Anfang 2010 kaufen die Sonova-Manager in den USA den Hörgerätebetrieb Advanced Bionics (AB) hinzu. Die Vorfreude auf neue Geschäfte ist gross.

16. November 2010

Sonova-Chef Valentin Chapero und Finanzchef Oliver Walker präsentieren blendende Halbjahreszahlen für das Geschäftsjahr 2010/11: «starke Verkäufe», «solides Wachstum» und «solide finanzielle Performance». Eine Nachrichtenagentur feiert die Resultate: «Der Hörgerätehersteller aus Stäfa ZH hat im ersten Semester des Geschäftsjahres 2010/11 so viel umgesetzt und verdient wie noch nie zuvor. Auch die Zukunft sieht gut aus: Für das Gesamtjahr peilt Sonova ein weiteres Spitzenergebnis an.»

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Chapero gibt sich erfreut über den noch frischen Kauf des US-Unternehmens Advanced Bionics, dessen Umsatz er in den nächsten drei bis fünf Jahren verdoppeln will. Die Tochter produziert Cochleaimplantate – Hörprothesen für Patienten, die mit herkömmlichen Hörgeräten nicht oder nicht ausreichend versorgt werden können, deren Hörnerv aber noch funktioniert.

Der 54-jährige Physiker, verheiratet und Vater von vier Kindern, hat in Stäfa seit 2002 das Sagen. Chapero nennt sich «Secondo»: Er ist als Sohn spanischer Eltern in Deutschland aufgewachsen und begann seine Karriere bei der Hörgerätesparte von Siemens.

23. November

Nur eine Woche später schockiert Sonova die Aktionäre mit der Nachricht über einen Produktrückruf: Das AB-Implantat HiRes 90K, das bei 28 000 Patienten eingepflanzt ist, wird von der US-Tochter vom Markt genommen. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA wird unterrichtet. Der Grund: Bei zwei Patienten verursachte das Gerät starke Schmerzen, Schockempfindungen und laute Geräusche, sodass es operativ entfernt werden musste.

An der Schweizer Börse stürzt die Sonova-Aktie ab und erholt sich am Folgetag wieder. Chapero bricht seine Investoren-Roadshow ab und kehrt ins Büro nach Stäfa zurück. Er beruhigt die Aktionäre, Sonova habe in dieser Frage eine «Null-Toleranz-Haltung». Auch börsenrechtlich handelt Sonova korrekt: Die kursrelevante Tatsache wird korrekt publiziert.

3. Dezember

Chapero beziffert die ökonomischen Folgen des Rückrufs moderat. «Ich finde die Schätzung, dass unser Umsatz um rund vier Prozent reduziert wird, realistisch», erklärt er gegenüber der BILANZ. «Beim Ergebnis geht es um rund 40 bis 45 Millionen Franken.»

14. Dezember

Die Schweizer Wirtschaftsjournalisten mögen den lockeren und zugänglichen Chapero. Sie wählen ihn auf Rang 10 der Unternehmer des Jahres. In der Vorweihnachtsausgabe des Anlegermagazins «Stocks» lässt er die Rückrufaffäre Revue passieren: «Die gesamte Information wurde verdaut, es fand keine panische, sondern eine vernünftige Reaktion statt.»

12. Januar 2011

Ein nicht exekutiver Sonova-Verwaltungsrat verkauft für 705 000 Franken Optionen, die er mit einem Vergütungsprogramm erhalten hat. Ein zweiter nicht exekutiver Verwaltungsrat verkauft gleichentags Sonova-Aktien im Wert von 1,4 Millionen Franken. Einen Tag später verkauft auch ein Geschäftsleitungsmitglied Optionen für 117 500 Franken.

14. Januar

Chapero und Walker präsentieren vor Investoren erneut ihre Zahlen. Sie sehen bei stabilen Marktkonditionen weiterhin ein organisches Wachstumspotenzial für das Gesamtjahr 2010/11 in Lokalwährungen von acht bis zehn Prozent. Der Ausblick für die Ebita-Marge wird mit rund 26 Prozent bestätigt. Das Marktwachstum, gerechnet in Einheiten, wird weiterhin bei vier bis fünf Prozent gesehen. Vor allem die neuen Produktserien Spice und Ambra würden diese Erfolgserwartung sichern.

27. Januar

Ein Konzernleitungsmitglied löst aus seinem Vergütungspaket rund 97 000 Franken für Optionen.

3. Februar

«Wir kennen jetzt das Problem», erklärt Chapero der «Handelszeitung». «Schuld an den Komplikationen war nicht ein Konstruktionsfehler, sondern ein sehr rarer physikalischer Effekt.» Er sehe die Sache wieder «sehr entspannt», zumal sich keine weiteren Patienten mit Beschwerden gemeldet hätten. «Es kann sein, dass wir schon im April zurück auf dem Markt sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass es bis zum Herbst dauert, wird zunehmend geringer», sagte er.

Die «Handelszeitung» kritisiert dennoch: «Wie viele Millionen der Rückruf Sonova kosten wird, ist noch nicht absehbar. Genauso wenig, wann die mächtigen Zulassungsbehörden in den USA und Europa über den Fall entscheiden werden.» Die Aktionäre hingegen stimmt die Erklärung des Sonova-Chefs milde, der Aktienkurs steigt um 4,2 Prozent. Intern ist die Stimmung offenbar anders: Am Tag, an dem dieses Chapero-Interview erscheint, stösst ein Konzernleitungsmitglied für rund 337 000 Franken Optionen aus seinem Vergütungsprogramm ab.

In den folgenden Februartagen erfahren die Sonova-Manager, dass der Verkauf keineswegs wie erwartet läuft. An der jährlichen Budgetkonferenz werden die führenden Kaderleute darüber orientiert, dass die geplanten Umsatzzahlen nicht erzielt werden. «Die Parole an den Aussendienst hiess: Verkauft, was ihr könnt», berichtet ein Mitarbeiter gegenüber der «NZZ am Sonntag» über dieses Meeting. Die Konzernleitung sei täglich über die wichtigsten Verkaufszahlen im Bilde: «Für 80 Prozent unserer weltweiten Umsätze liegen die Zahlen des Vortags am Morgen auf dem Tisch.»

28. Februar

Drei Konzernleitungsmitglieder stossen für gesamthaft rund 1,8 Millionen Franken Optionen ab, die sie aus einem Vergütungsprogramm erhalten haben und die bei einem Kurs von 95.05 Franken verfallen. Wenn die schlechten internen Nachrichten im Markt bekannt werden, ist das Erreichen dieser Schwelle denkbar. Diese Optionen waren zu diesem Zeitpunkt bereits etwa ein Jahr verfügbar. Haben die betreffenden Manager Insiderwissen ausgenutzt?

1. März

An diesem Tag werden Optionen aus einem Vergütungsprogramm frei. Mitglieder aus der Geschäftsleitung verkaufen in zwölf Transaktionen Optionen im Wert von rund drei Millionen. Eine an diesem Tag frei werdende Optionentranche von genau 206 250 Stück stammt offensichtlich von Sonova-Finanzchef Oliver Walker, der 2009 als Einziger so viele Optionen aus diesem Programm erwarb. Er hätte mehr als 250 000 Franken verloren, wenn er die Optionen erst nach dem Absturz der Sonova-Titel verkauft hätte. Glück oder Ausnützen von internem Wissen? Die Aufträge für diese Transaktionen wurden möglicherweise lange vorher – noch ohne Kenntnis schlechter Zahlen – auf diesen Fälligkeitstermin hin gestellt.

2. März

Die institutionelle US-Investorin FMR LLC aus Boston, Teil der Fidelity-Gruppe, reduziert ihr Engagement ebenfalls. Sie gibt bekannt, dass ihre Anteile an Sonova an diesem Tag unter die Drei-Prozent-Marke gefallen seien. Gleichentags werden wieder zehn Transaktionen mit Optionsverkäufen von Konzernleitungsmitgliedern getätigt. Das Volumen beträgt mehr als 2,5 Millionen Franken. Bis zum 11. März folgen an nahezu jedem Börsentag weitere Verkaufstransaktionen im Umfang von gesamthaft 2,3 Millionen durch Manager. Die Höhe der Einzeltransaktionen lässt darauf schliessen, dass darunter auch Titelverkäufe von Sonova-Chef Chapero und Konzernleitungsmitglied Hans Mehl sind, welcher der einzige Aktienbesitzer in der Geschäftsleitung ist.

7. März

Konzernchef Chapero erklärt im «Wall Street Journal» die Folgen des Geräterückrufs: «Das Problem hat uns ein Jahr gekostet.» Aber zwischen April und Herbst werde man mit dem Produkt wieder auf den Märkten sein.

8. März

Der Firmengründer und VR-Präsident Andy Rihs verkauft 300 000 Aktien im Wert von 37,5 Millionen Franken. Er wird später erklären, dass er seinem Vermögensverwalterbüro schon Wochen zuvor den Auftrag erteilt habe, das Aktienpaket zu verkaufen, wenn sich ein Käufer finde. Er brauche das Geld unter anderem für den Bau einer Velofabrik in Grenchen, betont er. «Der Verantwortliche meines Family Office sagte mir schon vor längerem, dass wir aktuell erneut einen Finanzbedarf haben.» Er selbst war an diesem Tag des Deals nicht anwesend, sondern auf dem Weg von Frankreich nach Italien, wo am folgenden Tag sein Radrennteam BMC an der Etappentour Tirreno–Adriatico startet.

10. März

Während die zweite Etappe des Velorennens in die Umgebung von Arezzo führt, erhalten die Verwaltungsräte per E-Mail die Februar-Zahlen. «Ich habe sie nicht sofort gesehen, weil ich ausser Landes war», erklärt Rihs später – demnach liest oder empfängt er auf seinem Smartphone wichtige E-Mails nicht oder nicht täglich. Bis zu diesem Tag haben Manager mit gesamthaft 34 Transaktionen an acht Börsentagen Sonova-Titel für mehr als zehn Millionen verkauft. Verwaltungsrat und Konzernleitung versäumen es, eine sofortige Gewinnwarnung zu veröffentlichen. Das Publikum handelt an der Börse weiterhin ahnungslos.

12. März

VR-Präsident Rihs erhält – nach seiner Erinnerung an diesem oder am folgenden Tag – von Verwaltungsrat Robert Spoerry einen wichtigen Anruf. Spoerry informiert ihn über die schlechten Februar-Umsätze.

16. März

Sonova publiziert eine Gewinnwarnung: 65 Millionen Franken Umsatzverlust durch den Rückruf und 40 bis 50 Millionen bei den Hörgeräten. Für den Kauf von Advanced Bionics müssten 150 bis 200 Millionen abgeschrieben werden. Die Gründe: «Der bereits bekanntgegebene Rückruf, ein verzögertes Umsatzwachstum bei den konventionellen Hörgeräten und negative Währungseinflüsse.»

Einer Nachrichtenagentur fallen die massiven Transaktionen der Manager auf, darunter die Einzeltransaktion über 37,5 Millionen. Sonova-Sprecher Holger Schimanke erklärt dazu, dass sich das Unternehmen strikt an Blackout-Perioden halte, während deren Manager mit Insiderkenntnissen keine eigenen Titel handeln dürften. Die gehäuften Verkäufe der letzten zwei Wochen erklärte er mit dem Auslaufen bestehender und dem Anlaufen neuer Optionsprogramme. Typischerweise komme es dann zu gehäuften Verkäufen. «Wir haben erst kurzfristig gewusst», sagt Schimanke, «dass eine Gewinnwarnung nötig wird. Sobald wir das sahen, haben wir rasch reagiert und sind mit der Nachricht so schnell wie möglich raus.»

Entgegen der Darstellung Schimankes erklärt Interims-Chef Robert Spoerry heute: «Es gab kein Handelsverbot.» Schimanke ist als Investor-Relations-Chef für die korrekte und gleichberechtigte Information aller Aktionäre verantwortlich. Erst aus den Medien habe der VR, so erklärt Spoerry, von den Managertransaktionen erfahren. Sofort wird ein Krisenausschuss unabhängiger VR-Mitglieder gebildet.

17. März

Der VR-Krisenausschuss erteilt der Zürcher Anwaltsfirma Homburger den Auftrag, den Fall zu untersuchen. Die Homburger-Juristen unter der Leitung des Börsenrechtlers Daniel Däniker untersuchen rund 20 000 E-Mails und befragen zahlreiche Manager. Beschlagnahmen und durchsuchen dürfen sie nicht, ihre Auftragsuntersuchung ist keine strafrechtliche Ermittlung. Der Verwaltungsrat verzichtet darauf, die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Während dieser privatrechtlichen Untersuchungsphase können daher wichtige Beweismittel verschwinden. Sonova-Sprecher Holger Schimanke lässt über die Untersuchung nichts verlauten. Er erklärt zu den auffälligen Transaktionen: «Alles ist im ganz normalen Bereich.»

30. März

Sonova veröffentlicht die Ergebnisse der Homburger-Untersuchung. Die enttäuschenden Februar-Zahlen seien der Geschäftsleitung «ansatzweise schon Anfang März» bekannt gewesen. Daher sei die Gewinnwarnung eine Woche zu spät ergangen und der VR zu spät orientiert worden. Chapero und Walker hätten es versäumt, eine Handelssperre für die Manager einzurichten.

Rihs tritt als VR-Präsident zurück. Er betont, dass er nicht mit Insiderwissen gehandelt habe. Das sei nicht seine Art, und er habe das auch nicht nötig. Er hat dem Käufer, einem Kunden der Zürcher Bank am Bellevue, das Aktienpaket wieder zum alten Preis abgekauft und damit dessen Schaden wieder gutgemacht, der mehr als zehn Millionen Franken betrug. Chapero und Walker treten zurück – ohne Abgangsentschädigung. Innert sieben Jahren hat Chapero mehr als 40 Millionen in bar und in Optionen vergütet bekommen. Mehr als zwei Milliarden Börsenwert wurden vernichtet. Die Börse untersucht den Fall. Die Staatsanwaltschaft Zürich prüft die Aufnahme einer Strafuntersuchung (siehe «Ein Gesetz feiert die Premiere» unter 'Nebenartikel').

Der neue, interimistisch berufene Sonova-CEO Alexander Zschokke und der neue Finanzchef Paul Thompson haben ebenfalls vor der Gewinnwarnung Optionen verkauft. Ihre Deals wurden allerdings von den untersuchenden Anwälten als unbedenklich betrachtet, unter anderem weil sie ihre Aufträge schon lange vorher erteilt hatten, als sie noch über keine kritischen Informationen verfügten. Anwalt Däniker erklärt: «Beide haben uns mitgeteilt, dass sie in gutem Glauben handelten.» Andy Rihs nimmt noch einmal an einer Telefonkonferenz für Analysten teil. Er wird nicht mehr gefragt, und er sagt kein Wort.