Wenige Tage nach seinem 67. Geburtstag sass Rolf Soiron auf dem Lonza-Chefsessel. Geplant hatte er das nicht, und es passte ihm auch nicht. Der studierte Historiker mag keine abrupten Kurswechsel. «Ich tue mich schwer mit radikalen Schnitten», sagt er. Am 25. Januar musste Lonza-Konzernlenker Stefan Borgas gehen, VR-Präsident Soiron übernahm ad interim. Unter Borgas verdoppelte sich der Börsenwert zuerst in knapp vier Jahren – noch schneller halbierte er sich allerdings wieder. Nach der Gewinnwarnung Ende Oktober 2009 hob der VR die Prognosen auf, der Aktienkurs sackte innerhalb eines Tages um ein Viertel ab. Borgas’ Annahmen entpuppten sich als realitätsfremd. Trotzdem schaute der VR weiter zu und handelte erst mehr als zwei Jahre später.

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Wo Soiron das Sagen hat, finden sich ähnliche Schwierigkeiten: schier unendliche Geduld, mangelnde Nachfolgeplanung, alte Verwaltungsräte, schwache Kapitalrendite. Nicht nur bei Lonza. Soiron ist seit 2003 Präsident von Holcim und versäumte es, dort einen Nachfolger für Langzeit-CEO Markus Akermann aufzubauen. Der Zementkonzern hat jüngst einen Externen installiert, den Franzosen Bernard Fontana. Als Heliane Canepa, bis 2007 Chefin von Nobel Biocare, abgesetzt wurde, hievte Soiron flugs Verwaltungsrat Domenico Scala auf den Chefsessel. Und jetzt der Fall Lonza: Borgas wirkte seit 2004. Nach seinem überraschenden Abgang stand kein Nachfolger bereit. Soiron selbst sprang in die Bresche.

Ein Jahr Schonfrist. Soiron ist kein Hauruckmensch. Kontinuität, Stabilität, eine langfristige Linie – das sind seine Leitplanken. «Er schaut voraus, ist sehr überlegt, kann sich zurücknehmen und stellt sich nicht ins Zentrum», lobt ihn der frühere McKinsey-Schweiz-Chef Thomas Knecht, der mit Soiron im Leitungsausschuss des Stiftungsrates der Denkfabrik Avenir Suisse sitzt. Doch knarrt es im Gebälk, bevorzugt Soiron den Status quo. Firmenchefs gewährt er eher eine zweite oder gar eine dritte Chance. Das Trauerspiel um den Dentalimplantatehersteller Nobel Biocare spricht Bände. Der Ränkespiele im VR wurde er nur bedingt Herr. Ausserdem viel zu spät.

Darob vernachlässigte das Gremium seine Hauptaufgabe sträflich: die Aufsicht. CEO Heliane Canepa liess man viel zu lange fuhrwerken. Der kettenrauchende Wirbelwind bolzte Quartalsumsätze ohne Profitüberlegungen. Erst 2007 griff Soiron durch. Er setzte Canepa ab. «Zu spät», sagt er heute selbst. Soiron musste erst die Machtverhältnisse im VR mit den Zuzügen des späteren Firmenchefs Domenico Scala und des heutigen Präsidenten Rolf Watter zu seinen Gunsten zurechtrücken. «This is a joke», sagte Scala nach der ersten VR-Sitzung zum Führungsregime von Canepa. Soiron entgegnete: «No, this is our problem.» Es war der Anfang von Canepas Ende.

Im August 2006 warnte Soiron Canepa schriftlich, dass man ihre Nachfolge plane. Sie erhielt eine Schonfrist von zwölf Monaten – und wirbelte unbeeindruckt weiter. Am Samstag, 28. Juli 2007, schliesslich wurde Canepa die Kündigung zugestellt. Tags darauf musste sie bei Soiron antraben – sie kam nicht alleine. Gatte und FCZ-Präsident Ancillo trat als Stimmungsmacher auf. Beteiligte erinnern sich, dass er «sehr laut» wurde. Die abgesetzte Konzernchefin hielt sich zurück. Sie rauchte. Geplant war der Abgang bereits 2005. Da sie in den Medien hochgejubelt und von der «Financial Times» zu den 25 Topgeschäftsfrauen Europas gekürt worden war, verliess Soiron der Mut, Nägel mit Köpfen zu machen. Ein Fehler, dessen er sich sofort bewusst war. Soiron überlegte sich damals seinen Rücktritt.

Auch bei Lonza liess er seinen Zögling Borgas zu lange an der langen Leine. Im kleinen Kreis heisst es, Verwaltungsrat Richard Sykes – und nicht Soiron – habe auf die Absetzung gepocht. Das würde ansatzweise erklären, weshalb der als Diplomat mit feinem Gespür für Zwischenmenschliches ausgestattete Soiron ungewohnt scharf reagierte. Borgas habe viel versprochen, aber wenig geliefert, warf er diesem vor und kanzelte den geschassten Konzernchef ab mit den Worten: «Liefere statt lafere.»

Der begeisterte Fasnächtler – er spielte früher Piccolo, heute schreibt er Schnitzelbänke – mag auch bei sich keine abrupten Wechsel. Soiron ist der Marathonmann unter den VR-Präsidenten. Bei Holcim tritt er 2013 nach zehn Jahren altershalber ab. Als Nachfolger wird unter anderem der designierte VR Wolfgang Reitzle gehandelt. Bei Lonza amtiert Soiron bereits seit sieben Jahren, bei Nobel Biocare gab er das Amt 2010 ebenfalls nach sieben Jahren ab. Soiron sagt: «Die Dinge brauchen Zeit.» Die Analogie zum Marathon ist ihm wichtig. Er ist Langstreckenläufer, der den Berner Stadtlauf ebenso absolvierte wie den New York Marathon. «Immer unter vier Stunden», betont er.

Loyal und grundehrlich. Hire and Fire ist nicht Soirons Sache. Er gehört zu einer rarer werdenden Spezies unter den Firmenkapitänen, seine Philosophie wirkt angestaubt. Das macht ihn zwar sympathisch, bringt aber Klumpenrisiken mit sich. Wo Soiron präsidiert, dort altern die Mitglieder mit ihm. Die meisten Verwaltungsräte haben, wenn überhaupt noch, graues Haar. Den Ablösungsprozess in Konzernleitung und VR hat er oft verpasst, besonders bei Holcim. Doch Soiron hat gelernt: Beim Zementkonzern holte er letztes Jahr Alexander Gut (48) in den VR, und mit Andreas Leu (44) und Thomas Aebischer (51) stiegen zwei Junge in die Konzernleitung auf. Bei Lonza sind Margot Scheltema (57) und Jörg Reinhardt (56) für den Verwaltungsrat vorgeschlagen. Heute liegt das Durchschnittsalter im VR bei rund 65 Jahren. Als schrittweisen Prozess will Soiron die Erneuerung der Führungsgremien verstanden haben.

Einen sauberen Schnitt macht er selten. Der Grund liegt 20 Jahre zurück. Ein Rückblick: Der junge Soiron lanciert seine Karriere bei der Novartis-Vorgängerfirma Sandoz. Er erklimmt Stufe um Stufe, macht sich schnell einen Namen beim damaligen Firmenchef Marc Moret, geht auf Wanderjahre beim Berner Orthopädiekonzern Protek, der seinem Schwager Maurice Müller gehörte («Hier habe ich meine Vorliebe für Familiengesellschaften entdeckt»), ehe er zu Sandoz zurückkehrt und 1992 zum Chef der Pharmasparte aufsteigt. Der Weg nach oben ist vorgespurt. Doch nach nur einem Jahr endet er abrupt. Moret setzt Soiron, damals im heutigen Alter von Borgas, ab. Die Gründe kennt Soiron bis heute nicht. Das hat ihn geprägt. Das ehemalige CVP-Mitglied sagt: «Ein Abgang muss anständig passieren. Das ist uns bei Borgas gelungen. Wenn er die richtigen Lehren zieht, beginnt ein neues Kapitel für ihn.» Eine Analogie zu Soiron? Er sanierte nach seinem Rauswurf den Zitronensäurehersteller Jungbunzlauer.

Soiron sei ganz Gentleman, sagt ein früherer Lonza-Weggefährte. Er ist kein Blender, sondern eine grundehrliche Haut. Bloss wird er am Ende nicht an seiner Art, sondern an den Zahlen gemessen. Und die sind bei Lonza, Nobel Biocare und Holcim nicht so, wie sie sein sollten. Unter dem Regime Soiron/Borgas stagnierte bei Lonza der Umsatz, Betriebsgewinn und -marge sanken, die Eigenkapitalrendite vekleinerte sich um den Faktor vier. Ob bei Lonza, Nobel Biocare oder Holcim, das Bild ist immer das gleiche: forsche und kapitalintensive Expansion, mickrige Rendite. Sarasin-Analyst David Kägi bilanziert: «Lonza muss ein Augenmerk auf die Kapitalrendite werfen. Es bringt nichts, immer nur zu investieren.» Das haben auch die Aktionäre bemerkt. Seit Soiron 2005 das Präsidium übernommen hat, wurden fast 30 Prozent des Aktionärsvermögens vernichtet. Besser gefahren ist, wer auf den Swiss Performance Index gewettet hat: plus 35 Prozent. Bei Holcim hat der neue CEO explizit die Order, die Kapitalrendite zu verbessern. Unter Soirons Ägide sackte die Rendite auf dem eingesetzten Kapital von 10 auf 6,5 Prozent ab, die Ebit-Marge liegt ein Drittel tiefer, bei Nobel brach diese von 34 Prozent im Jahr 2006 bis zu seinem Austritt (2010) auf knapp 15 Prozent ein. Der Zahnimplantatehersteller krankt noch heute, auch wegen Soirons Beisshemmungen. So verzichtet der designierte Nobel-Präsident Michel Orsinger auf das Amt. Er will sich bloss als VR-Mitglied wählen lassen.

Grossbaustelle Lonza. Ursprünglich bestanden andere Pläne. Im Frühling 2007 kletterte die Aktie durch Canepas aggressive Verkaufsstrategie auf ein Allzeithoch. Soiron und die von der Presse geadelte Konzernchefin sahen die Chance, das Luftschloss Nobel Biocare zu versilbern – die Probleme wären auf einen Schlag elegant gelöst gewesen. Die beiden setzten sich in Washington mit der Konzernführung von Medtronic zusammen und nannten den Minimalpreis. Soiron: «Medtronic dachte nach, reagierte zunächst aber nicht.» Dann zeigten sich die ersten Zeichen der US-Immobilienkrise, der Deal platzte. Kurz darauf übernahm Domenico Scala das Ruder, Soiron nahm drei Jahre später definitiv den Hut. Offizieller Grund: Er wolle mit 65 Jahren wieder mehr Gemeinwohlaufgaben übernehmen, kündigte er seinen Abgang in einem Interview mit der «NZZ» an – vor der offiziellen Mitteilung durch die Firma. Nobel Biocare ist passé, Soirons Bilanz mehr als zwiespältig.

Seine grösste Baustelle bleibt Lonza. Dort steht er in der Pflicht. Lonza strebt 2012 ein «10- bis 15-prozentiges Ebit-Wachstum» an, sagt Soiron. Grosse Würfe wird er nicht lancieren, zumal er bis Mitte Jahr einen neuen CEO präsentieren will. Halbgare Projekte würden den Start seines Nachfolgers behindern. In der Übergangsphase sollen die Auftragsbücher wieder gefüllt und Angefangenes sauber durchgezogen werden. Soiron spricht von «der Konzentration auf das Wesentliche». Der Kurswechsel bleibt aus. Eine Kehrtwende würde den VR diskreditieren. Der hatte die Expansionsstrategie abgesegnet.

Rolf Soiron lässt seinen Managern viel Spielraum. Er wolle nicht aufpassen müssen wie ein «Häftlimacher», sagte er einmal. Bei Avenir Suisse funktioniert das: «Er führt die Sitzungen straff, ist auf das Zeitbudget fixiert, hört den Leuten aber zu und bindet sie stark ein», sagt Thomas Knecht. Auch um einen auflockernden Spruch ist Soiron nie verlegen. «Er kann über sich selbst lachen.» Anlegern dagegen vergeht ob der Performance von Soirons Engagements das Lachen. Bloss die Aktie von Holcim hat unter ihm den Vergleichsindex geschlagen. Eine kürzere Leine wäre manchmal besser gewesen.