Ehrfürchtig blicken die welschen Journalisten zu ihr auf. Die «eiserne Lady» sei eine geniale Macherin mit «Macht im Blut». Nach der angekündigten Demission von Bundesrätin Ruth Dreifuss ging ein neuer Stern am pechschwarzen Schweizer Polithimmel auf: Micheline Calmy-Rey.

Die 57-jährige Sozialdemokratin gebietet seit fünf Jahren über die Finanzen des Kantons Genf und hat sich tatsächlich ein Denkmal gesetzt. Kein anderer Kanton der Schweiz betreibt eine so soziale Steuerpolitik wie Genf. Familien mit kleinen Einkommen zahlen fünfzigmal weniger Steuern als im schweizerischen Durchschnitt. Zwischen 1996 und 2001 hat Genf die Verheirateten mit tiefen Löhnen um über 46 Prozent entlastet. Topverdiener und Vermögensmillionäre werden dagegen geschröpft. Bankiers und Spitzenmanager mit einem Einkommen von einer Million Franken werden am Finanzplatz Genf schweizweit am höchsten besteuert. Wer ein Vermögen von zwei Millionen besitzt, wird nur in Basel-Stadt noch mehr zur Kasse gebeten. Für Entrepreneure ist die finanzstarke Metropole ohnehin ein hartes Pflaster: Genf weist bei den juristischen Personen im Jahr 2001 die zweithöchste Steuerbelastung der Schweiz auf.

Für die Linke im Land gibt es, nimmt man ihre Steuerpolitik als Massstab, keine idealere Bundesrätin als Calmy-Rey. Das Kapital, die Manager und die Reichen hoch besteuern, die kleine Leute vor dem Fiskus schützen – mit ihrem Genfer Steuermodell hat sie bewiesen, welch politische Gestaltungskraft Finanzminister hier zu Lande entwickeln können, wenn die Geldquellen wie in den letzten Jahren kräftig sprudeln. Nichts ist schöner als umverteilen!

Allerdings relativiert Calmy-Rey mit ihrer eigenständigen Steuerpolitik auch eine These aus dem Repertoire sozialdemokratischer Gesinnungsethik, wonach nur die finanzkräftigen Kreise vom Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen profitieren. Einzig eine materielle Steuerharmonisierung schafft Steuergerechtigkeit – diese alte Platte hat die SP denn auch bei der Beratung des Neuen Finanzausgleichs während der Herbstsession im Ständerat neu aufgelegt. Bei Licht besehen, ist die Schweiz eindeutig sozialer und solidarischer geworden. So ist 2001 die Steuerbelastung durch Kantons-, Gemeinde- und Kirchensteuern gegenüber dem Vorjahr insgesamt erneut gesunken, am spürbarsten jedoch bei den tiefen Einkommen. Nicht nur die Steuerparadiese Zug und Schwyz erweisen sich gegenüber den Kleinverdienern als ausgesprochen grosszügig, sondern auch Baselland und das Tessin. Bern und der Aargau haben im Zeitraum von 1996 bis 2001 bei den tiefen Einkommen die Steuern um über 30 Prozent reduziert, allesamt keine links regierten Kantone. Politiker aller Couleurs wissen nur zu gut, dass das Stimmvolk über ein waches Steuergerechtigkeitsempfinden verfügt.

Der Bund zwingt die Kantone mit der Reform der Ehepaar- und Familienbesteuerung ohnehin, in Zukunft das Existenzminimum steuerlich freizustellen. Er selber wird die Gruppe der Nullsteuerzahler bei der direkten Bundessteuer verdoppeln: Heute sind 17 Prozent der Steuerpflichtigen von der Last der direkten Bundessteuer befreit, in Zukunft mehr als ein Drittel. «Die Steuerbelastung für Personen mit niedrigem Einkommen hält sich im Rahmen», urteilt denn auch der Bundesrat.

Allerdings gibt es noch immer einzelne schreiende Ungerechtigkeiten, deren Ursache in den höchst unterschiedlichen kantonalen Belastungsspannen liegt. Ein besonders extremes Beispiel ergibt sich bei einem Vergleich zwischen Freiburg, der schlimmsten Steuerhölle mit Ausnahme des Juras, und dem fünftgünstigsten Kanton der Schweiz, Zürich. Logischerweise müsste ein Steuerzahler an der Sarine mehr abliefern als sein gleich situiertes Pendant an der Limmat. Mitnichten. Ein Lediger, der ein stolzes Bruttoarbeitseinkommen von einer halben Million Franken bezieht, zahlt in Bulle, Marly oder Villars-sur-Glâne erstaunlicherweise weniger als in Zürich, Dübendorf oder Männedorf. Muss er jedoch mit einem bescheidenen Lohn von 30 000 Franken auskommen, knöpft ihm der Fiskus in Kerzers oder Romont nicht weniger als doppelt so viel ab wie in Zollikon oder Zumikon.

Der Fiskus ist eben kein gerechter Gott, und er straft mitunter willkürlich. Besonders geschädigt ist: wer einen guten oder sehr gut honorierten Job ausübt und sich mit einer Zwei-Kinder-Familie im Jura oder in Neuenburg niedergelassen hat; wer als Rentner mit mittleren bis sehr hohen Bezügen gezwungen ist, in Bern den Lebensabend zu verbringen; wer als Verheirateter ohne Kinder ein Reinvermögen zwischen 150 000 und 600 000 Franken besitzt und in Freiburg lebt. Und wer ledig ist und in der Westschweiz wohnt.

In Zukunft wird es ohnehin gerechter zu- und hergehen. Gleich mehrere Projekte laufen, die Steuerunterschiede zwischen den Kantonen einzuebnen. Die Nationalbank schüttet nächstes Jahr eine Milliarde Franken mehr Gewinn aus. Ein Drittel erhält der Bund, zwei Drittel fliessen aufs Konto der Kantone. Nachdem die AHV-Goldinitiative und der Gegenvorschlag am 22. September an der Urne gescheitert sind, wittern die Kantone Morgenluft, dass dieser für sie ausgesprochen günstige Schlüssel auch bei der Verteilung des überschüssigen Nationalbankgoldes angewendet wird. Die Walliser, wegen ihrer hohlen Hand in Bern gefürchtet, jubilieren bereits auf Vorschuss: 2003 erhalten sie angesichts ihrer notorischen Finanzschwäche besonders viel Geld aus der Nationalbank-Schatulle, nämlich 55 Millionen zusätzlich. Mit dem neuen Goldgeld hoffen sie, noch mit weiteren 50 Millionen beschenkt zu werden, wie der «Walliser Bote» vorrechnete. Finanzdirektor Wilhelm Schnyder legte noch am Abstimmungssonntag jede Hemmung ab: «Bei ganz egoistischer Betrachtungsweise» müsse man sagen, dass es für die Kantone, die vordergründig Solidarität mit Kaspar Villigers Solidaritässtiftung übten, «optimal lief».

Noch besser läuft es für das Wallis, wenn 2006 der Neue Finanzausgleich in Kraft tritt. Dann werden neue Zitzen an den Eutern der Milchkühe angezapft und randständige Zuschussgebiete wie das Wallis noch stärker mit Geld aus den pulsierenden Wirtschaftszentren bestrichen. Zürich muss mit etwa 300 Millionen bluten, das Steuerparadies Zug allein mit 200 Millionen.

Das Problem ist nur: Der Powerkanton Zürich wird von der aktuellen Wirtschaftskrise unerwartet schwer gebeutelt. Hoch bezahlte Kaderleute der Finanz- und Dienstleistungsbranche, die noch vor kurzem fette Boni eingestrichen haben, stehen plötzlich auf der Strasse. Der kantonale Finanzdirektor Christian Huber summiert gegenüber BILANZ die Steuerausfälle allein bei den juristischen Personen für 2002 auf rund 140 Millionen, damit revidierte er seine Prognose von Anfang August: Damals rechnete er laut «HandelsZeitung» noch mit 70 bis 80 Millionen. Für 2003 brechen die Einnahmen um 200 Millionen ein. Noch nicht ins ganz grosse Tuch gehen die Steuerausfälle bei den Privaten – trotz der neuen Arbeitslosigkeit der oberen Mittelschicht: Für 2002 sind es 50 Millionen, nächstes Jahr werden es 80 Millionen sein. Huber verströmt Zuversicht: «Das Steuersubstrat der 760 000 natürlichen Personen ist nach wie vor breit abgestützt.»

Entsprechend rot präsentiert sich das Budget des Kantons Zürich für 2003: ein Minus von 250 Millionen, und die Defizitwirtschaft soll gar bis 2008 fortdauern. Die nächste finanzpolitische Kraftprobe scheint unausweichlich: Die bürgerlichen Parteien SVP und FDP wollen nämlich die Steuern per 2003 senken. Auch Basel-Stadt, wie Zürich ein Kanton mit hohem Unternehmenssteueranteil, ist finanzpolitisch auf die schiefe Bahn geraten: Statt eines Plus wird für dieses Jahr mit einem 100-Millionen-Defizit gerechnet.

Am schlimmsten trifft es jedoch Glarus, den Steuersitz von Martin Ebners gestrandeter Pharma Vision. Der Kleinkanton mit einem Budget von gut 400 Millionen erhielt während des Börsenbooms 57 Millionen Franken aus dem Anteil an der direkten Bundessteuer. Nächstes Jahren dürften, primär wegen des Ebner-Debakels, nicht weniger als 35 Millionen wegfallen. Konsequenz: Der neue Finanzdirektor Willy Kamm muss sozusagen als erste Amtshandlung die Steuern um fünf Prozent erhöhen.

Der Blick auf die Finanzlage der Kantone ergibt ein diffuses Bild. Der finanzstärkste Kanton, Zug, legt trotz Abschwung 2003 ein schwarzes Budget vor; weniger paradiesisch sind die Zustände in der benachbarten Steueroase Schwyz: Sie gleitet in die roten Zahlen ab. Thurgau, Luzern und Appenzell Ausserrhoden können 2003 die Steuern noch senken. St. Gallen wiederum muss wegen der Wirtschaftsflaute die Steuern erhöhen. Dieser Kanton ist ein guter Indikator für die finanzielle Situation der Schweiz, da er auf finanzielle Veränderungen rasch reagiert. Er ist gesetzlich gezwungen, ein ausgeglichenes Budget vorzulegen.

Schwer angeschlagen sind die Alpenkantone Graubünden und Tessin; die Bündner Regierung will die Steuern gleich um satte zehn Prozent erhöhen. Dem Wallis, auch ein Mitglied der Olpen-Opec, geht es wiederum finanziell relativ gut.

Die Kantone haben finanziell fette Jahre hinter sich, da der Börsenboom die Einnahmen sprudeln liess. Auch die Umstellung auf die einjährige Gegenwartsbesteuerung hat «einen einmaligen Schub von fünf Prozent» ausgelöst, wie Kurt Stalder, Sekretär der Finanzdirektoren-Konferenz erklärt. Doch jetzt brechen wieder härtere Zeiten an, da den Kantonen zusätzlich die Ausgaben aus dem Ruder laufen, insbesondere in den Kerngebieten Bildung und Gesundheit. Stalder: «Wenn die Wirtschaft nicht anzieht, geht die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen auf.»

Damit dürfte auch die Zeit der Steuersenkungen wohl für einige Zeit vorbei sein. Immerhin setzt der Bund sein grösstes Steuerversprechen endlich um. Das redimensionierte Steuerpaket 2001 ist nun in trockenen Tüchern: Ehepaare und Familien werden gemäss dem Ständeratsbeschluss um 1,18 Milliarden entlastet, beim Wohneigentum und Bausparen sind es noch einmal 170 Millionen. Mit einem Ja zur Revision des Arbeitslosengesetzes hat es das Stimmvolk am 24. November in der Hand, die Lohnprozente und damit die Abgabenlast um 2,3 Milliarden Franken zu senken. Unter dem Strich wird es für den Steuerzahler in den nchsten Jahren gleichwohl teurer. Die Raucher werden noch mehr geschröpft, die LSVA wird erhöht, ebenso die Mehrwertsteuer (diesmal für die Invalidenversicherung).

Zum Glück gibt es für den Steuerstandort Schweiz auch gute Nachrichten. Die Deutschen zieht es wieder vermehrt in unser Land, vorab mittelständische Unternehmer, denen die Erbschaftssteuer in Deutschland auf dem Magen liegt.

«Ein gewisser Sog aus dem Ausland ist festellbar», freut sich Marcel Widrig, Steuerexperte bei PricewaterhouseCoopers. Und der St.-Galler Steuerchef Rainer Zigerlig bestätigt: «Die Anfragen häufen sich.» Der Wahlsieg der rot-grünen Koalition von Gerhard Schröder dürfte diesen Trend noch verstärken, umso mehr, weil übermütige SPD-Ministerpräsidenten im Siegesrausch neue Steuererhöhungen verlangten.

Man erinnert sich: Bereits vor vier Jahren, als Schröder die Macht übernahm, ergriff Milliardär August Baron von Finck die Steuerflucht Richtung Schweiz.

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