BILANZ: «In modernen Grossunternehmen leitet sich die Macht der Manager nur von den Managern selbst her, die von niemandem kontrolliert werden und niemandem verantwortlich sind. Es handelt sich buchstäblich um unbegründete, ungerechtfertigte, unkontrollierte und unverantwortliche Macht.» Herr Drucker, kommt Ihnen dieser Satz möglicherweise bekannt vor?

Peter Drucker: Ja, er ist von mir. Ist aber schon etwas her.

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Der Satz stammt aus Ihrem Buch «The Future of Industrial Man» von 1942 …

… und besitzt mehr oder weniger noch heute Gültigkeit. Man gewöhnt sich an alles.

Klingt fast, als hätten Sie resigniert, auch angesichts der Bilanzskandale der vergangenen Jahre.

Was wir da beobachten konnten, läuft doch immer wieder nach dem gleichen Schema: In Boomzeiten werden jedes Jahr mehr Umsätze und Gewinne erwartet und versprochen – in Grössenordnungen, die statistisch völlig unrealistisch sind. Die Gehälter der Vorstände werden an den Börsenkurs gekoppelt, die Leute haben also ein Eigeninteresse daran, den Kurs nach oben zu treiben. Irgendwann geht das aber nicht mehr. Und dann fangen dieselben Leute an, die Bücher zu frisieren. Jeder Boom endet so.

Hat sich demnach nichts geändert in den vergangenen sechzig Jahren?

Doch, natürlich. Aber viele Muster lassen sich wieder erkennen.

Zum Beispiel?

Eine der Schwächen der Manager heute ist ihre Orientierung an kurzfristigen Zielen. Nehmen Sie nur die US-Pensionsfonds, in denen die Rentengelder verwaltet werden. Ihre Macht ist sehr gross geworden. Sie sind als Grossaktionäre gewichtige Eigentümer, die ihre Investitionen sehr aufmerksam verfolgen. Das sind nicht mehr als 200 Gesellschaften, die immer stärker auf kurzfristige Erträge statt auf langfristige Entwicklungen aus sind. Sie sind das wahre Gesicht des Kapitalismus.

Ein aktuelles – und amerikanisches – Problem.

Nicht wirklich. Das können Sie schon bei Rudolf Hilferding nachlesen, dem fähigsten Mann der deutschen Sozialdemokratie und einem sehr guten Finanzminister in der Weimarer Republik. Er wurde später von den Nazis gehenkt. Er hat genau diese Entwicklung – die Bündelung finanzieller und industrieller Macht in den Händen weniger Gruppen – vorausgesehen. Das war so ungefähr 1910.

But in the long run, we’re all dead – das sagte schon John Maynard Keynes.

Natürlich, wer nur langfristig orientiert ist, bringt nichts zu Stande. Man braucht kurzfristige Resultate, um langfristig zu überleben. Dennoch halte ich die Abhängigkeit von Börsenkursen für eine der grössten Schwächen unseres Wirtschaftssystems.

Auch in Sachen Gehälter?

Gerade da. Ich bin völlig dagegen, Gehälter an Aktienkurse zu koppeln. Da herrscht doch die reine Gier. Die Differenz zwischen dem Gehalt vieler Topmanager und demjenigen einfacher Angestellter ist viel zu gross.

Aber ist es im Zeitalter der Globalisierung nicht viel anspruchsvoller geworden, ein Unternehmen zu führen?

Gewiss ist diese Aufgabe sehr schwer. Manager sind wie Artisten. Sie müssen gut balancieren können zwischen Angestellten, Aktionären, Banken, Familienmitgliedern. Entscheidend ist, was gut ist für das Unternehmen. Darin besteht die Kunst des Managers: Er muss es schaffen, die einzelnen Ansprüche so zu befriedigen, dass am Ende alle das Maul halten.

Warum soll, wer das schafft, nicht auch ausserordentlich gut verdienen?

Diese Riesengehälter sind doch Selbstbetrug, am Ende mehr Statussymbol als wirkliche Einnahme. Was berechtigt diese Leute denn zu so exorbitant hohen Gehältern? Das Argument, diese Manager nicht als einfache Angestellte, sondern nach unternehmerischem Massstab bezahlen zu müssen, ist doch dumm. Mitinhaber haben ein viel grösseres Risiko als diese angestellten Manager. Die Macht der Manager ist nur geliehen. Dessen sollten sie sich bewusst sein. Die Unternehmen sind gewissermassen ihre Klienten, ihre Patienten. So wie sich jeder Arzt fragen muss: Was ist für den Patienten gut? Offenbar ist das für viele nicht so leicht. Aber die meisten Dinge kann man ja doch lernen.

Auch Integrität?

Integrität? In der Tat, man spricht sehr viel davon, überall, leider.

Leider? Haben Sie für all die Bemühungen um eine bessere Corporate Governance nichts übrig?

Lassen Sie mich folgende Geschichte erzählen: Ich habe am 2. Januar 1930 als Redaktor beim «Frankfurter Generalanzeiger» begonnen, dem Vorläufer der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Meine erste Aufgabe war die Berichterstattung über einen Kriminalprozess, mit dem ich ein ganzes Jahr verbracht hatte: der Zusammenbruch der Frankfurter Allgemeinen Versicherung, eines damals namhaften deutschen Unternehmens. Das Management hatte zum Schluss die Türknäufe verscherbelt, und ich meine das wörtlich.

Also ist Corporate Governance …

… natürlich nach wie vor unabdingbar. Aber die Diskussion darüber ist ein alter Hut.

Soll man deswegen den Kopf in den Sand stecken?

Nein. Aber besser wäre es, wir hielten es wie einer der Päpste aus dem 19. Jahrhundert. Seinen Namen habe ich vergessen. Aber er hat schon damals gesagt: Bei einem Papst kann man davon ausgehen, dass er an Gott glaubt. Man muss nicht dauernd darüber reden.