Das Bürohaus in der St.-Galler Innenstadt verströmt den Charme eines vorindustriellen Post-Verteilzentrums. Von der Septembersonne dringt kein Strahl durch die kleinen Fenster ins Innere des Gebäudes. Die Direktionsetage im fünften Stock liegt im Halbdunkel und ist mit Büromöbeln in Beige- und Brauntönen verstellt, die an die Siebzigerjahre erinnern. Auch die paar Angestellten, von denen die meisten in Jeans und Birkenstocksandalen durch die Gänge schlendern, scheinen aus einem anderen Bankenzeitalter zu stammen. Dabei laufen hier, in der Zentrale der Raiffeisen-Gruppe, die Fäden von 1100 Banken und Sparkassen aus der ganzen Schweiz zusammen. Gemeinsam ist man die Nummer drei der Schweizer Banken.

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Zur Raiffeisen-Kultur gehört, dass selbst der Chef auf jeglichen Pomp verzichtet.

Pierin Vincenz (58), einst aufgestiegen im Handelsgeschäft beim früheren Bankverein, empfängt im schlichten Eckbüro. Er trägt ein blaues Hemd ohne Manschettenknöpfe und eine orangebraune Krawatte. Vincenz ist 1,82 Meter gross, braun gebrannt, ein kräftiger Typ mit sportlicher Figur. Mit dem grauen Kurzhaarschnitt und den stahlblauen Augen erinnert er an eine ernsthaftere Ausgabe von Hockey-Trainer Ralph Krueger. Wie dieser spricht Vincenz mit den Händen, formt Kreise, fuchtelt herum. Meist freundlich, aber wenn man ihm widerspricht, wird sein Blick hart.

«In Zukunft», Vincenz fühlt sich im Element, «in Zukunft werden nur noch ganz wenige Banken alles selbst herstellen. Also macht der Entscheid, die Wertschriftenverarbeitung einer verlässlichen Partnerin zu übergeben, Sinn.» Der Raiffeisen-Chef lehnt sich zurück, offenbar befriedigt von dem Gedankengang. Er schaut ins Weite und fährt mit kräftiger Stimme fort: «Ich denke, das Outsourcing wird zum Trend, und wir sind vorne dabei.»

Im Frühsommer beschloss die Raiffeisen-Gruppe eine enge Kooperation mit der Zürcher Privatbank Vontobel. Sie übergibt den Zürchern die Verarbeitung ihres Wertschriftenverkehrs und übernimmt im Gegenzug knapp 13 Prozent an Vontobel. Die Beteiligten sprechen von einer Win-win-Situation: Raiffeisen spart 50 Millionen Franken Informatikinvestitionen, Vontobel zieht einen grossen Kunden für die teure Informatikplattform an Land, die Familie Vontobel wird eine Tranche der eigenen Aktien los.

Der Jubel täuscht. Hinter dem gefeierten Deal steckt ein Befreiungsschlag. Die St.-Galler Raiffeisen-Zentrale wickelt ihre Börsengeschäfte auf einem uralten IBM-Grossrechner ab, mit einer Software namens Boss, die aus den Achtzigerjahren stammt. Bei einem Systemabsturz vor fünf Jahren musste ein Dutzend Spezialisten der Beratungsfirma Price Waterhouse das Problem behelfsmässig lösen. Kostenpunkt: geschätzte fünf Millionen Franken.

Bankenchef Pierin Vincenz war damals direkt involviert. Er wurde Anfang 1997 Mitglied der Geschäftsleitung, verantwortlich für den Handel. Sein Vorgänger Heinz Hedinger, der immer noch für die Raiffeisen arbeitet, erinnert sich: «Ende der Neunzigerjahre explodierten auch bei uns die Wertschriftenumsätze. Dabei wurden uns die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Wertschriftenabwicklungssystems bewusst.»

Nachdem Pierin Vincenz 1999 zum Konzernchef aufgestiegen war, erteilte er den Befehl, ein neues System zu evaluieren. Zur Diskussion stand der Kauf einer Standardlösung oder die Entwicklung einer eigenen Software. Die Zeit verging, entschieden wurde nichts.

Bis letztes Jahr ein Mitarbeiter vorschlug, das Problem der Bank Vontobel zu übertragen, statt sich selbst die Finger daran zu verbrennen. Immerhin kannten sich die zwei Häuser seit langem:

Die Raiffeisen-Gruppe vertreibt seit 1994 Fondsprodukte aus dem Hause der Bank Vontobel.

Doch Vontobel wusste damals selbst nicht, mit welcher Software sie die Zukunft meistern wollte. Zwar hatten die Zürcher schon entschieden, dass sie neben dem Private und dem Investment- Banking das Informatikgeschäft für Drittbanken zum dritten Pfeiler ausbauen wollten. Doch erst vor wenigen Tagen entschieden sie sich für das Paket der Firma Avaloq. Weil inzwischen fast alle Schweizer Privatbanken auf dieses System setzen, drohen Verzögerungen. Dann wären der Raiffeisen-Gruppe die Hände gebunden, sie ist abhängig von Vontobel.

In eine derart ausgeprägte Abhängigkeit haben sich erst wenige Banken gewagt. Von den mittelgrossen Häusern hat nur die Zuger Kantonalbank ihre Wertschriftenabwicklung ausgelagert. Die Mehrheit der Banken dieses Segments will die Kontrolle vorerst in eigenen Händen behalten. Statt aber wie früher teure Eigenlösungen zu entwickeln, kaufen sie Standardprogramme ein. Das macht Sinn: Die Beratungsfirma Booz Allen Hamilton schätzt die jährlichen Ausgaben für Informatik der Schweizer Banken auf neun Milliarden Franken. Das ist der grösste Aufwandposten nach den Personalkosten.

Für Raiffeisen ist mit dem Vontobel-Entscheid noch nichts gewonnen. Sie muss auf ihrem veralteten Computer weiterhin den Zahlungsverkehr abwickeln. «Vincenz würde seinen Zentralrechner am liebsten heute schon abschalten», sagt ein Informatikspezialist, der nicht genannt sein will. Nun räche sich das lange Zuwarten. Mit zusätzlichem Personal versuche Vincenz derzeit, die mangelhafte Informatikleistung zu kompensieren. Tatsächlich schossen die Lohnkosten im ersten Halbjahr 2004 um sieben Prozent in die Höhe. Vincenz verneint einen Zusammenhang. Die Personalkosten lägen «eher unter dem Durchschnitt».

Dass die Zeit drängt, scheint auch Vincenz zu wissen. Als Troubleshooter hat er Barend Fruithof eingesetzt. Dieser ist für die Umsetzung eines Effizienzprogramms verantwortlich. Beide Manager kennen sich aus gemeinsamen Zeiten bei Viseca, der Kreditkartenorganisation der Raiffeisen- und Kantonalbanken. Fruithof war dort Geschäftsführer, Vincenz Verwaltungsrat. Von Informatik, so berichten Weggefährten, verstehe Fruithof allerdings nur wenig. Das würde erklären, warum er als Erstes einen Trupp von Beratern bestellt hat.