Der Geschäftsbericht, das jährliche Zahlenwerk der Unternehmer. Wenigem in der Wirtschaft haftet so viel Traditionelles, Althergebrachtes an: staubtrocken die Geschäftsbereiche und ihre Finanzkennziffern auflistend, abgewogen von pfeilgerade gescheitelten Wirtschaftsprüfern in mausgrauen Anzügen. So die gängige Theorie. Oder besser: das Vorurteil.

Denn erstens war ein Geschäftsbericht, jedenfalls ein guter, schon immer mehr als das. Nämlich ein unterhaltsames Schaufenster für die Aktivitäten der Firma und ihres Personals – und zugleich, so es die Bosse wollen, auch ein aufschlussreicher Blick in das Innenleben der Konzerne, auf den Gesundheitszustand der Firma und die Gehaltszettel ihrer Führungsspitze.

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«Integrierter Report»

Und zweitens kommt aktuell Bewegung ins Berichtswesen: Ein Trend zum Geschichtenerzählen greift um sich, in Texten und vor allem in Bildern. Was haben die Mitarbeiter unseres Unternehmens dieses Jahr Schönes hergestellt, mit welchen Kunden innovative Lösungen ausgehandelt? Man gibt sich transparent und aufgeschlossen, getragen von sympathischen Angestellten, als guter «Corporate Citizen» mit «Social Responsibility» – ein freundliches Gesicht, das auch beitragen soll, beim «War for Talents» die Besten zu überzeugen.

Der Zusammenzug dieser Dimensionen mündet in den «integrierten Report»: einen Geschäftsbericht, der gleichberechtigt neben den wirtschaftlichen auch die ökologischen und sozialen Leistungen (oder Bemühungen) des Unternehmens schildert und deren Zusammenhänge aufzeigt – der neben der Nutzung von Ressourcen auch deren Verbrauch thematisiert.

Geschäftsberichte 2018

Geschäftsberichte bieten einen aufschlussreichen Blick in das Innenleben der Konzerne.

Quelle: Foto ?? Gerry Nitsch

Dritter Sieg in fünf Jahren

So weit, so theoretisch. Ganz praktisch gibt es in der Schweiz einen Grosskonzern, der dieses Konzept am weitesten vorangetrieben hat: der Spezialchemiker Clariant. Die im Baselland beheimatete Abspaltung von Sandoz war bereits in den zurückliegenden Jahren Dauergast in den Top 3 des BILANZ-Geschäftsberichte-Ratings, sogar bereits zweimal Gesamtsieger: in den Jahren 2014 und 2016. Nun, 2018, kann sich Clariant zum dritten Mal innert fünf Jahren die Krone aufsetzen.

Clariant hat sich konsequent auf das integrierte Erzählen ihrer Geschichte ausgerichtet, betitelt den Geschäftsbericht programmatisch «All in One». Er ist gespickt mit Schaubildern und mal mehr, mal weniger verständlichen Grafiken, mit Fotos von Mitarbeitern, die breite «Diversity» signalisieren sollen. Der eigentliche Finanzteil ist auf die Online-Seite ausgelagert, im gedruckten Bericht findet sich nur ein Zahlengerippe.

Clariant Geschäftsbericht 2018

Bescheidenheit im Auftritt kann man Clariant nicht vorwerfen: Einer, der alle Informationen enthält, «All in One», betitelt der Chemiekonzern selbstbewusst seinen Bericht. Trotz kleiner Schwächen im Detail: Das Konzept überzeugt rundum.

Quelle: Gerry Nitsch für Bilanz

Begeisterte Jury

Die Schlussjury zeigte sich dennoch – oder gerade deshalb – begeistert: «Beispielhafte Umsetzung des Konzepts Integrated Reporting» und ein Finanzteil ohne Zahlen, das müsse man erst einmal schaffen, sagt Kommunikationsberater und Dozent Bernhard Schweizer, «ein Bombenbericht mit schönen Fotos» lobt der Kommunikationschef der Allianz Suisse, Hans-Peter Nehmer, zugleich Jurypräsident des Geschäftsberichte-Ratings und Vorstandsmitglied des Schweizer HarbourClub, in dem sich die Kommunikationschefs des Landes vereinigt haben.

Investor-Relations-Experte Michel Gerber freute sich – Stichwort: Less is more – über die kompakten 168 Seiten des Clariant-Reports, und sogar die Vertreter des Instituts für Banking und Finance der Uni Zürich, die als inhaltliches Gewissen über den Gehalt der Berichte wachen, zeigten sich begeistert; Clariant habe ihre Geschichte «sehr gut erzählt». Ein Jurymitglied wollte sich das Werk sogar auf den Nachttisch legen.

Schlussjury Bilanz Geschäftsberichte Rating 2018
Quelle: Gerry Nitsch für Bilanz
Die Schlussjury

(v.l.) Andreas Jäggi, Andreas Jäggi Kommunikationsberatung; Michel Gerber, Präsident IR Club; Jürg Trösch, Gründer, Mitinhaber und Partner Linkgroup; Andy Schneiter, Partner Schneiterpartner; Hans-Peter Nehmer (Juryvorsitzender), Vorstand HarbourClub und Kommunikationschef Allianz Suisse; Dirk Ruschmann, Mitglied der Chefredaktion BILANZ; Bernhard Schweizer, Gründungspartner Sensus Communication Consultants und Dozent an der Hochschule für Wirtschaft Zürich; Martin Hüsler, Senior Equity Analyst ZKB; Sascha Behnk und Roman Schneider, beide Institut für Banking und Finance der Universität Zürich.

Kleine inhaltliche Einwände, etwa dass isolierte Zahlen («13 Prozent Umsatzwachstum in China») ohne absolute Bezugsgrösse oder zumindest Vorjahresvergleich eher schmückend als informierend wirken oder dass der Sprachduktus bei Clariant eher angelsächsischem Selbstmarketing als nüchtern-schweizerischem Tätigkeitsnachweis entspreche, konnten den klaren Sieg des Chemiekonzerns nicht gefährden. Gerade die Kommunikatoren in der Jury, also die eigentlichen «Absender» von Geschäftsberichten, sehen in der integrierten Berichtsform ganz neue Chancen, ihre inhaltlichen Botschaften bei den Stakeholdern, etwa Kleinanlegern, zu platzieren.

Ausgepfeilter Bewertungsprozess

Das Ermitteln der besten Geschäftsberichte folgt keinem unkoordinierten Sammeln von Eindrücken, sondern ergibt sich aus einem ausgefeilten Prozess mit hohem Aufwand. Drei Jurys sind daran beteiligt. Zunächst arbeitet sich die Jury «Value Reporting» unter der Leitung von Professor Alexander Wagner vom Institut für Banking und Finance der Universität Zürich, flankiert von seinen Mitarbeitern Sascha Behnk und Roman Schneider, durch nicht weniger als 230 Geschäftsberichte – die Berichte aller im Börsenindex SPI vertretenen Firmen, ergänzt durch die wichtigsten nicht kotierten. 25 qualifizierte Studierende der Uni Zürich unterstützen die drei Finanzexperten dabei.

 

Geschäftsberichte Rating 2018 Bilanz Jury

Die Schlussjury beugt sich über die besten zwölf Geschäftsberichte und ermittelt die Sieger.

Quelle: Foto ?? Gerry Nitsch

Ziel der Analyse ist, den Geschäftsbericht aus der Sicht potenzieller Investoren auszuleuchten, ob er ein vollständiges und stimmiges Bild des Unternehmens vermittelt und so als Grundlage dienen kann, um einen Investitionsentscheid zu treffen. Zugleich berücksichtigen die Juroren auch die Interessen anderer Adressaten, also der berühmten «Stakeholder»: Kleinaktionäre, Zulieferer, Kunden, Wirtschaftspresse, Hausbank oder Ratingagenturen haben jeweils spezifische Ansprüche an Informationen. Neue Themen wie Nachhaltigkeit haben an Bedeutung in der Analyse gewonnen, und infolge der populärer werdenden Aufteilung des Berichtswesens auf mehrere Publikationen, Print wie Online, bindet die Jury diese Medien zusammen und erarbeitet daraus ein inhaltliches Gesamturteil.

Drei Jurys sind beteiligt

Eine zweite Jury, organisiert von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), bewertet das Design der Berichte. Präsidiert von Jonas Voegeli, mehrfach ausgezeichneter Designer und ZHdK-Dozent, sowie seinem Co-Präsidenten Jiri Chmelik, Creative Director der Agentur Noir, klopft ein gutes Dutzend Hochkaräter der Schweizer Designszene die Berichte auf visuelle Botschaften ab: Wie will sich das Unternehmen darstellen, welche Emotionen auslösen, wie viel Transparenz demonstrieren, welche kommunikativen Inhalte vermitteln – und gelingt das? Auch Aufbau und Benutzerführung, gerade im Internet, fliessen in die Bewertung ein.

Geschäftsberichte Rating Bilanz 2018 Martin Hüsler

Juror Martin Hüsler trägt seine Argumente vor.

Quelle: Foto ?? Gerry Nitsch

Beide Jurys erarbeiten getrennte Ranglisten für Print und Online, die dann rechnerisch zu einem Gesamtranking vereint werden. Die besten zwölf daraus landen gleichberechtigt vor der dritten, der Schlussjury. Sie ist heterogen besetzt mit Vertretern beider Vorjurys, zu denen sich Unternehmenskommunikatoren, Berater, Experten für PR und Investor Relations, ein Finanzanalyst, ein Online-Unternehmer und ein Wirtschaftsjournalist gesellen. Diese Gruppe vertritt die verschiedenen Stakeholder und diskutiert alle Berichte, Online und Print, mit ihren jeweiligen Sichtweisen und Ansprüchen. Einer ausführlichen Diskussion folgen ein Vorentscheid, eine weitere Diskussion und schliesslich die geheime Abstimmung, in der die drei Gesamtsieger ermittelt werden.

Jürg Trösch geschäftsberichte Rating 2018 Bilanz Jury

Juror Jürg Trösch legt seinen Standpunkt dar.

Quelle: Gerry Nitsch für Bilanz

Schmuckloser Aufsteiger

Auf den zweiten Rang arbeitete sich ein Unternehmen vor, das sprachlich für den gegenteiligen Ansatz von Sieger Clariant steht: die Liechtensteinische Landesbank (LLB). Sie erklärt in schmuckloser, nüchterner Klarheit ihre Geschäfte und unterbricht diese Haltung lediglich für eine Reihe von Gesprächen zwischen Bankmitarbeitern und vier «Meistern ihres Fachs», darunter ein Arzt, eine Heilpädagogin und ein Eishockeytrainer, die sich in Sprechblasen-ähnlichen Kurzsätzen über «Exzellenz» austauschen.

Was im gedruckten Format etwas hölzern wirkt, funktioniert online viel besser, dank flüssigem Ablauf und auflockernden Statements in Kurzfilmchen. Dass sich das Topmanagement für die Fotos auf den Corporate-Governance-Seiten um lebhafte Gestik bemühte, vermutlich unter sanftem Druck der Kommunikationsabteilung, ging jedoch leicht daneben. Statt zupackender Kundenansprache spiegelt sich in den Gesichtern eher eine gewisse Ratlosigkeit.

LLB Geschäftsbericht 2018

Nüchterne Sprache, glasklar verständliche Information: für Banken eher eine Ausnahme. Die Liechtensteinische Landesbank schiebt sich mit inhaltlicher und optischer Transparenz auf Rang 2. Lediglich die Dialoge über «Exzellenz» verwirren.

Quelle: Gerry Nitsch für Bilanz

Kraftvolle Gestaltung

Dritter wurde der Baukonzern Implenia, dessen kompakter, mit grossen Fotostrecken garnierter Bericht in Taschenbuchformat insbesondere optisch überzeugte, und zwar sowohl im Print als auch online – in der Teilwertung für das Design belegte Implenia unter allen 230 untersuchten Berichten den zweiten Rang, nur die Immobilienfirma Hiag war hier, einmal mehr Top of Design, noch besser. Und in der inhaltlichen Teilwertung, dem Value Reporting, legte Implenia im vergangenen Jahr viele Plätze zu – könnte allerdings noch besser werden: Der Konzern habe eine Tendenz, bemängelten einige Juroren, finanzielle Risiken aus den Bauprojekten nicht allzu offensiv darzustellen – zu Deutsch: zu beschönigen.

Anderseits gab sich der Konzern keine Mühe, die Machtverhältnisse in der Teppichetage zu verschleiern. Vorne begrüssen ausführlich CEO Anton Affentranger und sein Finanzchef die Leserschaft, der Verwaltungsrat um Präsident Hans-Ulrich Meister zeigt sich erstmals verschämt auf Seite 142. Inzwischen hat Affentranger zwar seinen Rückzug erklärt, aber dennoch wurde offenbar, wer noch im Vorjahr Koch war und wer nur Kellner. So viel – vielleicht unfreiwillige – Transparenz ist begrüssenswert.

Implenia Geschäftsbericht 2018

Implenia legt seit Jahren einen der optisch besten Berichte vor: handliches Format, sauber gestaltet, Bildstrecken erzählen vom handfesten Geschäft des Baukonzerns. Inhaltlich könnte Implenia noch transparenter werden.

Quelle: Gerry Nitsch für Bilanz

Schönheit ist nicht alles

Mit diesem Endresultat haben es zwei Dauergäste in den Top 3 der letzten Jahre dieses Mal nicht aufs Treppchen geschafft: die Swiss Re mit ihrem zweibändigen Report, der Leser in seiner Ausführlichkeit bisweilen überfordert, und der Sanitärkonzern Geberit mit seiner nach Zielgruppen gesplitteten, mehrteiligen Berichterstattung, die den inhaltlichen Hauptteil des Reports nur noch online publiziert. Nicht, dass die beiden schlechter geworden wären – vielmehr haben sich andere, so die Meinung der Jury, schneller weiterentwickelt.

Ausdruck dessen sind neue Namen, die nach oben drängen: Die «Aufsteiger des Jahres», denen besonders grosse Sprünge gelungen sind. Im Design liegt hier die Onlinebank Swissquote zuvorderst, dahinter der Pharmahersteller Siegfried und die Cembra Money Bank. In der inhaltlichen Teilwertung war Siegfried sogar der grösste Aufsteiger und schaffte es somit auch erstmals in die exklusive Gruppe der zwölf besten Geschäftsberichte, aus denen die Schlussjury die Gesamtsieger ermittelt. Ebenfalls einen grossen Schritt vorwärts beim Value Reporting machten die Basler Immobiliengesellschaft Warteck sowie der Zürcher Vermögensverwalter GAM.

Wie viel Spielraum zur Verbesserung es gibt, zeigt einmal mehr die Immobilienfirma Hiag. Sie liegt wie im Vorjahr im Design an der Spitze, beim Value Reporting wegen diverser inhaltlicher Leerstellen jedoch nicht unter den besten 100. Auch beim Geschäftsbericht gilt eben die allgemeine Lebensregel: Ein hübsches Äusseres hilft, ist aber nicht alles. Es kommt nun mal auf die inneren Werte an.

Das komplette Ranking inklusive aller Teilkategorien und der Ergebnisse der Vorjahre finden Sie hier – dort können Sie zudem die Geschäftsberichte als PDF herunterladen.

Dirk Ruschmann
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