Pop-ups inklusive: Migros baut den Supermarkt der Zukunft

Winterwind weht durch die Häuserschlucht, begleitet von Stadtschneegestöber, das bald in City-Pflotsch konvertiert: Zur Adventszeit gibt es eine ganze Menge heimeligere Orte als die Zürcher Europaallee. Aber kaum einen spannenderen Ort für den Schweizer Detailhandel. Am Neubaustrang zwischen Hauptbahnhof und Langstrasse – genauer: auf dem Baufeld D der Europaallee – finalisiert die Migros Zürich ein Projekt, das den gemeinen Supermarkt in die Zukunft katapultieren soll. «Bridge» heisst das Vorhaben, zu dem man in den letzten Monaten zwar da und dort ein paar Info-Nuggets erhaschen, aber nie einen Überblick über das Wesen des neuen Handelsformates gewinnen konnte. Erstmals gibt HZ jetzt Einblick ins Vorhaben «Bridge». Brücke zwischen verschiedenen WeltenBridge wie Brücke? Ja, sagt Projektleiter David Böhler, der seit April 2018 am Konzept arbeitet, «‹Bridge› will die Brücke schlagen vom Supermarkt zur Gastronomie und zum Event.» Weiter sogar noch, bis hin zum Drittpartner. Eine Abkehr von der üblichen Retailer-Denke: Meist sind Supermärkte, egal welcher orangen Macht zugehörig, darauf aus, ihre Flächen und Gestelle mit ihren Eigenmarken und den wichtigsten Markenartikeln zu füllen und damit volle Kontrolle über den ganzen Laden zu haben. Hier geht «Bridge» einen entscheidenden Schritt weiter. Auf den rund 2'000 Quadratmetern Kundenfläche, über zwei Etagen verteilt, kommen auch Fremdmieter sowie temporäre Partner auf sogenannten Pop-up-Flächen zum Zug.Nachhaltigkeits-Ranking Die grössten Schweizer Unternehmen im Vergleich: Migros ist die Nummer 1. Der orange Riese macht Platz frei für kreative Zwerge. Konkret haben im neuartigen Format «Bridge» fünf Drittpartner, die nicht ins orange Reich gehören, ihren festen Auftritt. Da sind zum einen der Zürcher Baguette-König Seri und die Kaffeehelden von Vicafe. Pop-up Flächen für GastromieterDaneben auch Flour & Water für Pizza, die Miteinander GmbH (bekannt von Frau Gerolds Garten) unter dem Label Tokyo Express für japanische Speisen sowie das Unternehmen Smith & Smith mit einem Angebot für, wie Brückenbauer Böhler sagt, «urbane Trinkkultur». Letzteren Infoschluck heben wir uns für den Schluss auf. Gerade bei einem Unternehmen wie der Migros, das eine eigene Industrie hat, die unter anderem für Brot und Kaffee steht, erstaunt es, dass man für diese wichtigen Bereiche auf Drittpartner setzt. Das sei Konzept, sagt Böhler: «‹Bridge› ist ein Lernfeld; mit solchen Kooperationen denken wir über die eigenen Grenzen hinaus.» Das zeigt auch die Rolle der Gastronomie, die etwa die Hälfte der «Bridge»-Fläche einnehmen wird. 320 Plätze in sechs bis sieben Sitzplatzzonen soll der Supermarkt aufweisen. Definitiv über die Grenzen eines üblichen Supermarktes hinaus geht «Bridge» mit einem weiteren Angebot: Produkte wie Fleisch oder Fisch können nicht nur eingekauft, sondern wahlweise auch zubereitet und vor Ort genossen werden. Neue Gastro-Leistungen von Migros-KöchenDas Steak oder die Lachstranche wird also im Laden gegen einen Aufpreis von Migros-Köchen gebrutzelt. Zunächst wollte man diese Leistung per «Bratgeld» verrechnen. Nun wird es so sein, dass man zu Fleisch oder Fisch eine Beilage wählt. In dieser Gebühr ist dann die Gastro-Leistung eingepreist.Gastro-Retail-Hybride im Trend Die Verbindung von Detailhandel und Gastronomie ist weltweit im Trend. Retailer wollen so ihre Läden unverwechselbar machen, Marktatmosphäre kreieren, sich deutlich vom Online- Shopping abheben und die Kundenverweildauer erhöhen. Beispielhaft für solche Gastro-Retail-Hybride steht Eataly. Die italienische Kette, die ihre Schweiz-Expansion abgesagt hat, betreibt weltweit vierzig Läden. Im gehobenen Bereich gilt die Feinschmecker-Etage des Berliner Warenhauses Kadewe als Vorzeigeobjekt. Bezüglich Marktatmosphäre stechen die Londoner Hallen von Mercato Metropolitano sowie diejenigen des französischen Unternehmens Biltoki heraus. Bridge soll als Migros-Laden mit 6'000 bis 8'000 Produkten funktionieren, dies aber ohne M-Budget-Sortiment. Edelkaffee sippen, Gourmetbrot eintüten, sich im Supermarkt das Steak auf den Punkt garen lassen – ein High-End-Biotop für kaufkräftige Züri-Hedonistinnen und Hedonisten only? Bezüglich Positionierung sieht Böhler sein Baby als «unkomplizierten Treffpunkt, was sich auch im Preisniveau widerspiegeln soll». Will heissen: Die Preise der Artikel aus der Migros-Industrie werden zwar die gleichen sein wie in jedem Supermarkt des orangen Riesen. Aber: «Aufgrund unserer starken Ausrichtung auf Nachhaltigkeit und Food-Geschichten ist das durchschnittliche Preisniveau des Konzepts im Vergleich zur Migros leicht erhöht, bleibt jedoch deutlich unter dem Niveau von Premiumanbietern.» «Bridge» soll also für Genuss stehen, den sich jede und jeder leisten kann. Die einen vielleicht etwas öfter als andere. «Bridge» als ExperimentAls Blaupause für die Expansion sieht Böhler den Super-Supermarkt nicht. Ein solches urbanes Konzept funktioniert wohl nur, wenn Lage, Umfeld und Frequenzen stimmen. Als Migros-Lernumfeld könnten bei «Bridge», so Böhler, «Einzelteile davon im Erfolgsfall durchaus multipliziert werden.» Im Idealfall müsste «Bridge» auch am Sonntag brummen. Ob das klappen wird, ist unsicher: Die Sonntagsöffnung werde geprüft, sei aber aktuell nicht möglich, da «Bridge» nicht auf dem Bahnhofsperimeter liege, meldet Migros Zürich. Was sich Retail-Beobachter fragen: Macht es Sinn, in einer Zeit, die von einem gnadenlosen Online-Push geprägt ist, noch in Offline-Läden zu investieren? Böhler ist felsenfest überzeugt: «Freunde treffen, hochwertige Angebote geniessen, vor Ort inspiriert werden – das geht Hand in Hand mit dem Online-Boom. Aber natürlich spielen für uns Heimlieferkonzepte im Bereich Gastronomie wie auch im Retail ebenso eine Rolle.» «Urbane Trinkkultur» von Smith & SmithEin pikantes Element ist der Rayon «urbane Trinkkultur». Prosaischer ausgedrückt: Im «Bridge» kann man Bier, Wein und Spirituosen kaufen und trinken – im Abteil von Smith & Smith, das auch separat betreten werden kann. «Urbane Trinkkultur» gehöre, sagt Böhler, zu einem solchen Projekt «einfach dazu». Den Link zum Alkohol – Böhler legt wert auf den Terminus «Retailer mit integrierter Bar» – findet die Migros auf dem üblichen Weg: Indem sie das Feuerwasser säuberlich vom «orangen M» trennt. Die famose Farbe werde bezüglich Beschriftung und Raumgestaltung keine Rolle spielen: «Das orange M steht nicht sichtbar im Vordergrund – ausser natürlich auf den Produkten der Migros-Industrie in den Regalen.» Ob «Bridge» seine Kundinnen und Kunden findet, ob der Handelskoloss wie gewünscht seine DNS neu interpretieren kann, hängt wohl auch davon ab, wie frei die Kundschaft aufgrund der Pandemie im nächsten Frühling zirkulieren kann. Am 4. März 2021 soll das Tor zur «Bridge» öffnen.