Der Koran und eine «Financial Times» liegen auf dem Stehpult des lichtdurchfluteten Präsidentenbüros. Jakob Kellenberger blinzelt in die Sonne. Der 60-jährige Appenzeller ist seit dem Jahr 2000 der Chef an der Avenue de la Paix 19 in Genf. Seine Präsidentschaft beim Internationale Komitee vom Roten Kreuz fällt in eine schwierige Zeit, vielleicht in die schwierigste seit dem Zweiten Weltkrieg. Das IKRK steht unter enormem Druck, seit die Welt am 11. September 2001 weiter in Schieflage geraten ist.

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«Heute besteht die Tendenz, die Welt durch vereinfachte Raster, durch flotte Sprüche, wahrzunehmen», sagt Kellenberger. «Man spricht dann von ‹globaler Konfrontation›, vom ‹Zusammenprall der Zivilisationen›, vom ‹Krieg der Kulturen›». Schnelle Worte, schnelle Urteile, saloppe Worthülsen sind seine Sache nicht. Das Anspruchsvolle sei, weiss Kellenberger, zuerst Situationen präzise zu beschreiben und sie dann zu interpretieren. Die Worte des Doktors der Romanistik, der sich auch heute noch mit Philosophiegeschichte beschäftigt, sind sorgfältig gewählt, als Person wirkt er fast scheu. Kellenberger ist sich sehr bewusst, dass es für das IKRK in der unübersichtlichen Welt des jungen 21. Jahrhunderts schwieriger wird, seine Mission, den Schutz der Opfer von Kriegen und Konflikten, zu erfüllen. Terroristen halten sich nicht an das humanitäre Völkerrecht. Und auch die US-Regierung fühlt sich nicht daran gebunden, wenn es hart auf hart geht.

2004 hat der Druck aufs IKRK noch zugenommen. Sowohl in Europa als auch in der arabischen Welt wurde die Organisation stark kritisiert, weil sie mit ihren Berichten über die Misshandlungen durch die US-Armee im irakischen Gefängnis Abu Ghraib nicht vor die Medien getreten war. Das IKRK glaubte hier – wie bei Missständen in den unzähligen anderen Gefängnissen, die es besucht –, mit leisen, aber gezielten diplomatischen Interventionen bei den Machthabern längerfristig mehr für die Gefangenen zu erreichen als mit lautem öffentlichem Auftreten.

Umgekehrt werfen Stimmen aus Washington der Genfer Organisation vor, sie beurteile amerikanische Gefangenenlager wie jenes auf Guantanamo unverhältnismässig streng. Die Drohung, die Beiträge zu kappen, schwingt in solchen Vorwürfen aus den USA immer mit. Dies wäre verheerend, denn die USA leisten Jahr für Jahr über ein Viertel der Beiträge nach Genf. Das IKRK setzt mittlerweile fast eine Milliarde Franken ein, um in 79 Ländern Delegationen und Missionen zu unterhalten. Die Liste der grössten Einsätze zeigt, welch intensive Zeiten das IKRK durchlebt: Sudan, Irak, Israel und die besetzten Gebiete, Afghanistan. Und sie verheisst, dass 2005 kein einfaches Jahr werden wird.

Jakob Kellenberger freut sich auf einen geruhsamen Jahreswechsel. Er plant, in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr zu arbeiten. Auf der anderen Seite der Erde, in der indonesischen Hauptstadt Jakarta, registriert das Institut für Wetterkunde und Geophysik ein Seebeben der Stärke 6,4 auf der Richterskala. Andere Dienste messen gar 8,9. Es ist der 26. Dezember, 1.59 Uhr MEZ, als die Geräte wie wild ausschlagen. Wenige Stunden später stehen Krisenmanager Jakob Kellenberger und die Organisation des IKRK in Genf mitten im Kampf um die Bewältigung der Jahrhundertflut. Es ist eine gut eingespielte Operation, die beim IKRK anrollt.

Sonntag, 26. Dezember

Nur wenige Mitarbeiter am IKRK-Hauptsitz sind für den Stefanstag im Pikettdienst eingeteilt. Sie verbringen die Weihnachtstage wie ihr oberster Chef in Genf und Umgebung bei ihren Familien. Einige sind in die Alpen gefahren. Alle müssen rund um die Uhr telefonisch erreichbar und im Notfall innert einer Stunde im Büro sein.

Der HSG-Ökonom Walter Füllemann, als Direktor verantwortlich für IKRK-Operationen in der ganzen Welt, vernimmt auf dem Heimweg von der Kirche auf World Radio Geneva der BBC die Nachricht von einer Naturkatastrophe im Indischen Ozean mit «einigen 100, vielleicht 1000 Toten». Er denkt im ersten Moment nicht, dass dies die Festtagspläne seiner Familie über den Haufen werfen könnte. Das IKRK, bei dem der Thurgauer seit 1989 arbeitet, beschäftigt sich in erster Linie mit den Folgen von Kriegen und nicht mit Zerstörungen durch die Natur.

Yves Etienne, als Leiter der IKRK-Unterstützungsdivision Füllemann unterstellt, vernimmt gleichzeitig die Nachricht vom Erdbeben vor der indonesischen Insel Sumatra. Der Geologe, der vor seiner Zeit beim IKRK in Indonesien gearbeitet hat, erahnt die Tragweite der Katastrophe. Er nimmt Kontakt zu einem Fachkollegen vom Genfer Erdbebendienst auf, der seine Befürchtungen teilt. Die für Asien zuständigen Kollegen fragen telefonisch an, welche Hilfsgüter sofort zu Verfügung stehen. Etiennes Antwort: Das IKRK wäre für das Allerschlimmste gerüstet.

Das IKRK ist in drei Regionen vertreten, die von der Flutkatastrophe betroffen sind. Zu den Büros in Aceh und Myanmar, dem ehemaligen Burma, lässt sich kein Kontakt herstellen. Die Telefonleitungen nach Sri Lanka bleiben ebenfalls tot. Dort unterhält das IKRK neun Büros und trägt mit seiner humanitären Mission zur Einhaltung des Waffenstillstands bei. In Genf ist die Sorge um die Kollegen vor Ort gross.

Was noch nicht bekannt ist: Die fast 350 IKRK-Mitarbeiter auf Sri Lanka – darunter 42 Expatriates, also Delegierte ausserhalb ihres Herkunftslandes – leisten bereits zusammen mit der nationalen Rotkreuzgesellschaft und Freiwilligen erste Hilfe.

Die Nachrichtenlage über das Ausmass der Katastrophe ist nach wie vor widersprüchlich, doch Yves Etienne und seine Kollegen, die auf Pikett sind, beschliessen nach einer Analyse der verlässlichen Fakten, erste Hilfsgüter nach Asien zu verfrachten. In Kenias Hauptstadt Nairobi steht das weltweit grösste Warenlager des IKRK. Von dort werden normalerweise Güter in afrikanische Krisenregionen wie Darfur ausgeliefert. Das Lager ist gefüllt mit Hilfsmaterial wie Decken und Medikamenten. Walter Füllemann gibt einen Kredit von einer Million Franken für den Lufttransport von Afrika nach Asien frei.

Der Hauptsitz mobilisiert für den nächsten Tag alle Mitarbeiter auf Pikett, die nicht schon von sich aus Kontakt mit Kollegen aufgenommen haben. Heute lässt sich nichts mehr ausrichten. Die Lage ist zu unklar. In den Katastrophengebieten ist es jetzt Nacht. Der Wettlauf gegen die Zeit beginnt in Genf am nächsten Morgen.

Montag, 27. Dezember

Um 8.30 Uhr finden sich 15 Mitarbeiter zu einem Task-Force-Meeting am IKRK-Hauptsitz ein. Eine Hälfte beschäftigt sich fortan mit Indonesien, die andere mit Sri Lanka. In den nächsten zwei Wochen werden sie ihre Büros nur noch zum Schlafen verlassen. Checklisten für den Katastrophenfall oder konkrete Pläne für den Notfalleinsatz bestehen keine. Trotzdem wissen alle, was sie zu tun haben. Das IKRK beschäftigt an seinem Hauptsitz fast ausschliesslich ehemalige Delegierte, die sich im Feld bewährt haben. Alle haben fünf, sechs oder mehr Missionen hinter sich, sind krisenerprobt. Sie arbeiten schnell und unbürokratisch. «Operationelle Kultur» nennt sich das im Hilfswerk-Jargon.

Die Angaben über die Lage in den Katastrophengebieten ist nach wie vor widersprüchlich. Sicher ist nur, dass von weit mehr als den 10 000 Toten, von denen Zeitungen schreiben, auszugehen ist. Dringlichste Aufgabe ist es, über die Situation vor Ort mehr herauszufinden.

Im Falle Sri Lankas ist das vergleichsweise einfach, denn es gelingt nach und nach, Kontakt zu den dortigen Büros herzustellen. Schnell wird klar: Die Infrastruktur, die sich gänzlich im Landesinnern befindet, ist intakt. Im Laufe der nächsten Tage wird sich auch herausstellen, dass alle IKRK-Angestellten auf der Insel die Katastrophe unbeschadet überstanden haben.

In Indonesien ist die Sache komplizierter. Zwar steht der Kontakt zu den Delegierten ausserhalb Acehs bald. Von vielen der 22 Expatriates und der 100 nationalen Mitarbeiter weiss man, dass sie unversehrt sind. Auch die Mitarbeiter in der Hauptstadt Jakarta sind ohne Nachrichten aus der Provinzhauptstadt Banda Aceh. Das IKRK hat in der Bürgerkriegsregion nur ein kleines Büro unterhalten dürfen. Die beiden Delegierten mussten über jeden ihrer Schritte bei den indonesischen Behörden Rechenschaft ablegen. Für sie lassen TV-Bilder das Schlimmste befürchten. Banda Aceh liegt in Trümmern.

Jakob Kellenberger, der sich ebenfalls im Büro einfindet, wird laufend über das Schicksal der Mitarbeiter und über den Stand der Operationen orientiert. Sein Eingreifen ist nicht nötig, noch nicht.

Hunderttausende suchen in den überfluteten Gebieten nach Angehörigen. Bei Marco Kirschbaum, in Genf für den Schutz von Gefangenen und Zivilpersonen in Asien zuständig, melden sich Rotkreuz-Angestellte aus aller Welt, die auf die Zusammenführung von Familien in Krisen spezialisiert sind. Kirschbaum vermittelt sechs solche Spezialisten nach Sri Lanka. Sie fliegen mit Notfallausrüstungen samt zahlreichen Satellitentelefonen im Gepäck in die Gebiete.

Lokale Experten in Familienzusammenführung stehen dort bereits im Einsatz. Sie stellen ihre Satellitentelefone beispielsweise in Tempeln oder Schulhäusern, die in Notunterkünfte umfunktioniert worden sind, zu Verfügung.

Nationale Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften bieten Genf ihre Hilfe an. Das IKRK steht im dauernden Kontakt mit der Föderation der nationalen Gesellschaften, die ihren Sitz ebenfalls in der Rhonestadt hat, und mit der Uno. Ziel: optimaler Einsatz der Hilfe, Abdeckung aller Gebiete, keine Doppelspurigkeiten. Yves Etienne und seine Mitarbeiter organisieren selbst weitere Hilfstransporte mit Zeltdecken, Bodybags, Chlortabletten für die Wasserbehandlung oder Impfstoffen aus Asien, aus Europa und aus Afrika in die Katastrophenregion. IKRK-Mitarbeiter werden unverzüglich in die Flutgebiete (zurück)beordert. Sie müssen andere Missionen oder ihre Ferien auf der Stelle abrechen.

Lokal läuft die Hilfe bereits auf Hochtouren. Die IKRK-Delegation in Sri Lankas Hauptstadt Colombo sammelt in einem Schulhaus in der Nähe ihres Büros Hilfsgüter. Einheimische und Touristen geben ihr Kleider, Essen und Hygieneartikel ab, die als Pakete in die Notstandsgebiete verfrachtet werden.

Ob der vielen Vermissten steht ausser Zweifel, dass das IKRK seine Family-Links- Homepage wieder einsetzen wird. Dieser gute Dienst hatte sich bei der Flut auf Haiti im Sommer 2004 oder auch im Irakkrieg bewährt. Die Webseite hilft, vermisste Angehörige und Freunde zu finden.

Um 15.30 Uhr findet am Hauptsitz ein weiteres Treffen der Task-Force statt. Über das Büro in Aceh ist nach wie vor nichts bekannt.

Dienstag, 28. Dezember

Die Nachrichtenlage entwirrt sich etwas, die Gewissheit über die katastrophale Lage vor Ort wird grösser. Fundraising-Chef Jean-Daniel Tauxe beginnt, einen so genannten Appell auszuarbeiten, ein Hilfsgesuch an die Geberstaaten. Das IKRK beschafft sich sein Geld nicht auf Vorrat, sondern immer für konkrete Aufgaben. Der Romand Tauxe erlebt in diesen Tagen etwas, was er in seinen 25 Jahren beim IKRK noch nie erlebt hat. Ohne öffentlichen Aufruf gehen in Kürze viele Spenden ein, einmal sogar anonym eine Million Franken.

Die Hilfsmittel vor Ort sind nach wie vor ungenügend, können nur ungenügend sein auf Grund der riesigen Katastrophe. Eine Transportmaschine der ehemaligen Roten Armee des Typs Antonow 124 startet im kenianischen Nairobi mit 110 Tonnen Material in Richtung Colombo. Ihre Fracht ermöglicht es, 30 000 Personen mit Material für Notbehausung und mit Notmedizin zu versorgen. Von Genf aus, wo ein weiteres grosses IKRK-Lager steht, nimmt eine zweite Antonow mit zehn Tonnen Hilfsgütern, darunter Hygieneartikel sowie Medikamente und Impfstoffe, ebenfalls Kurs auf die Hauptstadt Sri Lankas.

Ein Wasser- und Versorgungsexperte fliegt von Genf nach Sri Lanka. Ein IKRK-Ingenieur reist von Bangkok nach Indonesien. Weitere Suchdienstspezialisten verlassen ihre Heimatländer. Bald stehen neun Teams mit je zwei Satellitentelefonen im Einsatz. Sie kümmern sich um Erwachsene und Kinder, die umherirren. Sie vermitteln Kontakte, helfen, wo sie können.

Die Family-Links-Homepage wird am Tag zwei nach der Katastrophe 650 000-mal angewählt. Der Server kann nicht alle Anfragen verarbeiten. Computerspezialisten am IKRK-Hauptsitz und externe Berater schaffen Abhilfe. Ein zweiter Server wird installiert.

Für einmal verbreitet sich am Hauptsitz eine frohe Kunde: Die beiden Delegierten in Aceh haben die Katastrophe zusammen mit indonesischen Mitarbeitern auf einer Sumatra vorgelagerten Insel überlebt. Bei ihrer Rückkehr finden sie jedoch ihre Wohnresidenz in Banda Aceh komplett zerstört vor. Wären sie dort gewesen, hätten sie kaum eine Überlebenschance gehabt. Das Büro in Aceh ist erhalten geblieben, das Lagerhaus zu einem Drittel. Die minimale Infrastruktur ermöglicht es dem IKRK in der Bürgerkriegsprovinz, wo die Behörden nach wie vor keine internationale Hilfe zulassen, sofort operativ tätig zu werden. Nach wie vor fehlt von fünf nationalen Mitarbeitern in Aceh jede Spur.

Mittwoch, 29. Dezember

Die beiden Antonow aus Nairobi und Genf treffen gleichzeitig in Colombo ein. Das Entladen der Hilfsgüter verzögert sich, da sich auf dem Flughafen die gelandeten Maschinen stauen.

Am IKRK-Hauptsitz spielt sich so etwas wie ein Alltag im Krisenmanagement ein. Die Zeitverschiebung zum Katastrophengebiet bedingt, dass sich die IKRK-Mitarbeiter sehr früh im Büro einfinden. Sie kontaktieren «das Terrain», informieren sich, organisieren. Über Mittag trifft sich die Task-Force.

Von den 800 Mitarbeitern am Hauptsitz sind an den Feiertagen kaum je mehr als 20 anwesend. Krisenbewältigung geschieht beim IKRK dezentral. Ziel ist es, die Mitarbeiter dort zu haben, wo die Hilfe am nötigsten ist. Bis Anfang Januar wächst die Delegation in Sri Lanka von 22 Expatriates auf 50 an, in Indonesien von 42 auf 70. Hinzu kommt ein Vielfaches an nationalen Mitarbeitern und Freiwilligen.

In einzelnen Büros des Hauptsitzes brennt Licht. Eine Einsatzzentrale wie bei der Glückskette gibt es nicht. Die Stimmung ist bedrückt, aber trotz allem etwas weihnächtlich. In einem Büro gibt es Kuchen, in einem anderen Kaffee. Die Mitarbeiter, die sich von ihren Feldeinsätzen kennen, funktionieren als verschworene Gemeinschaft. Sie wissen, wie wichtig die gegenseitige Unterstützung in solchen schwierigen Momenten ist – gerade für jene, die Menschen in den Katastrophengebieten kennen, und das tun die meisten.

Die Ärztin Michèle Jotterand von der «Stress Unit» am IKRK-Hauptsitz verfasst eine Botschaft an die externen Helfer: Die Leute vor Ort sollen genügend schlafen, auf gute Ernährung und Hygiene achten, denn ihr Noteinsatz wird Tage und Wochen, wenn nicht Monate dauern. Es gilt, Überlastung, Krankheiten und Traumata zu vermeiden. «Alle unsere Leute sind im Stressmanagement ausgebildet», erklärt Operationen-Chef Walter Füllemann. «Aber Hunderte von Leichen anschauen zu müssen, ist selbst für langjährige Mitarbeiter ungewohnt und schwierig.»

Die indonesische Regierung, die bislang ausländische Hilfe abgelehnt hat, lässt nun doch zu, dass internationale Organisationen in der Bürgerkriegsregion Aceh, im Nordteil der Insel Sumatra, Hilfe leisten. Darauf haben die Hilfswerke seit Tagen gedrängt. Es gehört zu Jakob Kellenbergers Kernaufgaben, seinen Leuten den Zugang zu Krisengebieten zu verschaffen; so verhandelte er im vergangenen März erfolgreich mit der sudanesischen Regierung über den Darfur-Einsatz oder im Jahr 2000 mit dem russischen Präsidenten Putin über die inzwischen wieder eingestellten Gefangenenbesuche in Tschetschenien.

Die Flutkatastrophe macht keine Intervention auf oberster Stufe und keine sofortige Reise Kellenbergers ins Krisengebiet nötig, da sich ein Einlenken der indonesischen Regierung früh abgezeichnet hat und auch ansonsten die Arbeiten vor Ort vorangekommen sind. «Ich gehe nur dahin, wo meine Präsenz einen Mehrwert zu verschaffen verspricht», erklärt Kellenberger. «Mehrwert» ist ein Wort, das der Topdiplomat oft braucht. Wenig Mehrwert sieht er in der Regel dort, wo Kameras surren, mehr Mehrwert in direktem Gespräch und in deutlichen Worten an die Verantwortlichen, wenn ein Durchbruch auf unterer Ebene nicht gelingt. Das war schon so, als er als Staatssekretär die Bilateralen Verträge II mit der EU aushandelte. Publizitätsträchtige Reisen wie jene von Aussenministerin Calmy-Rey, die bereits kurz nach der Katastrophe nach Asien reiste, wären seine Sache nicht. Doch mit anderen Personen verglichen werden will der bescheidene Kellenberger allerdings nicht.

Bei Marco Kirschbaum, dem Suchdienst-Verantwortlichen, gehen Anrufe von Menschen ein, die ihre Angehörigen suchen. «Wir können den Anrufern nur sagen, dass wir das Menschenmögliche tun», erzählt Kirschbaum. «Wenn aber eine halbe Woche seit dem Unglück vergangen ist und jemand in den Spitälern nicht gefunden wurde, ist auf beiden Seiten der Telefonleitung klar, dass die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass die gesuchte Person unter den Opfern ist.» Es fliessen Tränen.

In Aceh verschaffen sich IKRK-Ärzte unverzüglich Übersicht in den Notspitälern. Das indonesische Rote Kreuz verteilt 1000 Planen für Notzelte und 1800 Family-Kits. Allein in Banda Aceh sammelt es 6000 Leichen ein.

Die Such-Homepage verzeichnet am dritten Tag nach dem Tsunami eine Million Zugriffe. Die Listen von eingetragenen Gesuchten und von Überlebenden werden vor Ort ausgedruckt und aufgehängt.

Donnerstag, 30. Dezember

Der «Tsunami Response Action Plan» steht. Genf rechnet mit Zusatzkosten für die Soforthilfe von 17,7 Millionen Franken für Indonesien und 7,9 Millionen für Sri Lanka. Fundraising-Chef Jean-Daniel Tauxe stellt fest, dass Staaten und private Spender das Geld bereits zugesichtert haben. Jakob Kellenberger bespricht den Plan mit der Direktion und unterbreitet die Budgeterweiterung in einer Telefonkonferenz dem Conseil de l’Assemblée, einer Art IKRK-Verwaltungsrat, zur Genehmigung.

Bis zum Tag vier nach der Flutwelle hat der IKRK-Präsident kaum operativ ins Geschäft eingreifen müssen. Dies hat mit der operationellen Kultur und der dezentralen Organisation des IKRK zu tun, aber auch mit den Führungsgrundsätzen des obersten Chefs. «Klare strategische Vorgaben», «Vertrauen in die Mitarbeiter, solange sich dieses nicht nachweislich als falsch erweist» und «operationelle Entscheide so terrainnah wie möglich treffen» lauten die wichtigsten. Die Tage der Flutwelle beweisen, dass sich diese Grundsätze bewähren.

Die erste Hilfsphase für Sri Lanka ist beinahe abgeschlossen. Da das Telefonnetz wieder funktioniert, helfen die 88 IKRK-Suchexperten neu beim Ausstellen von Totenscheinen und sammeln weiter Daten Vermisster. Das Ziel, in Sri Lanka 200 000 Überlebende mit lebenswichtigem Material zu versorgen, ist beinahe erreicht.

Das IKRK hat im Fernsehen während all der Tage kein grosses Aufsehen erregt. Einzelne Rotkreuzgesellschaften fordern , dass sich die Zentrale um mehr Medienpräsenz bemühen soll, damit die Spender sähen, was mit ihrem Geld gemacht werde.

Ab Neujahr funktioniert das IKRK am Hauptsitz wieder normal. Eine neue Task-Force wird sich weiter mit den Folgen des Tsunami beschäftigen, die übrigen Mitarbeiter kümmern sich um die anderen Krisen, Kriege und Katastrophen der Welt. In Aceh bleibt die Lage trotz den Hilfsbemühungen katastrophal. Ein mobiles Rotkreuz-Notfallspital samt Personal wird aus Norwegen eingeflogen.

Für die fünf vermissten lokalen IKRK-Mitarbeiter bleibt kaum Hoffnung.