März 2017, wir treffen Brabeck zu seinem letzten Interview als Nestlé-Boss. Seine Stimmung ist so aufgeräumt wie sein Schreibtisch. Erstmals zeigt er sein Büro: heller Teppich, Sitzgruppe, Kunst an der Wand (wohl ein Hodler), eher nüchtern als pompös. Geradezu kaiserlich dagegen der Blick über den Genfersee auf die sonnenbestrahlten Gipfel der Savoyer Alpen.

Im April wird er das Büro räumen, nach einem halben Jahrhundert Nestlé. Trübsinn scheint ihn nicht zu quälen. «Der Moment des Abschieds ist nicht grösser als andere Momente in diesen 50 Jahren», sagt er und legt nach: Für ihn sei klar, «alles, was mit Nestlé zu tun hat, ist am 6. April zu Ende», da müsse «eine klare Linie gezogen werden». Ehrenpräsident wie Maucher, der bei Nestlé Deutschland ein Büro hat, wird Brabeck also nicht – im Konzern kursieren aber Gerüchte, man werde ihn auf andere Weise ehren.

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Mit der persönlichen Leistungsbilanz ist er im Reinen. Das Wachstumsziel seiner CEO-Zeit, den Umsatz auf 100 Milliarden Franken zu schrauben, erreichte Brabeck im Jahr 2007. Umstellungen in der Rechnungslegung und vor allem der beinharte Schweizer Franken drückten den Umsatz in der Folge immer wieder, bisweilen pro Jahr um etliche Milliarden.

L’Oréal soweit wie möglich erledigt

Und die ewige Baustelle L’Oréal, die erst mit dem Ableben der greisen Konzernerbin Liliane Bettencourt abgearbeitet werden kann, erledigte Brabeck soweit möglich: Er übertrug den Franzosen ein Acht-Prozent-Paket von Nestlés L’Oréal-Aktien. Dafür flossen einige Milliarden nach Vevey, und die gemeinsame Tochter Galderma schlüpfte komplett bei Nestlé unter.

Mit diesem Deal schob Brabeck sein Healthcare-Geschäft an, und L’Oréal konnte endlich zur Gewinnverdichtung Aktien vernichten, ohne Gefahr zu laufen, dass Nestlé, deren Anteil zuvor 29,4 Prozent betrug, zu einem Übernahmeangebot verpflichtet würde – an dem die Franzosen kein Interesse hatten. «Wir standen uns gegenseitig auf den Füssen», sagt Brabeck.

Zwei zentrale Leistungen

Ein Branchenkenner attestiert ihm zwei zentrale Leistungen: Erstens habe sein im Juli 2000 lanciertes IT-Riesenprogramm Globe dem Konzern Effizienz und Transparenz verpasst, erst damit habe das Management Zugriff auf relevante Daten aus Produktion und Verkauf erhalten.

Und zweitens habe er Nestlé das Umsteuern vom Schokoriegel- und Pizzaproduzenten hin zu Nutrition und schliesslich zu Gesundheitsvorsorge und Life Sciences eingeimpft. Maucher machte Nestlé gross, Brabeck führte das Unternehmen in die Moderne. Früh in seiner CEO-Zeit räumte er ausserdem im Markenregal auf, das rund 8000 Brands bevölkerten. Der Bewertungsrückstand an der Börse, den Nestlé gegenüber den Wettbewerbern Danone und Unilever lange aufwies, ist längst egalisiert.

«Bestimmt, aber immer höflich»

Fragt man Nestlé-Leute nach Brabeck, äussern sich fast alle positiv, zitieren lässt sich aber trotzdem keiner – der Konzern wirft einen mächtigen Schatten. Ein ehemaliger Kader sagt, Brabeck habe den Ruf, oft unnahbar und fordernd aufzutreten. Er selber könne das nicht bestätigen: Brabeck sei ihm zwar «sehr klar und strategisch» begegnet, aber «er sitzt nicht auf dem hohen Ross».

Einer, der Zugang zu den Führungsgremien hat, bestätigt: Brabeck sei «bestimmt, aber immer höflich» zu den Mitarbeitern, «stellt sich vor seine Leute», und «man weiss immer, woran man ist, da gibt es keine Grauzone». Beeindruckend sei auch die Art, wie Brabeck den Verwaltungsrat leitet: «äusserst diszipliniert, vorbereitet bis ins letzte Detail, und die Sitzungszeiten werden praktisch immer eingehalten». Brabeck führe Menschen dank seinem Charisma. Der Ex-Kader bestätigt: Er betrete einen Raum, und «immediately he owns the place».

Tatsächlich wirkte Brabeck mit seiner Bergsteigerbräune, wenn er zu Präsentationen die Konzernleitung antreten liess, inmitten der freundlich-beflissenen, in blassgraue Anzüge gehüllten Kollegen immer ein wenig, als habe er sich in der Tür geirrt. Dennoch galt er intern stets als enorm engagiert; als er sich während seiner Chile-Jahre ins Nachtleben der Hauptstadt Santiago einarbeitete, begriff er das garantiert als Teil der obligatorischen Marktforschung.

Von der Klinik direkt ins Büro

Die letzten Jahre seiner Amtszeit kämpfte Brabeck nicht nur mit Wettbewerbern, sondern gegen einen inneren Feind: Krebs, einen sehr aggressiven. Er bleibt einsilbig bei diesem Thema, das genaue Krankheitsbild hat er stets verschwiegen. Doch alles klingt nach einer aggressiven Form der Leukämie. Der Kampf muss höllisch gewesen sein. Nüchtern wie immer sagt er, «in meinem Verhältnis zu mir selbst oder meiner Familie hat es nichts geändert, daran habe ich die Krankheit nicht gelassen». Allerdings: «Körperlich war es sehr unangenehm.»

Die übliche Behandlung, taxiert wird eine Heilungschance von 70 Prozent, schlug nicht an. Brabeck setzte dann auf eine aggressivere Methode, Heilungschancen 50 zu 50, mit jeweils vier Tagen Klinikbehandlung, die «nicht sehr lustig» war. Nachmittags um vier, nach den Behandlungen, fuhr Brabeck ins Büro, mal mit Haaren, mal ohne, auch mal mit Perücke. Ein weiterer Fehlschlag, die offiziellen Behandlungsprotokolle waren somit erschöpft.

Dann reiste Brabeck wochenlang durch Universitäten in Europa und den USA, suchte nach Behandlungsmethoden, die noch in der Experimentalphase steckten. In Lyon wurde er fündig. Einen kompletten Monat verbrachte er in Quarantäne. Das Immunsystem wurde auf null heruntergefahren, praktisch alles im Körper abgetötet, Blut ausgetauscht, Stammzellen entnommen und später wieder eingepflanzt, das Immunsystem baute sich allmählich wieder auf. Es war eine Radikaltherapie – aber sie funktionierte.

Ein klares Ziel vor Augen

Mit dem ersten behandelnden Arzt hatte Brabeck eine Art Wette geschlossen: Der sollte ihn gesund machen, Brabeck den Helikopterschein ablegen – als Ablenkungs- und Motivationsprojekt, ein klares Ziel vor Augen. Die beiden wollten schauen, wer schneller fertig wird. Rückblickend sagt Brabeck: «Ich wusste zwar nicht wie, aber dass wir das hinkriegen, war für mich gesetzt.»

An der Universität von Philadelphia hatte er zudem noch eine andere Behandlungschance vorgefunden, falls die Therapie in Lyon nicht angeschlagen hätte. Er hatte also eine weitere Rückfallposition. Eisverkäufer, wiederholt Brabeck, seien eben Optimisten: Wer bei Regen nicht rausgehe, könne den Job auch gleich sein lassen. Einer, der ihn sehr gut kennt, sagt, «seine enorme Disziplin wendet er auch gegen sich selbst an.» 20 Kilo verlor Peter Brabeck an die Krankheit.

Im Gleichschritt mit Aktionären verdient

Was hingegen im Lauf der Nestlé-Zeit kontinuierlich zulegte, ist sein Vermögen. Wie andere Topshots hat auch Brabeck sehr viel verdient. Doch anders als Raffzahn Daniel Vasella oder manche Grossbanken- Bosse, die trotz schrumpfender Gewinne und miserabler Aktienperformance munter weiter kassieren, hat Brabeck stets geliefert – und im Gleichschritt mit allen Aktionären verdient.

Er machte sich mit Chancen und Risiken seines Arbeitgebers gemein; Boni bezog er nur in Nestlé-Aktien, jede einzelne hat er behalten. Er sieht es als Frage der Glaubwürdigkeit: «Wie könnte ich sonst Investoren raten, ihr Geld in Nestlé anzulegen?» Dividenden und Kurszuwächse, auch dank diverser Aktienrückkäufe, haben sich über die Jahre hübsch aufsummiert, Brabeck spricht von rund zwölf Prozent annualisierter Rendite. Nicht schlecht für einen, der wie sein Vorgänger Maucher jahrelang gegen (zumindest allzu kurzfristiges) Shareholder-Value-Denken polemisierte.

Schnelleres umsteuern

Falls er Unerledigtes zurücklässt bei Nestlé, dann nicht viel. Lange Zeit schwebte ihm eine andere Konzernstruktur vor: das Ende der Pyramide, ersetzt durch etwas Plasma-Förmiges, aus kleinen agilen Einheiten zusammengesetzt. Und er hätte die Neuausrichtung zu Healthcare gern selber «noch etwas weitergeführt, vielleicht konsequenter vorangetrieben und aufs Gaspedal gedrückt».

In den letzten Jahren, berichtet ein Konzernkenner, habe Brabeck gespürt, dass der Umbau beschleunigt werden müsse; die Berufung des Externen Schneider zum CEO, von Brabeck eingefädelt, legt dafür Zeugnis ab. Doch auch Bulcke habe sich für Schneider ausgesprochen, nachdem sich die beiden zu Vieraugengesprächen getroffen hatten – andernfalls «hätte ich den Personalvorschlag wohl nicht weiterverfolgt». Man spüre, «die beiden wollen zusammenarbeiten».

Trotz gelegentlicher atmosphärischer Störungen, die es zuletzt mit Bulcke gegeben haben soll (über Strategie und Wachstumszahlen), setzt Brabeck pekuniär auf Bulcke und Schneider: «Ich haben beiden gesagt: Als Zeichen meines Vertrauens in das neue Team behalte ich meine sämtlichen Nestlé-Aktien.»

1,11 Millionen für den Nachwuchs

Den einzigen Griff ins Depot erlaubt er sich für die vier Enkel, die Kinder seiner drei Kinder: Zum Geburtstag gibt es vom Grossvater Aktien, 100 zum ersten Jahrestag, 200 zum zweiten und so weiter bis zur Volljährigkeit. Damit sollen die Enkelkinder ihr Studium bezahlen können, «unabhängig von den Eltern», lacht Brabeck. Rechnerisch ergibt sich, bei einem Durchschnittskurs von 65 Franken, ein Starterpaket im Wert von 1,11 Millionen für den Nachwuchs; bei einem aktuellen Vermögen von rund 280 Millionen Franken ein verkraftbarer Abfluss.

Hobbies, um seine Nach-Nestlé-Zeit auszufüllen, hätte Brabeck zwar in ausreichender Zahl. Etwa seine beiden Honda-Motorräder, einen Reisetourer und eine Enduro für die Waadtländer Hügel, auch die Harley bewegt er noch.

Die Heli-Lizenz nutzt er gleich doppelt: Gemeinsam mit einem Freund hat er eine zweisitzige Robinson R22 angeschafft, eine grössere Aérospatiale Lama mietet er von Zeit zu Zeit. Noch dieses Jahr soll sein Pilatus-Jet PC-24 ausgeliefert werden, den er in Sion stationieren wird. Brabeck rangiert als Nummer 4 auf der Lieferliste, die Musterberechtigung für den neuen Flieger muss er noch erwerben.

Auch das Bergsteigen hat er nicht aufgegeben, kürzlich war er auf dem strammen Viertausender Grand Combin. Im Nestlé-Rentnerverein trifft er Kollegen, mit denen er schon in den siebziger Jahren bergsteigen ging. Diese Freundschaften blieben ihm über die Karriere erhalten. Auf Bergtouren schlief er selbstredend im Massenlager.

Investor und Mentor bei diversen Start-ups

Bis auf die Formel 1 gibt Brabeck zwar alle Verwaltungsratsmandate auf, und das Family Office leitet längst sein Sohn Andres – doch ein Dasein als Freizeitkapitän genügt ihm nicht. Beim WEF bleibt er Vizepräsident, das sichert ihm Zugang zu Entscheidungsträgern. Vor allem aber ist er als Investor und Mentor bei diversen Start-ups engagiert, «in der Schweiz und auch in Boston und San Francisco, da werde ich aktiver werden».

Er geniesse es sehr, am Puls der Zeit mit den jungen Leuten zu sein. Seine Gebiete sind Precision Agriculture, also Landwirtschaft möglichst ohne Verschwendung von Ressourcen wie Ackerfläche oder Düngemittel, aber auch Biotechnologie. Ausserdem ist er am Walliser Kaviarproduzenten Kasperskian beteiligt, das sei ja auch ein Start-up.

Nun verlässt einer der Grössten die Bühne. «Ich fühle mich heute fast wie vor 50 Jahren – bin voll von Ideen und voll aktiv», sagt Brabeck: «Jetzt ist wohl 
der richtige Moment, etwas Neues anzufangen.» Abschiedsschmerz hört sich anders an.

Dirk Ruschmann
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