Er steht zwischen Schreibtisch und Minicouch, hebt den Arm über den Besprechungstisch, deutet Richtung Fenster und schnaubt: «Wo, bitte, ist hier die Seesicht?» Dass kurz nach seinem Amtsantritt eine Sonntagszeitung fabulierte, er habe sich ein «repräsentatives, grosszügiges Büro mit Seesicht» eingerichtet, regt Albert P. Stäheli noch heute auf. Zumal die sein ziemlich kompaktes Büro gar nicht gesehen hätten. Chefredaktor Markus Spillmann hat mehr Platz. Er übernahm das Büro von Vorgänger Hugo Bütler.

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Bütler versah im Nebenamt einen Job, den «Polo» Stäheli nun hauptberuflich ableistet: Auf seiner Visitenkarte steht «CEO» der NZZ-Mediengruppe. Ein unerhörter Titel und ein unerhörter Vorgang in der langen Historie des Zeitungshauses an der Zürcher Falkenstrasse: Ein Kaufmann leitet die Geschäfte!

«Die frühere Gruppenleitung agierte oft schwerfällig, man liess Themen lange liegen», umschreibt NZZ-Verwaltungsratspräsident Conrad Meyer heute vornehm den Rückstau an Pendenzen aus der Vergangenheit, gekrönt von einem rotgefärbten Ergebnis im vergangenen Jahr: 3,1 Millionen Franken Minus standen unter dem Strich der «Erfolgsrechnung» 2009. Stäheli, im Oktober 2008 angetreten, kann man diesen Verlust noch nicht anlasten. Er kam, als Pressekrise und Werbeflaute in der Zeitungsbranche am schlimmsten wüteten. Seither klopft er der 230 Jahre alten Tante den Staub aus der Robe.

2002 fuhr die Gruppe schon einmal ein dickes Minus ein: rund 50 Millionen, in den Folgejahren erreichte sie mit Mühe eine schwarze Null – «wir haben über den Zyklus praktisch nichts verdient», sagt ein Verlagsmanager. Die Gründe: Ausser der erfolgreichen Gründung der «NZZ am Sonntag» griff die frühere Geschäftsleitung zumeist daneben. Sie lehnte früh eine Beteiligung an der renditestarken Gratiszeitung «20 Minuten» ab, als Gründer Schibsted nach Schweizer Partnern suchte. Auch die erfolgreiche Immobilienplattform Homegate wurde verschmäht, und den Kader-Stellenmarkt (wohin würde er besser passen als zur edlen NZZ?) überliess man weitgehend kampflos dem Konkurrenten Tamedia. Im Internet war die NZZ-Gruppe zwar früh, betreute das neue Medium aber lustlos – innovations- und investitionsscheu.

Die einschneidendsten Fehler: Im Druckgeschäft wollte die Gruppe gerüstet sein für die Aufgaben, die da kommen konnten. Also klotzte sie Ende der achtziger Jahre ein hoffnungslos überdimensioniertes Druckzentrum neben den Bahnhof Schlieren – dabei leidet die Branche seit je unter Überkapazitäten. Und die Beteiligungen an den Regionalzeitungen in Luzern und St.  Gallen beherrschte die NZZ zwar via Kapitalmehrheit, aber nicht in den Verwaltungsräten – der liberale Geist des Hauses wollte den Töchtern freien Lauf lassen. So kam es, dass sich die Druckmanager der NZZ-Gruppe doppelt ärgern mussten, wenn sie einen Fremdauftrag nicht an Land ziehen konnten: Hinterher stellte sich häufig heraus, dass die Kollegen in St.  Gallen, Luzern und Schlieren, ohne davon etwas zu wissen und daher unabgestimmt, gegeneinander angetreten waren.

In diesem Haus «hat man eine gewisse Kultur und respektiert die Arbeit unserer Mitarbeiter», sagt Präsident Meyer zu den Hinterlassenschaften aus Bütlers Zeiten, die er, im Verwaltungsrat seit 1997, sich durchaus anrechnen lassen muss. Nach Bütlers 62. Geburtstag sei dann «der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel» gekommen, formuliert Meyer. Naturgemäss windet sich auch Stäheli: «Es gab sicherlich einen Reformstau.» Die Beratungsfirma Roland Berger durchleuchtete für den Verwaltungsrat die Organisation. Ergebnis: Es brauchte einen «richtigen» Chef.

Stäheli, der bis Ende 2010 mit einem Arbeitsvertrag bei der Berner Espace Media Groupe (2008 von Tamedia gekauft) ausgestattet war, hat sich hochgearbeitet: Nach der KV-Lehre absolvierte er Management-Ausbildungen, 1981 rückte er in die Geschäftsleitung der «Berner Zeitung» auf, 1993 avancierte er zum CEO der Espace und trimmte das Haus auf Profitabilität. «Er gehört zu den erfolgreichsten Medienmanagern der Schweiz», sagt ein Headhunter, «Stäheli wird bei der NZZ den Karren aus dem Dreck ziehen und zum Erfolg führen.»

Er gilt als nicht so kopflastig wie Tamedia-Boss Martin Kall, der sich intensiv mit Beratern umgibt. Zwar lässt sich auch Stäheli derzeit von Consultingfirmen strategische Konzepte vortragen, aber «er ist schon auch ein Bauchmensch», sagt ein Weggefährte. Und als Manager einer, der «abgeht wie eine Dampfmaschine – wo andere mit dem Degen wedeln, greift Polo zum Zweihänder». Das Zitat, muss man hinzufügen, ist rundum positiv gemeint. Stäheli selbst sagt nüchtern: «Ich arbeite ab, was getan werden muss.»

«Stalin». Die Nebengeräusche sind jedenfalls beträchtlich. Symptomatisch dafür ist die Aufregung um Stähelis neues Büro. Zuvor sass die Geschäftsleitung einige Häuser weiter, der neue CEO wollte am Ort des Geschehens sein. In der Wochenzeitung «Zeit» beklagte eine ehemalige NZZ-Redaktorin den Einzug kaufmännischer Prinzipien bei der alten Tante. Der Wechsel des Wirtschaftsressortleiters Gerhard Schwarz zum Think Tank Avenir Suisse wird als resignativer Rückzug eines NZZ-Traditionalisten gedeutet. Einige der Altvorderen nennen Stäheli untereinander heimlich «Stalin».

Dabei hat der in Zürich Geborene, der in Gümligen bei Bern lebt, zu rein kapitalistischen Methoden gegriffen. In den Regionalzeitungen brachte er die Verwaltungsräte unter die Kontrolle der Gruppe, «eine meiner ersten Aufgaben». Nun wird aus Zürich operativ geführt, die regionalen Präsidenten «übernehmen vor Ort die wichtige Verlegerrolle». Die Druckereien arbeiten heute zusammen, geführt von Stähelis Vertrautem Urs Schweizer, mit dem er «blind Doppelpass spielen kann», so ein Insider. Controlling und Backoffice-Bereiche von NZZ und Regionalzeitungen hat er gestrafft und zusammengelegt; NZZ-Rechnungen kommen heute aus St.  Gallen. Mit der ersten Welle an Bereinigungen namens «Avanti» und «mit einigen anderen Projekten haben wir bereits rund acht Millionen pro Jahr eingespart und sehen weiteres Potenzial in noch einmal der gleichen Höhe».

Mit der Finanz- und Personalabteilung zügelte er vom gemieteten Seehof ins NZZ-Hauptgebäude. Dort wird nun im Innenraum die Nutzung verdichtet, das spart im Jahr mehrere hunderttausend Franken Mietkosten. Zürcher Immobilien hat Stäheli, entgegen anderslautenden Meldungen, keine verkauft – Zugriff hat er ohnehin nur auf zwei Häuser in der Stadt: auf die Falkenstrasse 11, das Stammhaus, und das gegenüberliegende Haus Nummer 12, wo die «NZZ-Bistro» genannte Kantine residiert. Beide sind vollständig betrieblich genutzt, wegziehen von der teuren Lage will er nicht: «Das wäre ein Riesenfehler, das Stammhaus ist die Seele der NZZ.» Die anderen Gebäude gehören einem autonomen Pensionsfonds. Stäheli hat aber NZZ-eigene Häuser für die Korrespondenten in Berlin, London und Tokio verkauft, New York wird folgen, sobald der Markt anzieht.

Seit bekannt ist, dass die Kantine (ein chronischer Verlustbringer, Insider schätzen das Minus auf eine Million Franken pro Jahr) aufgegeben wird, kursiert eine Protest-Unterschriftenliste. Unmut erhob sich ebenfalls, als mehrere Redaktoren in neue Büros umziehen mussten, damit Stäheli einziehen konnte (die meisten haben weiterhin Einzelbüros), und seit im Titelkopf der NZZ «Zeitung für die Schweiz» statt «Schweizer Ausgabe» steht, was angeblich auf den CEO zurückgeht. Unter der Hand bestätigen zwar viele NZZ-Redaktoren, dass der Chef «vieles macht, was überfällig war». Aber die Garde der Traditionalisten sieht ihn als «Plattmacher», der von gutem Journalismus keine Ahnung habe.

Sonderfall. Diesen Vorwurf kontert Stäheli: Er sehe den publizistischen Sonderfall der NZZ als eine Art Resonanzboden für das politische Denken der Schweiz, die Journalisten hätten «enorme Freiheit, und die Mittel dafür sollen sie haben», eine Qualitätszeitung habe eben höhere Produktionskosten. Die NZZ müsse «keine Geldmaschine» werden. Im Gegenzug erwarte er von der Redaktion «ein gewisses ökonomisches Verständnis, dass ein solcher Verlag kaufmännisch geführt werden muss». Ist dieses im Hauptquartier des Liberalismus etwa nicht vorhanden? «Noch nicht überall im Haus.»

Für einen Teil der internen Klagen wäre vermutlich Chefredaktor Markus Spillmann der geeignetere Adressat. Etwa wenn es um die internationale Ausgabe der NZZ geht, die vor allem in Deutschland verkauft wird: Dem Schweizer Nachtmarkt angepasst, wo Zeitungen erst gegen Mitternacht gedruckt werden, war sie mit ihrer Kleinauflage von 20  000 Exemplaren jahrelang «Deutschlands aktuellste überregionale Zeitung», ätzt ein NZZ-Manager. Mit dem teuren deutschlandweiten Nachtvertrieb verbrannte die «Internationale» jährlich 3,8 Millionen Franken. Um den Blutverlust zu stoppen, wechselte die Geschäftsleitung in den Nachmittagsvertrieb, den die grossen Konkurrenten wie «FAZ» oder «Süddeutsche» nutzen. Den Einsparungen stehen nun aber Beschwerden von hochklassigen Kunden gegenüber, darunter von Ökonom Thomas Straubhaar oder Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann. Sie vermissen die Aktualität. Spillmann sagt zwar, die «Internationale» sei ein Muss, aber mehr redaktionelle Ressourcen hineinzustecken, um wie die Deutschen schon um 18 Uhr ein vorzeigbares Produkt druckfertig zu haben, lehnt er ab. Für zehn Prozent der Auflage will er nicht «die Qualität der Hauptausgabe gefährden». Es laufen Projekte, um eine Lösung aus dem Dilemma zu finden.

Der junge Chefredaktor, Jahrgang 1967, hat eine prekäre Doppelrolle: Er muss das Primat der Publizistik hochhalten, zudem ist er es, der redaktionelle Sparmassnahmen exekutiert, das will er auch so, das «gehört zu meiner Rolle». Beim Sparen müsse er «als Hüter eines grösseren Budgets einen vernünftigen Beitrag leisten», aber er sei es, der das Krisenbudget aufstelle – nach publizistischen Kriterien, betont er. Er kenne die Grenze beim Sparen, und die Gruppenleitung höre ihm «gut zu». Er rechnet sich oben dazu, will aber zugleich Puffer nach unten bleiben.

Intern hat er bereits einiges bewegt. Nach und nach ringt er den allmächtigen Ressortleitern, die wie Herzöge über ihre Seiten herrschten, Teile ihrer Hoheit ab. Die Führung wird durchgreifender, sagt Spillmann, «wir machen eine Zeitung und nicht sechs» wie früher. Ihm kommt zupass, dass die Traditionalisten gehen: Auslandschef Hansrudolf Kamer ist schon weg, Wirtschaftschef Schwarz steht vor dem Absprung. Feuilletonchef Martin Meyer gilt als offener für Neuerungen, die jüngeren Ressortleiter als tendenziell progressiv. Dennoch, berichten Insider, gebe es immer wieder Krach: Dass sich die Ressortchefs heute von einer Art-Direktorin und deren junger Assistentin in die Seitengestaltung hineinreden lassen müssen, war noch vor wenigen Jahren undenkbar.

In der Wirtschaftskompetenz der NZZ sehen Stäheli und Spillmann das grösste Zukunftspotenzial. Die Berichtsgebiete Unternehmen und Finanzmärkte, unter Schwarz knapp gehalten, sollen ausgebaut werden. Der alten Devise «Wir beschäftigen Fachleute, keine Journalisten» will Spillmann aber nicht abschwören. Am liebsten hätte er beides, doch im Zweifel gelte: «Besser klug als schön!»

Zukunftsstrategie? Künftig soll das Wirtschaftswissen der Redaktion «unabhängig vom Trägermedium» verbreitet werden – auch auf neue Endgeräte wie das iPad. Was genau Meyer, Stäheli und Spillmann online vorhaben, wissen sie entweder noch nicht oder behalten es für sich. Kostenpflichtige Dienste im Internet, auch «nicht mehr so nahe am publizistischen Angebot», skizziert Stäheli, konkreter wird er nicht. Die Frage, ob es eine klare Strategie gebe, beantworten alle treuherzig mit Ja. Gibt es sie wirklich?

Für das Hauptprodukt, die Tageszeitung, wohl nicht mehr. Hier sprechen die NZZ-Oberen von «gesellschaftlichen Veränderungen durch technologische Entwicklungen», von «strukturellen Ertragslücken», davon, dass aufgrund der kleinen Deutschschweiz «Sprünge im Lesermarkt wohl nicht möglich sind». Dass die renommierteste deutschsprachige Zeitung neue Leser gewinnen kann – daran glaubt sie offenbar selber nicht mehr.

«Die NZZ-Führungsriege wirkt ein wenig mutlos und unkreativ, so als ob sie ein Museum verwaltet», spottet ein Branchenmanager. Spillmann sagt, Zeitungen seien «zu billig»; auch Stäheli denkt an höhere Preise, für ein Qualitätsprodukt müsse ein Premium zu erzielen sein. Höhere Eintrittspreise fürs Museum, ohne ein frisches Ausstellungskonzept? Ein NZZ-Redaktor meint, Durchwursteln sei vielleicht nicht der schlechteste Ansatz.

Immerhin: Die «Fitnesskur 2009» (Stäheli) zeigt Wirkung. Der Turnaround, so Spillmann, «ist geschafft». Das erste Halbjahr 2010 soll ziemlich gut gelaufen sein. Womöglich erweist sich Polo Stäheli, an einem 24. Dezember geboren, am Ende als veritables Weihnachtsgeschenk für die alte Tante.

Dirk Ruschmann
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