Susanne G. kann nachts nicht mehr ruhig schlafen. Tagsüber ist sie ständig gereizt. Der Ärger mit ihrem Chef hat ihr auf den Magen geschlagen. Auf eine sehr verletzende Art hat er ihr mitgeteilt, dass er mit ihrer Leistung nicht zufrieden sei. Als sie mit ihrem Boss reden will, sagt er bloss: «Wenn du nicht weisst, was du zu tun hast, dann bist du hier fehl am Platz. Ich bin nicht dein Babysitter.»

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Konflikte am Arbeitsplatz, Mobbing, Überlastung, schlechte Führung, Reorganisationen und Angst um den Job führen zu Dauerstress und zu emotionalen Störungen. Laut Statistik leiden 47% der Männer und 41% der Frauen in der Schweiz unter starker nervlicher Belastung am Arbeitsplatz. Jedes Jahr erkranken hierzulande 60000 bis 70000 Menschen an psychischen Störungen. Und im Jahr 2015 werden psychische Erkrankungen weltweit nach den Herz-Kreislauf-Leiden zweithäufigste Krankheitsursache sein, schätzt die WHO.

Beide Seiten profitieren

«Unternehmen sollten nicht die Augen davor verschliessen, sondern ihre Mitarbeiter unterstützen», rät René Marchand. Gemeinsam mit Stefan Boëthius gründete er vor sechs Jahren ICAS Schweiz, einen Ableger des grössten Anbieters von so genannten Employee Assistance Programs (EAP) in Europa. Heute zählen die beiden Unternehmer 100 Betriebe mit rund 48000 Angestellten in der Schweiz und den Nachbarländern zu ihren Kunden, darunter Nestlé, Dupont, SAP Schweiz und Manor.

Die Personalverantwortliche der Warenhausgruppe Manor, Sarah Papapoulios, ist überzeugt: «Von der Mitarbeiterberatung profitieren unsere Mitarbeitenden wie auch das Unternehmen.» Warum, das zeigt eine US-Studie: Bei Stress sinkt die Produktivität um 4,5% und bei Unzufriedenheit um 3%. Die Kosten für arbeitsbedingten Stress liegen in der Schweiz laut einer Seco-Untersuchung bei rund 4,2 Mrd Fr. pro Jahr.

Um dem entgegenzuwirken und die Mitarbeiter zu unterstützen, bieten Konzerne wie ABB, Roche oder UBS eine interne Sozialberatung an. Sie reicht von der Rechtsberatung bis hin zur Hilfe bei Konflikten am Arbeitsplatz, bei Krankheit oder Invalidität. «Die Sozialberatung ist Bestandteil der modernen und sozial verantwortlichen Personalpolitik der Bank», erklärt UBS-Sprecherin Eveline Müller.

Und auch Manor möchte sich mit diesem Mitarbeiter-Service als attraktiver und innovativer Arbeitgeber profilieren: «Mit ICAS haben wir uns bewusst für einen externen Dienstleister entschieden, um absolute Neutralität in der Beurteilung und Anonymität für die Mitarbeitenden zu gewährleisten», sagt die Manor-Personalverantwortliche (siehe Kasten).

ICAS steht für Independent Counseling and Advisory Services und wurde Ende der 80er Jahre in England gegründet. Heute nutzen den Service weltweit rund 500 Unternehmen mit mehr als einer Million Arbeitnehmenden. Der EAP-Dienstleister bietet Betrieben ab 500 Beschäftigten ein Service-Paket an, in dessen Mittelpunkt eine 24-Stunden-Beratung steht. Vertraulichkeit ist oberste Maxime. Der Arbeitgeber erfährt nichts. Besteht weiterer Therapiebedarf, vermittelt der Berater Adressen von Experten. Auch bei Alltagsfragen wie der Suche nach einer günstigen Krankenversicherung oder einer geeigneten Schule für die Kinder hilft ICAS.

Darüber hinaus werden Familienangehörige ins Programm einbezogen, betont ICAS-Mann Marchand: «Denn das Familienleben hat einen Einfluss auf die Konzentration des Mitarbeiters bei der Arbeit.»

Das zeigt auch das Beispiel von Martin H: Er sitzt vor seinem Computer und will ein wichtiges Projekt in Angriff nehmen. Aber seit er sich mit seiner Frau auf die Scheidung geeinigt hat, kann er sich nicht konzentrieren. Beim Blick in den Terminkalender wird ihm ganz anders: Anwalt, Bank, Versicherung, Kinderpsychologe, Hausmakler, Schätzungsexperte. Dazu die Suche nach einer neuen Wohnung, der Umzug und der ganze Papierkram. Auch das ist ein Fall für die ICAS-Experten. Denn angesichts einer Scheidungsrate von rund 50% resultiert ein erheblicher Produktivitätsverlust.

Die Sozialberater helfen zudem, wenn Beschäftigte sich um drogenabhängige Kinder sorgen oder bei Alkoholproblemen und Schulden. Denn: «Wenn Mitarbeiter Sorgen haben, sind sie unkonzentriert bei der Arbeit», sagt Stefan Boëthius. US-Studien zeigen, dass dieser so genannte Präsentismus einen Produktivitätsverlust verursacht, der jährlich 180 Mrd Dollar ausmacht 7,5-mal mehr als der Verlust durch Fehlzeiten.

Zehnfacher Ertrag

In den USA und Grossbritannien sind EAP seit Jahrzehnten weit verbreitet. Und rund 95% der Fortune-500-Unternehmen nutzen sie. Der Verband der englischen EAP-Kunden geht davon aus, dass jedes investierte Pfund, das Fünf- bis Zehnfache einbringt, indem die Leistung der Mitarbeiter gesteigert oder Fehlzeiten um 710% gesenkt werden. Auch in der Schweiz stieg die Nachfrage nach dem Service in den letzten Jahren mit jährlichen Wachstumsraten von über 50%, wie die Gründer von ICAS Schweiz feststellen. Immer mehr Firmen erkennen: Ein zufriedener Mitarbeiter leistet eben mehr.

Service

Vor- und Nachteile interner und externer Unterstützungsprogramme für Mitarbeitende mit beruflichen oder privaten Problemen:

Interne Beratung

Vorteile

- Die internen Sozialberater kennen den Betrieb sehr gut, können von sich aus aktiv werden, wenn sie Handlungsbedarf sehen.

- Sie können sich ganz auf die Mitarbeitenden des Unternehmens konzentrieren.

Nachteile

- Obwohl die Berater einer Schweigepflicht unterliegen, besteht bei den Betroffenen eine gewisse Unsicherheit, dass Kollegen oder Vorgesetzte etwas von den Schwierigkeiten erfahren könnten.

- Fixe Personalkosten für die internen Berater.

Externe Beratung

Vorteile

- Absolute Neutralität der Berater. Auf Wunsch bleiben die Ratsuchenden sogar anonym.

- Grosser Erfahrungsschatz aufgrund der Betreuung von verschiedenen Firmen.

- Niedrigere Kosten: ICAS verlangt 10 Fr. pro Mitarbeiter und Monat. Für ein Unternehmen mit 500 Mitarbeitern macht dies rund 60000 Fr. im Jahr. Die Personalkosten für eine interne 100-Prozent-Beraterin lägen wesentlich höher.

Nachteile

- Berater können erst dann aktiv werden, wenn eine Anfrage oder ein Auftrag eingeht.