Pure Not treibt Max Manuel Vögele an. Im März peppt er den Online-Shop seiner Schuhfirma Vögele auf – doch jubelt der Chef der Familienfirma über die Innovationen? Keine Spur. Heute müsse man als grosser Schuhhändler den Kunden auch im Internet etwas bieten, lässt er wissen. Es klingt wenig nach Lust. Vögele wird gejagt. Den wichtigsten Grund für die Shopkur nennt er selbst: Zalando.

Wie ein Orkan fegt der deutsche Internet-Modehändler über Europa hinweg. Seine Werbung «Schrei vor Glück» mit kaufsüchtigen Frauen hält seit Herbst auch in der Schweiz Händler in Atem. Kleider, Taschen, Schuhe – mit Zehntausenden Produkten und einer selten gesehenen Marketingshow will Geschäftsführer und Mitgründer Robert Gentz Zalando an die Marktspitze hieven. Im Schweizer Mode-Internethandel liegt er beim Umsatz schon nach so kurzer Zeit auf Platz drei hinter La Redoute und Heine.

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Zalandos Lautstärke übertönt die bittere Seite der Online-Welt: Gewinne sind weit entfernt. Schon 2010 verzehnfachte sich der Verlust auf 25 Millionen Franken, bei 193 Millionen Umsatz. Das teure Marketing frisst den Erlös. Doch Gentz’ grosses Problem ist die Geschäftsidee. Der Shop garantiert Gratisversand und -rückgabe. Das hat die Retourenquote laut Insidern auf über 60 Prozent getrieben. Im Schnitt liegt die Branche bei 40. «Sie kriegen es nicht gesenkt», sagt ein Kenner der Probleme. Zalandos Hauptaktionär, das Berliner Investmenthaus Rocket Internet der Brüder Oliver, Marc und Alexander Samwer, das Zalando einst mit dem nötigen Kapital an den Start gebracht hat, glaube nicht mehr an die Idee. «Die Samwers planen den Ausstieg», heisst es in Investmentkreisen. Über 100 Firmen haben sie im Web gross gezogen, manche waren top, manche ein Flop.

Wenn selbst pure Internetplayer wie Zalando im Web kriseln, wie arg trifft es dann die Newcomer aus der alten Ladenwelt in der Online-Ära?

Wette auf die Zukunft. Verheissungsvoll tönen die Versprechungen des Internets. Angelockt von Megaerfolgen wie dem US-Versandriesen Amazon, drängen immer mehr Firmen hinein. Dabei sind die Risiken enorm, Gewinne rar. Denn der Sprung mit der Marke ins Netz ist teuer. Perfekt müssen alte und neue Welt verknüpft werden, neue Serviceleistungen, neue Ideen braucht es. Das Dilemma: Kein Unternehmer kommt daran vorbei. Neue Rivalen tauchen im Web auf und machen alten Firmen das Geschäft streitig. Zweistellige Wachstumsraten stellen die mickrigen Zuwächse im Laden in den Schatten. Wer zu spät kommt, steht schnell im Abseits. Welche Geschäftsidee zündet, weiss in diesem Wettkampf aber niemand. Es ist eine grosse Wette auf die Zukunft, und viele Händler werden sie verlieren. Denn es warten etliche Fallen.

Zalandos Markteintritt hat nicht nur Vögele aufgeschreckt. «Das war ein Weckruf für viele Händler», sagt Adrian Hofer, Handelsexperte von Boston Consulting in Zürich. «Manche, die zuvor online kaum aktiv waren, haben begonnen, schnell nach Lösungen zu suchen.»

Mittlerweile wird der Markt ja auch attraktiv. Jahrelang haben Schweizer Unternehmen Online-Kunden mehr oder weniger ignoriert. Und das, obwohl die Eidgenossen sehr webaffin sind. 39 Prozent der Schweizer prüften Marken sogar auf Social-Media-Seiten wie Facebook, stellt Boston Consulting in einer aktuellen Studie fest. Kauften sie 2006 für vier Milliarden Franken ein, sind es heute bereits rund neun Milliarden, zeigt die Universität St. Gallen. Gut, der Gesamthandel setzt das Zehnfache um – aber dafür wächst er pro Jahr nur um 2 Prozent, das Online-Geschäft hingegen um 20. Tablet Computer machen das Surfen vom Sofa aus bequemer, und bald kommen Mobilfunk-Apps, mit denen Nutzer beispielsweise auf der Strasse eine Tasche fotografieren und im Internet nach dem Preis und einem Shop suchen können, der die Tasche führt.

Manager, die nur ihre Filialen kennen, stolpern im Web nun über diverse Fallstricke. «Viele Unternehmen sind zu zaghaft, andere starten zu spät oder gehen wiederum zu massiv im Marktauftritt an das Internetgeschäft heran», sagt Beatrix Morath, Managing Partner von Roland Berger Strategy Consultants in Zürich. Ihre Erfahrung: Oft sind die Online-Konzepte nicht durchdacht, dem Webauftritt fehlt die Integration in die bisherige Filialkette.

Manche Firmen riskieren selbst dann eine grosse Klappe. So tönt es von Media Markt, der Elektronikhändler werde 2015 in Deutschland Webmarktführer. Dabei muss das Management froh sein, den Anschluss zu halten. Seit Jahren führt Amazon die Branche an, Media Markt verkauft die Produkte erst seit Jahresbeginn in Deutschland und der Schweiz online. «Ein Blutbad» sei dafür nötig gewesen, sagt der Chef eines Elektronikhändlers. Denn von jeher führen die Geschäftsführer des rot-weissen Handelsriesen ihre Filialen autonom, auch bei den Preisen – sie wollten keinen Online-Shop, der naturgemäss nur einen Preis offeriert.

Nach viel Streit hat man sich geeinigt – auf ein Miniangebot: 2500 Artikel verkauft der Konzern im Internet in Deutschland. In der Schweiz will Media-Markt-Landeschef Karsten Sommer mit nur 1000 Produkten online brillieren. Dabei bietet die Firma in jeder Filiale über 100 000 Produkte an. Amazon das Vielfache davon – und das zu niedrigeren Preisen.

Die Angst vor dem Neuen lässt viele Firmen straucheln. Die Mitarbeiter boykottieren das Web aus Sorge, ihren Job zu verlieren. Resigniert sagte der Chef eines grossen deutschen Warenhauskonzerns jüngst in kleinem Kreis: «Mich muss keiner überzeugen, ein gutes Angebot im Internet zu machen, aber unsere 18 000 Mitarbeiter schon.»

Um seine Truppe bei der Stange zu halten, greift Philippe Olivier Burger auch zum Besenstiel. Der Eigentümer und Chef der Modehauskette PKZ Burger-Kehl mit den Marken PKZ, Burger, Feldpausch und Blue Dog startete voriges Jahr die Website Thelook.ch – nach drei Jahren Planung ist sie perfekt integriert mit dem Filialgeschäft. Doch der Wandel, der alle Prozesse umgestülpt hat, liess die Firma kräftig knirschen: «Nach der Entscheidung für den Schritt vor drei Jahren rumorte es in allen Bereichen», sagt Burger.

Zwei Geschäfte, drei Dimensionen. Den Sturm, den sein Unternehmen erfasst hatte, wollte er veranschaulichen. Anfang 2011 beim jährlichen Kadertreffen am Ägerisee waren die Präsentationen gerade beendet, da trat Burger mit Führungskräften auf: Er nahm einen Besenstiel, band ein Tuch daran und wedelte damit durch seine tanzende Laientheatergruppe. Solch ein Durcheinander – so fühlten auch seine Manager. Die Aktion eröffnete eine wichtige Diskussion.

Mit dem Internetshop kommt eben nicht nur ein neuer Laden hinzu. «Wir hatten vorher ein zweidimensionales Geschäft, jetzt hat es eine dritte Dimension», sagt Burger. «Manche Unternehmen glauben, es reiche fürs Online-Geschäft, ein paar Päckchen zu packen und zu versenden. Das ist falsch.» Der PKZ-Chef hat die Firma umgekrempelt: Ein neues IT-System verknüpft die Filialen nahtlos mit dem Webshop, per Mobilfunk-App können Kunden mit dem Smartphone bezahlen und Bons einlösen, die Logistik arbeitet ganz neu. Burger will in seinen Läden kleine Laptop-Terminals aufstellen, damit die Kunden sich Produkte etwa in anderen Farben ansehen und bestellen können. 150 000 Besucher zähle die Website pro Monat, 60 000 Kunden hätten die mobile App heruntergeladen, sagt Burger stolz. «Das alles wird in einigen Jahren selbstverständlich sein.»

Noch ist es alles andere als das. Auch in mancher PKZ-Filiale bleibt die Webwelt vor der Tür: Die Verkäufer ignorieren den Online-Shop, wenn eine Grösse fehlt. Fragt der Kunde nach der Website, wird er gebeten, dort nachzusehen. Burger muss noch viele seiner Leute überzeugen.

Nicht nur die Mitarbeiter bocken. Die Systeme neu auf die Internetzeit einzustellen, ist für viele Manager schon zu viel. Die Anforderungen würden von den meisten brutal unterschätzt, warnt E-Commerce-Berater Thomas Lang von Carpathia Consulting. Plötzlich stünden Unternehmer vor dem Problem, dass sie keine Debitoren-Buchhaltung haben, die ihr Online-Shop für Zahlungen gegen Rechnung oder Kreditkarte braucht. Die IT bleibt oft getrennt, sodass Kunden mit Fragen nach Lieferungen oder Retouren online bestellter Ware im Laden auf taube Ohren stossen. Und viele Lager sind noch darauf eingestellt, wie bisher Produkte kistenweise in Filialen zu liefern, statt sie einzeln zusammengestellt zu verpacken.

All das zu verändern, muss man sich leisten können. PKZ-Patron Burger hätte stattdessen gut zwei Filialen eröffnen können. In die Millionen sei seine Investition für das Online-Engagement gegangen. Wer Online- und Offline-Welt wie bei PKZ zusammenführt, zahlt nach Erfahrung vieler Manager viermal mehr als derjenige, der sie getrennt nebeneinanderher laufen lässt. Wer sich traut, kann reich belohnt werden: «Werden beide Vertriebskanäle koordiniert, steigen die jährlichen Wachstumsraten um 25 Prozent», sagt Oliver Emrich, Leiter des Kompetenzzentrums E-Commerce der Universität St. Gallen, der Managern nun auch ein Seminar anbietet.

Das Internet gibt es schon lange, doch damit Geld zu verdienen, ist Neuland. Keiner weiss, welche Geschäftsmodelle funktionieren. Die Migros kauft ihr Know-how daher lieber zu: Der Handelsriese übernahm mit Digitec einen Internet-Elektronikhändler und mit LeShop einen Online-Lieferservice für Lebensmittel. So umgeht Migros das Risiko, am extremen Wandel im eigenen Unternehmen zu scheitern, und ist im Web dabei.

Wie es anders laufen kann, musste Martin Wittwer leidvoll erfahren. Der CEO von TUI Suisse glaubte an eine Idee: Vor einem Jahr kündigte der Reiseanbieter, einer der Top-3-Player im Schweizer Markt, gross eine neue Online-Reiseagentur an. Das Projekt Etrips.ch, mit dem Medienhaus Ringier lanciert, sollte zum tonangebenden Schweizer Ferienportal werden, «mit dem grössten Flug- und Ferienprogramm der wichtigsten Anbieter zu tagesaktuellen Preisen».

Gefährdete Branchen. Der E-Trip endete schnell. Dieses Jahr strich Wittwer die Investitionen. «Wir mussten erkennen, dass es viel mehr Mittel braucht, als wir geglaubt hatten, um eine neue Marke bekannt zu machen. Wir müssen genau überlegen, auf welchen Brand wir einzahlen – und haben uns dabei für unsere bewährten Marken TUI und Vögele entschieden.» TUI Suisse selbst erreicht laut eigenen Angaben immerhin einen Online-Anteil von 20 Prozent. Dennoch sei Etrips wichtig für die Lernkurve. Man habe geglaubt, mit Online-Auftritten Geld für Kataloge und Reisebüros zu sparen. Das ging nicht auf. «Auch der Online-Vertrieb kostet», sagt Wittwer. Doch er lässt eine Tür offen: Noch wird Etrips nicht ganz abgeschaltet. Vielleicht kommt ja die zündende Idee noch.

Besser wäre es, denn die Reisebranche wird im Web besonders attackiert. Flugtickets, Hotelsuche, Preisvergleiche – vor den Ferien gehören Internetportale zum Begleiter. So geht es nicht allen Branchen. «Es gibt Segmente, da steigt das Risiko für stationäre Händler durch das Web weit stärker als in anderen», stellt Strategieberater Fritze von Berswordt von der Düsseldorfer Consultingfirma SMP fest.

Modehändler sind, wie Zalando zeigt, sehr gefährdet ohne gute Webidee. Auch Elektronikfirmen wie Media Markt stehen unter Zugzwang, denn den meisten Kunden ist es egal, ob sie die Artikel vorher selbst in der Hand hatten. Genauso geht es auch dem Buchhandel, den Verkäufern von Musik und Filmen. Dagegen lassen sich Möbel und Autos im Web schlechter verkaufen. Wer mehrere 10 000 Franken für einen neuen Wagen ausgibt, will ihn auch probefahren, ein Gefühl für die Sitze, die Lenkung haben. Wer sich ein Sofa zulegt, will es vorher anfassen und darauf sitzen.

Bequem zurücklehnen können sich Händler dennoch in keiner Branche. Nicht einmal im Luxusmarkt sind sie vor der Cyberattacke sicher. Mit dem Online-Luxusmodeportal Net-a-porter.com, das zum Luxuskonzern Richemont gehört, hat Natalie Massenet es geschafft, teure Ware im Web attraktiv zu machen. Mittlerweile verkaufen auch Marken wie Louis Vuitton, Dolce & Gabbana oder Prada Taschen und Kleider online. Auto-Internethändler drücken mit Tiefstpreisen die Margen von Autokonzernen, die nun allesamt intern eigene Webshops andenken. Schmuck- und Uhrenhändler können sich noch sicher wähnen. Das Anfühlen der Stücke und die Beratung stehen hoch im Kurs. Wie lange noch? Wer weiss. Die Website Schmuck.ch belegt nicht umsonst das Mittelfeld unter den 100 grössten Schweizer E-Commerce-Anbietern, die iBusiness und Carpathia ermittelt haben.

Was vielen Firmen Angst macht: Die Auslese im Web wird immer brutaler. Leichte Preisvergleiche schaffen Transparenz, sodass viele Anbieter durchfallen. Es ist so schlimm, dass Berater wie SMP-Experte Fritze von Berswordt dafür ein neues Wort benutzen: Amazonification. «In der Online-Welt bleibt schnell nur noch einer pro Segment übrig. Wie Amazon vereinigen diese wenigen den Grossteil der Märkte auf sich.» Für Konkurrenten bleibt da leicht zu wenig Umsatz übrig.

«Epochale Veränderungen» macht Roland Brack, Gründer des gleichnamigen Schweizer Elektrohändlers, aus. Viele Markteintritte, Dutzende neue Geschäftsmodelle bemerkt der Manager, der schon früh komplett auf das Internet setzte. «Einige etablierte Firmen werden die Transformation nicht schaffen», ist er sicher.

Chance für Radikale. Manchen Unternehmer verschreckt das derart, dass er sich ins Schneckenhaus zurückzieht – und seine gute Marke gefährdet. Ochsner Sport etwa ist in Sportlerkreisen geschätzt für die fundierte Beratung im Laden. Online aber präsentiert sich die Firma laienhaft. Unübersichtlich und uninspiriert wirkt die Website. Unter dem Button «Online kaufen» versteckt sich ein Online-Shop, aber auch ein Blätterkatalog. Auch Valora-Präsident Rolando Benedick sollte ins Grübeln kommen, wenn er auf den lächerlichen Webauftritt seines Bücherhauses Press & Books blickt. Wer dort Lesestoff bestellt, muss ihn im Laden abholen. Weniger Internet geht online kaum.

Dabei wird – angetrieben von Amazon – gerade das Buchgeschäft vom Web ins Aus gestellt. Noch ist der stationäre Anteil grösser. Doch ohne das Internetgeschäft sieht Ex-Libris-Chef Daniel Röthlin eine schwierige Zukunft: «Ich brauche ein überdimensionales Wachstum, wie es das Internet bietet, um die Verluste im stationären Geschäft auszugleichen.» Ein Drittel der Erlöse von Ex Libris stammt bereits aus der Online-Welt. So wie der Buchmarkt wegbricht, hat ein Buchhändler ohne Web nur als Spezialist Chancen.

Wer mitziehen will, muss radikal sein wie Daniel Röthlin. Seit 1999 ist er mit Ex Libris online und unterscheidet nicht, ob ein Kunde im Laden, im Web oder per Handy Bücher, Filme oder Musik kauft. Alles ist eins – das ist Röthlins Devise. Selbst die Manager, ob in Einkauf, Marketing oder Produktstrategie, kümmern sich um alle Verkaufskanäle.

Ob PKZ-Inhaber Burger oder Ex-Libris-Chef Röthlin: Mit ihren Filialen halten sie Trümpfe in der Hand, können spezielleren Service anbieten. Nun müssen sie ihr Blatt gut spielen. «Diejenigen werden gewinnen, die Online- und stationären Handel intelligent kombinieren», sagt Roland-Berger-Expertin Beatrix Morath. Das Shoppingerlebnis wird die Kür. Online-Konzerne drängen längst in die alte Filialwelt: Digitec baut Läden auf, Zalando eröffnete in Berlin die erste Filiale, Amazon steht in den USA kurz davor. Mit heutigen Shops haben sie aber nichts gemein. Sie sind Erlebniszentren, Showrooms – Digitec zeigt offline vor allem, was es online zu kaufen gibt, Zalandos Outlet Store können nur Kunden mit spezieller Shoppingcard betreten.

Wie im Kopf-an-Kopf-Rennen muss sich Burger fühlen. Eine Woche nach seinem Online-Auftritt ist Zalando in der Schweiz gestartet. In drei bis vier Jahren will Burger Gewinne aus dem Internetgeschäft einstreichen. Wenn Zalandos aggressive Preise ihm keinen Strich durch die Rechnung machen. Immer wieder klickt sich Burger durch die Zalando-Site. Etwas dürfte ihn beruhigen: Es sind zwar Tausende Artikel zu finden – doch viele sind gar nicht lieferbar. Nur, er weiss: «Es gibt online immer neue Angreifer.»

Mitarbeit: Kassandra Bucher, Andreas Güntert und Karin Kofler