Befindet sich die Schweizer Wirtschaft in einer Sinnkrise?

Peter Spälti: In verschiedenen Firmen haben sich in den letzten zwei Jahren auf der obersten Führungsstufe sehr negative Ereignisse abgespielt. Es gab Exzesse und Unkorrektheiten, die für mich als früherer Leiter eines internationalen Grossunternehmens unverständlich sind.

Inwiefern?

Spälti: Ich hätte wohl gar nicht so viel Phantasie gehabt, wie sie gewisse Leute entwickelt haben. Trotzdem glaube ich, dass man auf Grund dieser Fälle nicht ein negatives Gesamturteil über die Schweizer Wirtschaft fällen darf. Die Schweizer Wirtschaft besteht zu über 97% aus Klein- und Mittelbetrieben, die allermeisten davon sind gut geführt. Mehr als 75% der Leute arbeiten in diesen Unternehmen. Es gibt viele sehr gut geführte Grosskonzerne, wo Persönlichkeiten an der Spitze stehen. Nicht das System hat versagt, sondern einzelne Individuen haben versagt, die allerdings dem System grossen Schaden zugefügt haben.

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Unsere Wahrnehmung ist eine andere. Es geht um eine fundamentale Krise der Wirtschaft. Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Reputation wurden mit Füssen getreten.

Spälti: Durch Fehlverhalten und Fehlleistungen einzelner Topmanager ist in der Bevölkerung das Bild entstanden, als wäre dies die Regel in der Wirtschaft. Mit anderen Worten: Als würden Exzesse und Missmanagement zuoberst in der Wirtschaft zum Normalen gehören. Deshalb beklagen wir nun diesen Verlust an Glaubwürdigkeit. Dies hat in der Bevölkerung zu einer gewissen Verunsicherung geführt, in wirtschaftlich an sich schon schwierigen Zeiten. Aber eine fundamentale Krise ist das nicht.

Immerhin stehen und standen nicht irgendwelche Unternehmen in den negativen Schlagzeilen. Es geht um Institutionen wie Swissair, Rentenanstalt, ABB.

Spälti: Das stimmt. Aber dabei geht es immer um Personen, die die Verantwortung dafür tragen. Jede Organisation ist letztlich so gut wie die Leute, die sie repräsentieren und leiten. Sie stehen für den guten Ruf und die Glaubwürdigkeit oder deren Vernichtung.

Haben diese Manager - wir denken an die Herren Barnevik, Bruggisser, Hüppi, Mühlemann, Zobl, aber auch an andere - nicht einfach ihre individuellen Interessen höher gewertet als jene der jeweiligen Gesellschaft?

Spälti: Zu einzelnen Personen will ich mich nicht äussern. Ich frage mich jedoch oft, ob gewisse Erscheinungen in der Wirtschaft nicht in der ganzen Gesellschaft feststellbar sind. Gab es in der Gesellschaft in den letzten zehn, zwanzig Jahren nicht auch einen Verlust an Offenheit, Ehrlichkeit, Achtung vor den Mitmenschen, Verantwortungsbewusstsein? Ich bin der Meinung, ja. Vieles, das heute in Wirtschaft und Politik kritisiert wird, sind Probleme, die gesamthaft in der Gesellschaft erkennbar sind.

War denn früher alles anders?

Spälti: Wenn ich an meine rund zwanzig Jahre an der Spitze der Winterthur zurückdenke, dann glaube ich nicht, dass es einfacher war. Der lange Weg von einem vorwiegend auf die Schweiz ausgerichteten Unternehmen zu Beginn der 80er Jahre zu einem der grossen, weltweit tätigen Versicherer Mitte der 90er Jahre war ebenfalls hindernisreich. Dann hat sich aber das Umfeld rasch verändert, verbunden mit entsprechendem Druck auf die Geschäftsleitungen. Ich denke an die euphorische Entwicklung der Finanzmärkte, die Zeit der fast unkontrollierten Akquisitionstätigkeit, zunehmend kurzfristiges Gewinndenken und den Terror der Analysten. In vielen Unternehmen überdeckten gute Finanzergebnisse ungenügende operative Leistungen.

Aber das kann doch nicht als Rechtfertigung dienen, dass die individuelle Verantwortung mehr zählt als die gesellschaftliche.

Spälti: Nein, es kann nie als eine Entschuldigung gelten für führungsmässiges oder charakterliches Fehlverhalten. Leider war aber ein genereller Trend zum Verlust an Grundwerten unverkennbar. In vielen Firmen war aber die Sicherstellung des langfristigen Erfolges das wesentliche Ziel der unternehmerischen Tätigkeit, auch unter schwierigen Rahmenbedingungen.

Finden Sie es richtig, dass im gleichen Unternehmen - Beispiele sind etwa UBS und Novartis - ein Top-Manager 300 Mal mehr verdient als eine Sekretärin?

Spälti: Das wäre sicher übertrieben. Wenn ein Unternehmen gut geführt ist, Gewinne macht und für sichere Arbeitsplätze sorgt, dürfte die Entschädigung der Spitze kein grosses Thema sein. Das Problem liegt viel eher dort, wenn hohe Löhne und Boni ausgerichtet werden in Unternehmen, die nicht erfolgreich sind.

Braucht es jetzt bei den Managerlöhnen eine Korrektur nach unten?

Spälti: Ja, eindeutig. Die hohen Boni bei guten Ergebnissen müssen bei schlechten Ergebnissen auch entsprechend gekürzt werden. Das ist für mich klar.

Sollten Unternehmen, die Verluste schreiben, keine Boni zahlen dürfen?

Spälti: Ja, das würde ich so sagen. Sonst wäre es ja kein Bonussystem.

Das heisst, dass es in diesem Jahr bei der Winterthur beziehungsweise bei der CS Group keine Boni geben wird.

Spälti: Dazu kann ich mich nicht äussern. Aber ich bin überzeugt, dass die neue Führung der CS Group den nötigen Massstab finden wird.

Wiegt der Vertrauensverlust in einzelne Unternehmen letztlich schwerer als der Geldverlust über die letzten zwei Jahre?

Spälti: Ein massiver finanzieller Verlust kann für eine einzelne Firma im Moment gravierender sein als der langfristige Vertrauensverlust. Im Hinblick auf den langfristigen Erfolg und die Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit ist aber ein Vertrauensverlust fatal. Die Wertschätzung einer Marke basiert vor allem auf Vertrauen in die Unternehmensleitung und auf der Qualität der Produkte und Dienstleistungen. Hier haben sich die Ereignisse bei einigen Firmen negativ ausgewirkt.

Was heisst das für die Manager?

Spälti: Werte wie Offenheit, Glaubwürdigkeit, Achtung gegenüber den Mitarbeitern und Vorbildfunktion müssen wieder eine höhere Bedeutung erlangen. Der negative Trend muss korrigiert werden.

Das behauptet doch jeder Manager von sich.

Spälti: Heute sagt es wieder jeder. Aber vor kurzem galten diese Werte nicht viel.

Früher hiessen Leute, die diese Werte verkörperten, Ulrich Bremi oder Peter Spälti. Wie heissen ihre Nachfolger?

Spälti: Wie sie heissen, weiss ich nicht. Aber es gibt sie bestimmt. Ob sie in einer Organisation an die Spitze kommen, hängt entscheidend von der obersten Führung ab. Vermehrt müssen wieder Personen mit breitem Horizont, weniger Technokraten, mit Sinn für das politische und gesellschaftliche Umfeld der Unternehmung an die Toppositionen gelangen.

Sie oder auch ein Herr Bremi hatten genügend Zeit, solche Persönlichkeiten nachzuziehen.

Spälti: Zeit haben ist eine Sache. Da hilft eine langfristige Personalplanung. Aber jede Generation hat auch ihre Eigenheiten. Dass die heutige, junge Generation im Gegensatz zu unserer Generation, die noch in der Jugend die Kriegsjahre erlebt hat, in einer Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen ist, hat sicher auch Auswirkungen auf ihre Mentalität. Und Bescheidenheit ist ja nicht eben ein Zeichen unserer Zeit. Aber es gibt heute viele sehr gut ausgebildete und charakterfeste, junge Kader, so dass offene Führungspositionen kompetent sollten besetzt werden können.

Haben die Jungen - Ihre Nachfolger - diese Plätze auch deshalb nicht gut ausfüllen können, weil Sie und andere Ihrer Generation diese Plätze relativ lange beansprucht haben?

Spälti: Sie können von mir nicht erwarten, dass ich sage, ich hätte meinen Job zu lange ausgefüllt. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie vernünftig es ist, dass wir generelle Altersgrenzen haben, wenn man sieht, wie schwierig es ist, kompetente Verwaltungsräte zu finden. Da schaltet man eine Generation mit viel Erfahrung aus. Ist das angesichts der Altersstruktur in diesem Land richtig?

Die gefallenen Manager - Lukas Mühlemann, Thomas Wellauer und andere - waren doch teilweise ihre Ziehsöhne.

Spälti: Keiner der in den letzten Jahren Gefallenen war mein Ziehsohn. Es waren in der Mehrzahl Personen mit einer langen beruflichen Karriere, die allerdings sehr jung in diese Positionen gelangten.

Hat Ihre Generation die Falschen ausgewählt?

Spälti: Ein Risiko gibt es immer, wenn Sie wichtige Personalentscheide treffen. Vor Fehlentscheiden ist niemand gefeit. Es gibt aber auch Leute, die sich in den obersten Etagen charakterlich verändern. Man klagt heute ja überall über den Mangel an Persönlichkeiten. Das hat auch damit zu tun, dass es Persönlichkeiten heute schwer gemacht wird. Man wird viel rascher verurteilt und vom Sockel geholt. Deshalb halten sich viele an sich fähige Junge zurück, wenn es um verantwortungsvolle und exponierte Aufgaben in Wirtschaft und Politik geht.

War das Umfeld früher einfacher?

Spälti: Es war sicher weniger kritisch als heute.

Und die Manager? Die haben doch früher genauso gelogen wie heute.

Spälti: Ich würde nie behaupten, dass die Chefs früher immer die Wahrheit sagten. Aber das Wort galt doch mehr als heute, das Vertrauen war damit grösser. Und man konnte auch einmal einen Fehler eingestehen.

Wie sieht es diesbezüglich bei Ihnen aus? Welche Fehler haben Sie begangen?

Spälti: Ich habe sicher bei ein, zwei Personalmassnahmen Fehlentscheide getroffen. Wahrscheinlich war dies bei der Regelung meiner Nachfolge als CEO der Winterthur der Fall.

Also bei Thomas Wellauer. Bei der Fusion der Winterthur mit der CS 1997 sagten Sie wörtlich, es gebe nur Gewinner. Würden Sie dies heute noch so sagen?

Spälti: Nein, das würde ich nicht mehr sagen. Die Grundidee des Zusammenschlusses war gut, auf der obersten Führungsstufe bestand gegenseitiges Vertrauen. Einiges ist aber nicht optimal gelaufen wegen krasser Führungsfehler, vor allem bei der Winterthur. Das Vertrauen bei der Winterthur hat massiv gelitten. Personelle Konsequenzen wurden gezogen, wenn auch spät.

Das Problem lag darin, dass CS-Chef Lukas Mühlemann Winterthur-Chef Wellauer immer gedeckt hat. Beide stammten ja von McKinsey. Der Preis für diese Seilschaft ist hoch.

Spälti: In den letzten zwei Jahren hat sich das Klima bei der Winterthur massiv verschlechtert. Die Glaubwürdigkeit in die Führung war schlecht. Trotz allem: Das Unternehmen wächst, der Brand ist hervorragend positioniert, die operativen Zahlen sind gut, und die Gesellschaft ist klarer Marktleader in der Schweiz. Ob wir das wären, wenn wir in den späten 90er Jahren Martin Ebner in die Hände gefallen wären, bezweifle ich.

Kaum ein Manager kann Fehler eingestehen. Wie sieht es mit der Kritikfähigkeit der heutigen Manager aus?

Spälti: Kritikfähigkeit auf allen Stufen muss in einem Unternehmen gefördert werden. Das verlangt Persönlichkeiten und eine gesunde Streitkultur, ist aber entscheidend für optimale Problemlösungen.

Fehlt die Bereitschaft zu Kritik auch deshalb, weil man sich an den Sitzungstischen sehr gut kennt und niemand dem andern wehtun will?

Spälti: Das muss nicht unbedingt so sein. Die Schweiz hat im Verhältnis zur Bevölkerungszahl überdurchschnittlich viele Grossunternehmen, deren Verwaltungsräte kompetent besetzt werden müssen. Dass es da zu Querverbindungen kommt, ist unvermeidlich.

Als Verwaltungsrat ist man heute mehr denn je öffentlicher Beobachtung ausgesetzt. Dies verkleinert noch einmal das Feld kompetenter Leute. Der Filz wird noch enger.

Spälti: Das Wort Filz ist zu einem beliebten Schlagwort geworden. Nicht alle Querverbindungen in der Wirtschaft sind a priori schlecht. Filz beginnt erst dann zu stinken, wenn er lange Zeit in der Feuchtigkeit gelegen ist. Wenn man alle Beziehungen unterbinden will und auch zwischen Wirtschaft und Politik keine Durchlässigkeit mehr möglich ist, dann wird die Auswahl an fähigen Leuten noch viel kleiner. Und das kann nicht das Ziel sein.

Wie kommt es, dass gerade die Wirtschaftspartei FDP zurzeit in argen Nöten steckt? Besteht ein Zusammenhang mit der Vertrauenskrise in der Wirtschaft?

Spälti: Bei einer Partei, die eng mit der Wirtschaft verbunden ist, wirken sich solche Ereignisse und Exzesse, die wir diskutiert haben, besonders negativ aus. Persönlich glaube ich aber, dass die Probleme der FDP nicht primär mit den negativen Ereignissen in der Wirtschaft zu tun haben, sondern viel früher eingesetzt haben. Man hat auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen zu spät reagiert. Die Homogenität der Partei lässt zu wünschen übrig. Der Druck von rechts wurde nicht bewältigt.

Dazu kommt die innere Zerrissenheit der FDP.

Spälti: Ich würde es eher mangelnde Geschlossenheit und Loyalität nennen. Das zeigte sich nach der Nominierung von Hans-Rudolf Merz, als einzelne Parteimitglieder die Parteileitung kritisierten und sich selber ins Rampenlicht stellten. Das war unwürdig.

Jetzt treten schon frühere Bundesräte aus der Partei aus. Was raten Sie der FDP?

Spälti: Sie muss das Programm selbstbewusster und geschlossener vertreten und kommunizieren. Nötig sind eine klare Abgrenzung nach links und ein Aufhören mit dem Trauma SVP. Und wie in der Wirtschaft müssen Persönlichkeiten, nach aussen klar erkennbar, für die Realisierung des Programms bürgen.

Hat das schwindende Vertrauen in die Wirtschaft die aktuellen Probleme der FDP verschärft?

Spälti: Die FDP hat immer versucht, für die Wirtschaft günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Deshalb machen die negativen Ereignisse in der Wirtschaft gerade einer FDP ihre Aufgabe nur noch schwerer.

Da beisst sich die Katze ja selbst in den Schwanz. Denn die günstigen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft haben die Exzesse erst ermöglicht oder zumindest nicht verhindert.

Spälti: Ich wüsste nicht, weshalb günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, als Grundlage des Wohlstandes dieses Landes, die Exzesse ermöglicht haben sollten. Im Gegenteil, wir brauchen eine starke FDP, die für diese Rahmenbedingungen kämpft.

Trotzdem war die FDP immer mit dabei, als so bedeutende Unternehmen wie Swissair oder Rentenanstalt heruntergewirtschaftet wurden.

Spälti: Das ist so nicht richtig. Viele Vorfälle aus der jüngeren Vergangenheit haben nichts mit der Politik oder der FDP zu tun. Nehmen Sie die Entwicklungen in Unternehmen wie ABB, Zürich, Credit Suisse oder Ascom.

Gerold Bührer verkörperte die Wirtschaftsnähe der FDP. Steht sein Scheitern nicht stellvertretend für die überholte Verbandelung zwischen Politik und Wirtschaft?

Spälti: Ohne Milizsystem kann unser föderalistisch aufgebauter Staat nicht funktionieren, kann auch das vorhandene Wissen aus der beruflichen Tätigkeit für die Politik nicht genutzt werden - und umgekehrt. Es hat übrigens auch einen hohen sozialen Stellenwert.

Führt nicht das Milizsystem zur Ämterkumulation und damit zum helvetischen Filz, der ein entscheidender Bremsklotz der Schweiz ist?

Spälti: Das sehe ich nicht so. Die Erfahrungen aus dem Beruf, die jemand in die Politik einbringen kann, sind nach wie vor sehr wertvoll. Ich würde es viel eher begrüssen, wenn sich mehr Unternehmer in der Politik engagierten. Das würde auch der Wirtschaft sehr gut tun.