Weitgehend unbemerkt von Medien und Politik, erhält die Sozialhilfe in der reichen Schweiz ein neues Gesicht. Diese Verwandlung kommt nicht von ungefähr; dahinter steht auch nicht die harzige Konjunktur allein. Die wahre Ursache liegt am System: am Sozialstaat Schweiz.

Dieser Sozialstaat gibt Geld – und nimmt Geld. Just dadurch kamen die tiefsten Einkommen in den Neunzigerjahren unter den Hammer. Einerseits sind die Löhne beim ärmsten Zehntel der Haushalte um 14 Prozent gesunken, während sie beim reichsten Zehntel der Haushalte um 11 Prozent gestiegen sind. Gleichzeitig litten die ärmsten Haushalte aber besonders an den Zwangsabgaben an den Staat. Insbesondere die Krankenkassenprämien, aber auch die Mehrwert- und andere indirekte Steuern sind massiv gestiegen. Dies am stärksten zu spüren bekamen just die zehn Prozent der ärmsten Haushalte. Bei ihnen sind die Zwangsabgaben um 56,8 Prozent angestiegen – während sie bei den zehn Prozent der reichsten Haushalte «nur» um 22,8 Prozent zulegten.

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All diese Zahlen gelten für die Zeit von 1990 bis 1998, Quelle ist eine Ecoplan-Studie aus dem Jahr 2002, neuere Zahlen gibt es demnächst, aber am Trend dürfte sich nicht viel ändern. Während der berühmte Mittelstand wegen der stetig steigenden Steuern, Abgaben und Gebühren einfach nicht mehr vorwärts kommt, geraten die untersten Schichten in eine bedrohliche Enge. Ihnen bleibt immer weniger Geld übrig für den Konsum; selbst die Krankenkassensubventionen haben diesen Trend nicht umkehren können. Über alles gesehen, sank das verfügbare Einkommen bei den zehn Prozent der ärmsten Haushalte um 15,3 Prozent, während es bei den zehn Prozent der reichsten Haushalte um 12,4 Prozent anstieg.

«Die untere Mittelschicht verarmt», schreibt Carlo Knöpfel, der Chefökonom der Caritas in seinem «Sozialalmanach 2004». An diesem Prozess ist der Staat nicht unschuldig. In Basel hat eine Familie mit zwei Kindern und netto 40 300 Franken eigenem Lohn nach der Miete und allen Transfers mit dem Sozialstaat nur noch 23 000 zur freien Verfügung. Strengt sich diese Familie an und verdient 6500 Franken zusätzlich, muss sie schon wieder 4073 Franken davon an den Staat abgeben. Was soll man dieser Familie raten? Dieses Beispiel ist leider kein Extrem-, sondern der Normalfall.

Nicht diejenigen, die am lautesten über den Steuern klagen – die Reichsten – werden vom Staat am stärksten gerupft. Sondern die Ärmsten.

Verdienen die Einkommensschwachen nämlich zusätzliches Geld, verlieren sie Krankenkassensubventionen. Oder sie zahlen höhere Tarife für die Kinderkrippe, die sehr schnell sehr hoch ansteigen. Nach Scheidungen müssen Frauen, die von Männern auch finanziell allein gelassen werden, höllisch aufpassen, ja nicht «zu viel» zu verdienen, sonst verlieren sie Anspruch auf die Bevorschussung der Alimente. In diesem Fall kann etwas weniger Lohn sogar ein etwas höheres verfügbares Einkommen bedeuten. Solche Anreize nennt man «pervers», aber sie kommen vor. In der Schweiz in mindestens zehn Kantonen, wie eine Studie der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) gezeigt hat.

So etwas demotiviert, so etwas demoralisiert. Immer mehr Leute, die fleissig arbeiten möchten, kommen auf keinen grünen Zweig, im Gegenteil. Was bleibt ihnen übrig, wenn es sich für sie nicht mehr lohnt, nach oben zu streben und zusätzliches Geld zu verdienen? Sie orientieren sich nach unten: an Leuten, die von vornherein Sozialhilfe beziehen, aber oft sogar mehr Geld in der Tasche haben.

Sozialhilfeempfänger haben ein gesichertes verfügbares Einkommen. Auf den ersten Blick scheint dieses zwar nicht besonders grosszügig zu sein: eine alleinstehende Person erhält in der Schweiz 1030 Franken pro Monat, ein Paar mit zwei Kindern 2205 Franken; zusätzlich gibt es je nach Ort noch Zulagen, die sich zwischen 46 Franken (für Alleinstehende) und 342 Franken (für Paare mit zwei Kindern) bewegen.

Lukrativ wird die Sozialhilfe aus einem andern Grund: Mit ihr werden Menschen, wie es umgangssprachlich heisst, «ausgesteuert». Das tönt abschätzig, wird aber in Folge der stetig steigenden Abgaben und Gebühren, die Arbeitende zu zahlen haben, wertvoll. Sozialhilfeempfänger zahlen keine Miete, keine Steuern, keine Prämie für die Krankenkasse, keine Franchise, keinen Selbstbehalt. Auch Zahnarztrechnungen und die Dentalhygiene werden von der Fürsorge übernommen; bei Kindern auch das Ferienlager oder der Musikunterricht.

Summa summarum entspricht der Realwert der Fürsorge bei einer Familie mit zwei Kindern einem Nettolohn von 4300 Franken – mindestens. In Städten wie Zürich, Basel, Genf können es auch über 5000 Franken sein. So gesehen ist das tatsächliche Niveau der Schweizer Sozialhilfe beachtlich hoch.

Als der britische Ethnologe Nigel Barley vom «NZZ-Folio» zu einer Erforschung der «Gnomen von Zürich» eingeladen wurde, fiel ihm Folgendes auf: «Die heutigen Armen verfügen zwar alle über Waschmaschine und Zentralheizung, haben aber trotzdem noch eine ganze Reihe von Herzenswünschen offen, die von Sozialarbeitern zu Bedürfnissen erklärt werden.» Oswald Metzger, Finanzexperte der Grünen in Deutschland, geboren in der Schweiz, stört sich daran, dass die Sozialhilfe «heute bei einem Einkommensniveau» angelangt sei, «das die meisten Volkswirtschaften nicht annähernd kennen». Der Berner Ökonomieprofessor Michael Gerfin ergänzt: «Immer wenn wir an internationalen Konferenzen die Höhe des Schweizer Existenzminimums nennen, ist das Erstaunen gross.» Und der Basler Ökonom Silvio Borner zitiert in seinem neuesten Buch einen «OECD-Index über die Grosszügigkeit der Sozialleistungen», der belegt, dass «die Schweiz mittlerweile zur Spitze aufgeschlossen hat».

Angesichts dieser Generositäten besteht das Wunder darin, dass die Sozialhilfeausgaben insgesamt sehr moderat ausfallen: Sie betragen gut vier Milliarden Franken im Jahr, trotz steilem Aufwärtstrend weniger als ein Prozent des Bruttoinlandprodukts.

Des Rätsels Lösung: Offenbar wissen die meisten Leute nicht, welche Ansprüche sie geltend machen dürften. Es könnten sich viel mehr Leute bei der Fürsorge melden, als es tun. «Noch immer beziehen mehr als die Hälfte der unter der Skos-Armutsgrenze lebenden Personen keine Sozialhilfe», heisst es in einer Studie des Berner Büros Bass. «Der Hauptgrund liegt in der grossen Hemmschwelle, Sozialhilfe zu beantragen.» Die Stigmatisierung wird damit quasioffiziell: «Gottlob», seufzt Christine Spoerry, FDP-Sozialvorstand im Bezirk Meilen an der Zürcher Goldküste, «gottlob melden sich nicht alle Leute.»

Der Prozess könnte allerdings erst in Gang kommen. Zum Beispiel in Uster ZH: Ein Mann arbeitet 100 Prozent, bringt 3800 Franken netto heim, seine Frau betreut die drei Kinder und arbeitet nicht. Diese Familie hat Anrecht auf Sozialhilfe: Zählt man nämlich das Existenzminimum (für Essen, Kleider usw.), die Miete und die Gesundheitskosten zusammen, bleibt ein grosser Rest übrig, der nicht gedeckt ist. Gemäss einem offiziellen Rechenbeispiel der Behörden bekommt diese Familie etwas mehr als 2200 Franken von der Sozialhilfe, damit sie am Ende etwas mehr als 6000 Franken zur Verfügung hat.

Je länger diese Art Verarmung der unteren Mittelschicht andauert, umso eher sind die Betroffenen vom staatlichen Angebot informiert. «Habe ich Anspruch auf Sozialhilfe?», lautet ein kurzes, verständliches Büchlein der Zeitschrift «Beobachter». In den letzten zwei, drei Jahren kam es auf dem Sozialamt der Stadt Zürich zu einer «Explosion der Fallzahlen», wie sie die langjährige Sozialdirektorin Monika Stocker «noch nie» erlebt hat. Der Caritas-Ökonom Carlo Knöpfel spricht bereits von den Grenzen der Sozialhilfe: «Gedacht als überbrückende Hilfe in individueller Not, muss die Sozialhilfe immer mehr Leistungen erbringen, die von Dauer sind. Die Sozialhilfebeiträge nehmen damit den Charakter von Taggeldern oder gar Renten an.»

Wird das Fürsorgegeld zur Rentenzahlung, schnappt aber eine Falle zu: die Armutsfalle, aus der die Leute selber kaum mehr herauskommen. Findet eine Person, die Fürsorge bezieht, eine Arbeit, darf sie vom Lohn nur gerade die ersten 250 Franken behalten; den ganzen Rest muss sie abgeben, als Kompensation für die grosszügigen Grundleistungen der Fürsorge.

In der Folge treibt die Sozialhilfe die Leute entweder in die Schwarzarbeit oder in die Resignation. «Hier kann schon die Frage auftauchen, ob man wegen 250 Franken pro Monat überhaupt noch arbeiten soll», weiss Ralph Lewin, SP-Regierungsrat in Basel-Stadt. Drastisch sagt es Hans-Werner Sinn, der Leiter des Ifo-Instituts in München: «Ein Sozialhilfeempfänger kann schwarzarbeiten, fernsehen, Bier trinken, randalieren, Neonazi spielen, Bauchtanz gucken oder sich sonst wie betätigen. Nur regulär arbeiten, das darf er nicht.»

Monika Stocker, Sozialvorstand der Stadt Zürich, Mitglied der Grünen, argumentiert erstaunlich ähnlich: «Heute honorieren die sozialen Sicherungssysteme immer noch vielfach, dass ich mich nicht bewege, dass ich nicht flexibel bin, dass ich verharre.» Sie schlug in ihrer Schrift «Lernen aus den 90er Jahren» einen eigentlichen Paradigmawechsel vor: Das Kausalitätsprinzip, wonach eine Person eine Leistung erhalte, weil sie zu wenig eigenes Einkommen habe, solle ergänzt werden durch das so genannte «Finalitätsprinzip»: «Jemand erhält Leistungen, damit er sich neu orientieren kann, eine zweite Chance bekommt, eine flexible, individuelle massgeschneiderte Zielerreichung möglich wird.» Kürzer kommentierte dies Bill Clinton: «Sozialhilfe ist eine zweite Chance, nicht ein Lebensstil.»

Strenge Ökonomen möchten das Prinzip der Sozialhilfe am liebsten total umkehren. Man solle den Leuten mit wenig Einkommen nicht den Lohn ersetzen, sondern ihn ergänzen, meint etwa der Deutsche Hans-Werner Sinn. Wie im angelsächsischen Raum sollten die Leute erst dann Geld vom Staat erhalten, wenn sie selber einen Beitrag leisten. «Die Devise muss sein, dass jeder, der es kann, nach seiner Kraft arbeitet, dass aber der Staat denen, die dabei nicht genug verdienen, eine Sozialhilfe hinzuzahlt, die so bemessen ist, dass in der Summe aus Sozialhilfe und selbst verdientem Geld der Sozialstandard der Gesellschaft erreicht wird.» Oder etwas kürzer und prägnanter: lieber ein Mc-Job als kein Job.

Auf die Schweiz übertragen, hiesse das: Wir brauchen Tausend-Franken-Jobs. Wer die ersten 1000 Franken selber verdient, darf diese nicht nur voll behalten, sondern er wird vom Staat belohnt und erhält weitere 1000 hinzu, hat also 2000 Franken. Wer 1500 Franken selber verdient, bekommt vom Staat noch 800 Franken und erreicht damit 2300 Franken. Bei 3000 Franken Lohn gibt es noch 200 Franken vom Staat, ab 3500 eigenem Lohn nichts mehr. Das ist ein Anreiz für alle, sich selber anzustrengen. «Nur wer sich selbst nicht helfen kann – wegen Krankheit oder Alter –, erhält die entsprechende Hilfe ohne Gegenleistung», meint der deutsche Grüne Oswald Metzger.

Damit würde man die Leute ganz unten endlich ganz anders behandeln: Sie müssten nicht länger schwarzarbeiten, im Gegenteil. Sie müssten beweisen, dass sie auf irgendeine Art fähig sind, 1000 Franken zu verdienen, notfalls mit Putzen, Servieren, Kinderhüten, Rasenmähen, Hundehüten, Kellerräumen und anderen einfachen Dienstleistungen. Dieser minimale Einsatz würde von der Gesellschaft aber flugs honoriert – mit Sozialgeld. Wer eine Leistung bringt, wird belohnt.

In der Schweiz liegen solche Gedanken noch völlig quer in der Landschaft. Carlo Knöpfel von der Caritas spricht von Lohnsubventionierung, was zu gefährlichen Verzerrungen führe: Ganze Branchen wie das Gast- oder Baugewerbe würden ihre Leute dann direkt in die Sozialhilfe einweisen. Inzwischen fordern zwar einige Politiker wie der Zürcher Regierungsrat Ruedi Jeker «mehr Anreiz- und Sanktionsmöglichkeiten». Doch die harte angelsächsische Tour – wer nichts tut, bekommt nichts – will niemand. Hier zu Lande wird das Niveau der Sozialhilfe selbst vom Arbeitgeberpräsidenten Peter Hasler zum Tabu erklärt: «Die Fürsorge kommt den Ärmsten zugute, das dürfen wir nicht in Frage stellen», meinte er kürzlich an einer Podiumsdiskussion in Herrliberg an der Zürcher Goldküste.

Mit dieser abwehrenden Haltung von links bis rechts wird das Problem der neuen Armut unlösbar. Bleiben die Ansätze der Schweizer Sozialhilfe so hoch, wie sie sind, kann die Eigenleistung gar nicht richtig honoriert werden. «Sonst steht die Sozialhilfeempfängerin mit etwas eigenem Verdienst schnell besser da als eine Migros-Verkäuferin, die sich ohne Fürsorge durchschlagen möchte», weiss Skos-Präsident Walter Schmid, der verhindern will, dass sich bald auch noch der normale Mittelstand bei der Sozialhilfe anmeldet. Gleichzeitig bezeichnet Walter Schmid die Forderung nach einer «1000-Franken-Job-Bedingung», um überhaupt Anspruch auf Sozialhilfe zu erhalten, als «zynisches Gefasel»: «Viele Menschen finden keine Jobs, Anreiz hin oder her.»

Der Publizist Beat Kappeler kontert dazu in der «NZZ am Sonntag» trocken: «Jene, die alles beim Alten belassen, die Armen beim Arbeiten bestrafen und die Sozialsysteme langsam, aber sicher unglaubwürdig machen, sind offenbar moralisch bessere Menschen.» Konkret präsentiert sich die Zukunft damit so: Immer mehr Niedrigverdiener sollten sich dringend darüber informieren, ob sie nicht Anrecht auf Sozialhilfe hätten. Lautet die Antwort ja, können diese Leute ihr Pensum getrost auf 250 Franken Lohn herunterfahren. Mehr lohnt sich nicht.

Literatur:

  • Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten? Econ Verlag, 2003.
  • Ecoplan (Hrsg.): Globalisierung und die Ursachen der Umverteilung in der Schweiz. Schlussbericht im Auftrag des Seco, Bern, 2002.
  • Carlo Knöpfel: Sozialalmanach 2004. Caritas-Verlag, 2003.
  • Toni Wirz, Charlotte Alfirev-Bieri: Habe ich Anspruch auf Sozialhilfe? Beobachter Buchverlag, 2003.

BILANZ-Serie: Irrtümer der Wirtschaftspolitik

Bisher erschienen sind:

  • Irrtum Nr. 1: Die Ausländer nehmen uns die Jobs weg (BILANZ 3/2004)
  • Irrtum Nr. 2: Der Staat fördert das Wohneigentum (BILANZ 4/2004)
  • Irrtum Nr. 3: Die Inflation muss null Prozent betragen (BILANZ 5/2004)