor allem von kohlenhydratarmem Gemüse, Milchprodukten, Eier, Nüssen, Saaten, Kernen, Fleisch und Fisch. Sie brauchen Zusätze, um ein ausbalanciertes Ernährungsprofil zu bekommen. Dazu kommt, dass die Gesundheitssysteme immer mehr nach speziellen Ernährungslösungen suchen, etwa solchen, die es möglich machen, dass die Patienten und Patientinnen zu Hause bleiben können und nicht im Spital behandelt werden müssen. Auch Mangelernährung im Spital ist ein grosses Thema. Das müssen Sie erklären. Patienten und Patientinnen, die im Spital nicht richtig ernährt werden, bleiben doppelt so lange im Spital. Zudem haben sie ein mehr als dreimal höheres Risiko, zu sterben. Die Kosten, um mangelernährte Patientinnen und Patienten zu Hause zu versorgen, sind fast anderthalbmal so hoch. In den USA führt das zu Zusatzkosten von 58 Milliarden Dollar jährlich, in Europa sind die Verhältnisse vergleichbar. Ich bin sicher, dass wir hier einen wichtigen Beitrag leisten können. Dasselbe gilt für chronische Erkrankungen. Und was hat Dr. Nestlé den Gesunden zu bieten? Personalisierung ist ein bedeutender Trend. Immer mehr Menschen wollen eine besonders auf sie abgestimmte Ernährung. Auch hier werden wir eine bedeutende Rolle spielen. Wir haben mit medizinischen Produkten und Consumer Health angefangen und nun entwickeln wir uns immer mehr auch in Richtung von dem, was wir aktive Ernährung nennen. Dabei geht es um Leute, die ihre tägliche Ernährung verbessern wollen, mit besseren Proteinen und Zusätzen. Mit unseren Marke Nature’s Bounty sind wir in den USA bereits Nummer zwei. Auch Pure Encapsulations ist eine führende Marke. In der Pharmaindustrie ist das Mikrobiom, also die Milliarden an Bakterien, die sich in unserem Verdauungstrakt tummeln, kaum ein Thema. Ist das eine Chance für Sie? Auf jeden Fall. Der Darm ist das Sprungbrett für das Wohlbefinden und die Gesundheit. Hier gibt es eine Menge Opportunitäten für uns. Wie verteilen sich die Umsätze auf aktuelle medizinische Ernährung, Consumer Care und klassische pharmazeutische Produkte wie Palforzia, ihr Medikament zu Behandlung von Erdnussallergien? Consumer Care macht etwa zwei Drittel aus, medizinische Ernährung etwa einen Drittel und 7 Prozent sind Pharma. Pharmafirmen operieren mit Margen von bis zu 40 Prozent. Die Margen bei pharmazeutischen Produkten sind höher als bei uns. Zudem ist es einfacher, sich hier zu differenzieren. Das Feld der medizinischen Lösungen ist konsolidiert, da gibt es weniger Möglichkeiten. Bei Consumer Care haben wir einige grosse Akquisitionen gemacht. Hier fokussieren wir uns nun auf die geografische Expansion. Es geht darum, globale Brands zu schaffen. Eine grosse Chance sehen wir zudem bei digitalen Lösungen. Ein Produkt, mit dem wir hier schon auf dem Markt sind, heisst Pure Genomics. Es geht um eine Ernährungsberatung aufgrund des genetischen Profils, die dann in Empfehlungen für bestimmte Produkte resultiert. Wir stellen nicht nur das analytische Tool zur Verfügung, sondern auch die Produkte. Wie viele Patienten und Patientinnen nutzen dieses Tool bereits? In den USA wird das Tool von 5000 Ärzten und Ärztinnen genutzt, die zusammen 30’000 Patienten und Patientinnen betreuen. Im Moment sind wir daran, das Produkt in Grossbritannien zu lancieren. Wir sind überzeugt, dass wir hier etwas auf dem Markt haben, das grosse Verbesserungen bringen wird. Wenn Sie heute mit Verdauungsproblemen zum Arzt oder zur Ärztin gehen, dann wird er oder sie Ihnen jede Menge Fragen stellen. Mit unserem Tool kann der Patient oder die Patientin all diese Fragen bereits im Voraus beantworten und der Arzt kann entscheiden, welche Veränderungen sich bei der Ernährung aufdrängen. Was lässt sich anhand des genetischen Profils feststellen? Viele ältere Menschen leiden an Vitamin-D-Mangel. Nun gibt es die Möglichkeit, sie mit Vitamin-D-Pillen zu überhäufen, aber vielleicht sind sie gar nicht in der Lage, Vitamin D aufzunehmen. Das würde sich mit einer solchen Analyse zeigen. Also muss man nach anderen Möglichkeiten suchen, wie diese Menschen zu ihrem Vitamin D kommen. Oder nehmen Sie mich: Ich leide unter einer Pollenallergie. Der Grund liegt darin, dass ich eine genetische Disposition habe, die zu einer Histaminintoleranz führt. Nun nehme ich Quercetin, ein Produkt, das Histamine abfängt. Seiner brauche ich keine Antihistamine mehr, was ein grosser Vorteil ist. Die Nebenwirkung von Antihistaminen ist, dass man extrem müde wird. So etwas ist nur möglich mit einem 360-Grad-Approach. Verdienen Sie mit Pure Genomics schon Geld? Well, wir sind 2016 gestartet und das Geschäft ist noch immer im Aufbau. Der Return kommt über die Produkte, die wir damit verkaufen. Und wer bezahlt dafür? Der Patient oder die Patientin, die Produkte sind nicht kassenpflichtig. Es geht nicht um spezifische Krankheiten, sondern mehr um generelle Empfehlungen für die Ernährung. Ihr Arzt wird feststellen, dass Sie zu hohe Glukosewerte im Blut haben und Sie damit ein erhöhtes Risiko haben, an Diabetes zu erkranken oder eine Herzkreislauferkrankung zu bekommen, und er wird Ihnen, basierend darauf, Empfehlungen für Ihre Ernährung geben. Bei der medizinischen Ernährung hingegen geht es um spezifische Krankheiten. Krebs-Patienten und -Patientinnen, die durch eine Chemotherapie gehen, brauchen eine andere Ernährung als Menschen mit Morbus Crohn. Sie liegen nun bei 7 Milliarden Franken Umsatz. Wo wollen Sie hin? Wir sind auf einem Gebiet tätig, das weder von der pharmazeutischen Industrie noch von der Nahrungsmittelindustrie abgedeckt wird. Das Potenzial ist deshalb ziemlich gross. Es geht um die ganz grossen Gesundheitsthemen unserer Zeit wie Alterung, Diabetes, Fettleibigkeit und Bluthochdruck und all die Krankheiten, die damit in Verbindung stehen. Wenn wir alles zusammennehmen, dann ist es ein Vielfaches. Und da haben wir das Problem der Mangelernährung in Altersheimen, des Abbaus der Muskulatur und der Knochensubstanz bei älteren Menschen, bei denen das Risiko von Knochenbrüchen mit langen Krankenhausaufenthalten steigt, noch gar nicht berührt. Kann ich das noch etwas genauer haben? Bei den medizinischen Nährlösungen gehen wir von einem Marktpotenzial von 12 Milliarden Dollar aus, bei den Nahrungsmittelzusätzen sind es 90 Milliarden Dollar und bei der aktiven Ernährung sind es 40 Milliarden Dollar. Wir sind ja erst daran, ein Feld neu zu entwickeln, das heisst, wir sind noch gar nicht in der Lage, das volle Potenzial zu erkennen. Da gilt vor allem für medizinische Produkte. Sie arbeiten an der Schnittstelle von Pharma und Food, das heisst, Sie stehen bei der Suche nach Talenten mit Unternehmen wie Roche und Novartis in Konkurrenz. Wie gut schlagen Sie sich da? Ich denke, ganz gut. Wir haben hier einige der weltbesten Experten und Expertinnen im Bereich Stoffwechselerkrankungen, Erkrankungen des Verdauungstrakts und Immunologie. Wir holen unsere Leute entweder in der Pharmaindustrie oder direkt von den besten Universitäten.