Nach innen gibt sich Nobel Biocare sehr transparent. Büros und Sitzungsräume am Firmensitz in Kloten Balsberg sind lediglich durch Glaswände abgeteilt, das Topmanagement befindet sich auf demselben langen Flur wie alle anderen Mitarbeiter. Falls der Konzernchef den Entschluss fassen sollte, sich in der Nase zu bohren, können alle zuschauen.

Nach aussen gibt sich Nobel Biocare nicht ganz so gläsern. Seit April führt Richard Laube den krisengeschüttelten Zahnimplantatekonzern als CEO und hat sich öffentlichen Auftritten bisher konsequent verweigert. Das einzige Interview gab er, hundert Tage nach Amtsantritt, dem Nobel-Biocare-Zentralorgan «Finanz und Wirtschaft». 

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Nun sitzt Laube, mit offenem Kragen und ohne Krawatte, an seinem gläsernen Besprechungstisch, auf dem Schreibtisch wartet eine einsame Birne auf ihren Verzehr. Laube ist schweizerisch-amerikanischer Doppelbürger – seine Eltern übersiedelten vom Aargau nach Fort Lee westlich von New York. Dort besuchte Laube die High School, zum Studium ging er nach Boston. Ein Gespräch mit ihm wechselt bruchlos vom Deutschen ins Englische und zurück. Das setzt sich bis zu seinem Namen fort: Den Vornamen spricht man englisch, den Nachnamen deutsch aus.

Also, warum so zurückhaltend? Laube: «Ich konzentriere mich auf das, was unser Geschäft weiterbringt.» Man könnte natürlich auf die Idee kommen, dass Öffentlichkeitsarbeit bei einem Konzern mit Reputationsproblemen dazugehört, aber Laube bearbeitet vorerst lieber die Kunden – also vor allem Zahnärzte – und die eigenen Mitarbeiter. Reden bringe derzeit noch wenig, «you cannot talk yourself out of issues, you have to behave out of issues», sagt Laube in leichter Abwandlung eines Zitats des amerikanischen Bestsellerautors Stephen R. Covey. Er will Fakten und stichhaltige Argumente schaffen: «Ich erkläre lieber später unser Verhalten, als heute über die Zukunft zu spekulieren.»

Interne Erziehungsmassnahmen. Behave, sich richtig verhalten, damit meint Laube Folgendes: Schon im März, noch vor seinem offiziellen Amtsantritt, reiste er zur Kölner Zahntechnik-Fachmesse IDS und postierte sich am Nobel-Stand, um Präsenz zu zeigen. Er diskutiert mit Dentalpraktikern und -wissenschaftlern, besucht Symposien der Implantatebranche und führte regelmässige Townhall Meetings auf dem Balsberg ein. Die Nobel-Belegschaft trifft sich und berichtet sich gegenseitig über laufende Projekte, diskutiert über Branchentrends, Gerüchte und das, was in der Zeitung stand. Im Stillen arbeitet sich Richard Laube in die Feinheiten der zahnheilkundlichen und kieferchirurgischen Fachwelt ein: mit einem Exemplar des «Manual of Dental Implants». Es sieht schon ziemlich abgegriffen aus.

Im Wesentlichen ordnet er die Vertriebsmannschaft komplett neu ein – das «Kundenerlebnis» steht nun im Mittelpunkt. Im Gespräch schenkt er dem Gast eigenhändig Mineralwasser nach, und während der Diskussion über ein Nobel-Inserat in einem Branchenblatt winkt er bei der Frage nach einer Fotokopie der Anzeige ab. Er reisst die Seite aus seinem eigenen Exemplar heraus und reicht sie weiter. Der Anspruch, Kunden glücklich zu machen, liege in seiner DNA, sagt Laube – seine Branche habe das wohl nicht ganz so tief verinnerlicht.

Mit «Branche» dürfte Laube vor allem Nobel Biocare meinen – direkte Kritik an seinen Vorgängern verbittet er sich. Stattdessen lässt er «Umgestaltungen», also Taten, sprechen. Seine konzerninternen Erziehungsmassnahmen in Sachen Sekundärtugenden bei der Kundenbetreuung müssen sich bald in harten Zahlen niederschlagen: «Ich muss die Resultate verbessern, sonst hilft alles nichts.»

«Denn Nobel ist noch nicht über den Berg», warnt Sibylle Bischofberger, Branchenexpertin der Zürcher Kantonalbank: «Noch gehen Marktanteile verloren.» Laube muss Nobel aus der Krise herausführen – oder wird andernfalls als gescheitert gelten.

Teuer erkaufter Höhenflug. Um Laubes Baustellen nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Nobel Biocare war Pionier und Marktführer im schnell wachsenden Geschäft mit Zahnimplantaten. Spiritus Rector Per-Ingvar Brånemark hatte per Zufall entdeckt, dass Titan bei Knochen nicht nur keine Abstossungsreaktion auslöst, sondern dass im Gegenteil beide eine stabile Verbindung eingehen. Diese Tatsache bildete die Grundlage für die Osseointegration, den Einbau von Titanschrauben in menschliche Kiefer.

Als Heliane Canepa 2001 Konzernchefin wurde, begann eine Phase schnellen Wachstums und der Vervielfachung der Börsenkurse. Hinter der glänzenden Fassade bröckelte der Putz aber gewaltig. Canepa, berichten ehemalige Topkader des Konzerns, habe ihre regelmässigen Wachstumsmeldungen teuer erkauft. Mit Rabatten von teilweise 60 Prozent und mehr in den letzten Wochen eines jeweiligen Quartals, was mit dem Window Dressing bei Investmentfonds vergleichbar ist. Mit Werbung, die sich direkt an die Endkunden richtete («teeth in an hour»), vergrätzte Canepa zahlreiche ihrer eigentlichen Kunden, die Zahnärzte. Nobel verzettelte sich zudem im hochpreisigen Segment für ästhetischen Zahnersatz; Lösungen für «die breite Masse», sagt ein Insider, habe man vernachlässigt. Zur langfristigen Hypothek wuchsen sich Qualitätsprobleme aus: Schwedische Zahnmediziner klagten, das Implantat Nobel Direct verursache Knochenschwund. Marketing-Maschine Canepa leistete sich in der Folge mit den medizinisch-wissenschaftlich ausgerichteten Schweden einen öffentlichen und damit rufschädigenden Kleinkrieg.

Doch schon zuvor hatten sich viele Zahnärzte entnervt abgewandt. Stellvertretend berichtet Magnus Momkvist, Leiter von Zahnarztzentrum.ch in Zürich West, vom Implantat Nobel Replace Select. Auch hier habe die Qualität der Schraubenoberfläche, die sich mit dem Knochen verbinden sollte, «nicht gestimmt». Am Implantat «wuchsen Bakterienherde, die waren teilweise nicht zu stoppen». Das Vertrauen in Nobel, bilanziert Momkvist nüchtern, «ist seitdem bei uns zerstört». Ein anderer Zahnarzt lästert, so etwas sei «wie ein neuer Mercedes, bei dem unvermittelt die Räder abfallen». Zahnarztzentrum.ch baute darauf das Lager ab und wechselte den Anbieter. Heute arbeitet die Praxengruppe mit dem Anbieter Astra Tech zusammen – ein «gut funktionierendes System», sagt Momkvist: «Die grossen und bekannten Systeme sind aktuell qualitativ vergleichbar.» Kein Grund also zurückzuwechseln.

Für Verdruss sorgten auch verblüffend zudringliche Nobel-Aussendienstmitarbeiter, die offensichtlich unter Heliane Canepa gedrängt wurden, im Namen des Wachstums ihre Verkaufsmengen hochzuschrauben. «Auflauernde Vertreter» seien ihm jedoch unangenehm, berichtet ein Zahnarzt: Seine «hyperaktive» Ansprechpartnerin bei Nobel Biocare komme ihm bisweilen «aufgedreht wie eine Sportmotivationstrainerin» vor. Magnus Momkvist spendet seinem Vertreter von Astra Tech Lob: Der stehle ihm keine Zeit und «ruft nur ein Mal pro Jahr an, das ist sehr angenehm».

Mission impossible. Als Canepa im Sommer 2007 gehen musste, kommentierte die «Finanz und Wirtschaft» treuherzig, es sei «sicher, dass Heliane Canepa Nobel Biocare in einem einwandfreien Zustand an Domenico Scala übergeben wird». Das war leider nicht der Fall. Der Börsenkurs, seitdem fast permanent in Abwärtsbewegung, spiegelt die immer weitere Vertrauenserosion bei den Kunden und den daraus folgenden Verlust an Marktanteilen wider (siehe Grafik unter 'Downloads').

Domenico Scala, zuvor Finanzchef beim Agrochemiekonzern Syngenta, hatte keine Chance. Er räumte auf, aber die bröckelnden Umsätze steigerten von Quartal zu Quartal den Erwartungsdruck. Vertriebsleiter gaben sich die Klinke in die Hand, mehrfach wechselten Länderchefs, und das in einem Geschäft, das im Wesentlichen auf den persönlichen Kontakten der Vetriebler mit ihren Zahnärzten beruht. Nach dem Bereinigen der Produktprobleme und dem Einziehen von Strukturen im Vertrieb, berichtet ein Verwaltungsrat, «hat es Scala leider nicht geschafft, die neuen Prioritäten zu erkennen, die Kunden zurückzugewinnen». Auch habe er sich zu sehr auf die klassischen Nobel-Märkte Europa und USA konzentriert, statt Schwellenländer wie China oder Indien anzugehen. Und schliesslich hat Finanzmann Scala auf fachlicher Ebene nie einen wirklichen Zugang zur anspruchsvollen Zahnärzte-Klientel gefunden.

No Bullshit Guy. Hinzu kamen Störfeuer aus dem Verwaltungsrat. Der Beschluss, den doppelten Firmensitz (Zürich und Schweden) aufzulösen und auf dem Balsberg zu konzentrieren, führte zu einem Brain Drain im Konzern. Und der erzwungene Abgang von Marketingchef Robert Gottlander im Oktober 2010, der als Canepa-Intimus und Mitverantwortlicher für die Nobel-Streitigkeiten in Schweden galt, sorgte für eine Frontstellung im Verwaltungsrat. Eine aufgebrachte «Schweden»-Fraktion opponierte gegen die «Schweizer». Auch Branchenlegende Brånemark wandte sich erbost von Nobel Biocare ab. Obwohl Scala vieles richtig machte, war es unter diesen Umständen eine Mission impossible, als strahlender Sanierer bei Nobel Biocare herauszukommen. Vier Jahre hielt er durch, schon das allein ist eine beachtliche Leistung.

Nun also Laube, der mit vielen Vorschusslorbeeren antrat. Mit Erfahrungen bei Multis wie Procter & Gamble, als Spartenchef bei Roche und zuletzt bei Nestlé, wo er die junge Division Nutrition (Nahrungsmittel mit gesundheitlichem Zusatznutzen) über Zukäufe schnell und effizient ausbaute. Dort ging er zwar im Zwist mit Konzernchef Paul Bulcke, aber die fachliche Wertschätzung blieb. Bei der Besetzung des CEO-Jobs sollen sich Bulcke und Nestlé-Präsident Peter Brabeck dem Nobel-Verwaltungsrat als Referenzen für Laube zur Verfügung gestellt haben. Laube war zugleich Wunschkandidat des bisherigen Nobel-Präsidenten Heino von Prondzynski, der aber kurz darauf wegen der Frontkämpfe im VR entnervt zurücktrat.

Er spüre nichts von einer Spaltung, sagt Laube, er fühle sich vom gesamten VR getragen, mit Interimspräsident Rolf Watter spreche er «alle Themen offen an».Was vor seiner Zeit als CEO war: «I don’t know and frankly speaking I don’t care.» Leute mit einer solchen Haltung nennt man «No Bullshit Guys». Wenn im Frühjahr der ehemalige Synthes-Chef Michel Orsinger zum Präsidenten gewählt wird, hat Laube einen Bruder im Geist an seiner Seite. Die beiden «ticken praktisch gleich», sagt ein Konzernkader, und gelten als miteinander gut befreundet.

Qualität schlägt Geschwindigkeit. Noch immer hat Nobel Biocare ein massives Reputationsproblem. «Das zu beheben, wird sehr viel Zeit brauchen», sagt ZKB-Analystin Bischofberger. Denn in einem Geschäftsmodell, wo ein einziger Satz Schraubenzieher zum Eindrehen der Implantate 1500 Franken kostet, wechseln Zahnärzte ihre Lieferanten nicht auf die Schnelle. Laube muss grundlegend und langfristig neue Aufbauarbeit leisten, um die abgewanderten Zahnärzte zurückzuholen und in anderen Märkten neue von Nobel zu überzeugen. Und um den inzwischen an Nobel vorbeigezogenen Schweizer Erzkonkurrenten Straumann wieder hinter sich zu lassen. 

Inzwischen kann er fachlich versiert über die Vorteile von Nobel-Produkten dozieren («wir haben das breiteste Portfolio im Markt»). Etwa über das neu gelaunchte Active 3.0, das mit rekordverdächtigen drei Millimetern Durchmesser in ganz enge Lücken passe. Oder das spezielle Nobel-Titan. Oder das Angebot «All-on -4», das eine komplette Gebissreihe kostensparend auf nur vier Implantaten fest im Kiefer verankern soll. Zu Demonstrationszwecken holt Laube ein Gebissmodell vom Regal. Nobel werde auch nicht mehr direkt Patienten ansprechen, sondern Zahnärzte dabei unterstützen, ihren Patienten Implantate schmackhaft zu machen.

Von der elitären Nobel-Haltung vergangener Jahre, ästhetische Lösungen über die Funktionalität zu stellen, «sind wir abgerückt», so Laube, und neue Implantate sollen künftig erst verkauft werden, wenn sie ausreichend klinisch getestet worden sind. Lieber einige Monate warten als ein weiteres Knochenschwund-Desaster riskieren. Heute, sagt Laube, «fokussieren wir auf quality-to-market statt auf speed-to-market», wie es unter Canepa der Fall war. Laube hat sie übrigens nie getroffen. Von seinen Vertriebsleuten fordert er vor allem eins: Sie sollen Zahnärzte glücklich machen.

Laube ist zweifelsohne zäh und ausdauernd genug für diese Aufgabe. Seinen letzten Marathon lief er 2008 in Zürich in 3 Stunden und 31 Minuten, dann sattelte er auf Triathlon um. Weil er zunächst «technisch noch kein guter Schwimmer» war, feilte er mit einem persönlichen Trainer an der Crawltechnik. Anfang Juni 2010 absolvierte er in Rapperswil die halbe Ironman-Distanz in 5:56 Stunden. «Nicht schlecht für einen alten Mann», grinst der 55-Jährige. Die Datenbank Datasport.com weist aus, dass er im Wochenrhythmus vier weitere Triathlons über die olympische Distanz folgen liess.

Laube, stets freundlich, bisweilen witzig, aber immer kontrolliert, wirkt heute noch durchtrainierter als früher. Dabei hat er 2011 gar keinen Triathlon bestritten – «jetzt besteht meine Competition aus Nobel Biocare». Auch mit seinem Privatvermögen hat er sich in den Konzern verbissen. Im Mai investierte er mehr als zwei Millionen Franken in Nobel-Aktien; den seitherigen Kursverlust, rund 40 Prozent, teilt er mit den Kleinanlegern. Auch das treibt vermutlich an. Laube, der mit seiner Familie in Riehen BS wohnt, hat unweit vom Balsberg ein möbliertes Appartement gemietet, wo er häufig übernachtet. Der angeblich «alte Mann» hat den Kampf aufgenommen.

Dirk Ruschmann
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