Das südlichste Tal in Graubünden, das an Italien grenzende Puschlav, bietet Natur pur. Doch der Landstrich ist abgelegen und dünn besiedelt. Gerade mal einige Hundertschaften Schweizer und Italiener sagen sich dort gute Nacht. Idyllisch der Hauptort Poschiavo. Wer genauer hinsieht, erblickt neben stattlichen Patrizierhäusern baufällige Gebäude, die Strassen sind kaum belebt. Das Dorf hat schon bessere Tage gesehen.

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So gut wie noch nie geht es dafür der Rätia Energie, die am Rand von Poschiavo in einem schön im Park eines alten Palazzo gelegenen hochmodernen Gebäude logiert. Der grösste Arbeitgeber im Tal, im Jahr 2000 aus der Fusion von drei Stromproduzenten entstanden, hat zwei Jahre in Folge Rekordgewinne eingefahren. Nicht dass man im Bündnerland von der Rezession nichts gespürt hätte; die geringere Nachfrage nach Strom aus der Industrie liess auch hier die Grosshandelspreise sinken. Doch die Puschlaver verdienen seit Jahren viel zusätzliches Geld im europaweiten Stromhandel. Im verschlafenen Ort stehen die modernsten Händlerdesks der Schweiz. 20 Trader handeln von hier aus europaweit mit Energie und CO2-Zertifikaten. Hinzu kommen 20 Händler in Prag sowie 10 in Mailand.

Ortswechsel. Mitten im Industriequartier der Zürcher Vorortsgemeinde Dietikon steht ein gedrungener Bau, verkleidet mit dunkelgrauen Steinplatten. «City Plaza», ist das Gebäude grossartig angeschrieben. Hier residiert die EGL Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg, die Energiehandelstochter des Powerhauses Axpo. Im Gebäude herrscht Durcheinander, es wird ausgebaut. Die EGL platzt aus allen Nähten. Dank dem rasant zunehmenden europäischen Handelsvolumen im Energiebereich segelt das Unternehmen auf strammem Expansionskurs. Über die letzten fünf Jahre hat der Umsatz zwar stagniert; dagegen verbesserte sich der Betriebsgewinn Ebit in derselben Periode auf mehr als das Dreifache, der Personalbestand stieg auf das 2,6fache.

Die Dealer. Energieriesen wie die deutschen E.On und RWE oder die französische EDF und die italienische Enel dominieren im europäischen Stromgeschäft. Im grenzüberschreitenden Stromhandel mischen jedoch auch Schweizer Firmen ganz vorne mit. «Wir schätzen, dass die EGL zu Europas zehn bedeutendsten Stromhändlern zählt», sagt CEO Hans Schulz. Und zu den erfolgreichsten, wie die Zahlen belegen. Das Energiehandelshaus verfolgt eine Hub-Strategie und beschäftigt europaweit 90 Händler, die meisten davon Stromspezialisten.

Neben EGL und Rätia Energie zählen auch die neu formierte Alpiq und die Berner BKW FMB Energie zu den grossen Tradern. Sie handeln mit Emissionszertifikaten, mit Strom, Gas, Kohle und Ölprodukten, entweder ausserbörslich, auf dem sogenannten OTC-Markt (over the counter), oder an Strombörsen in Form von Kassageschäften respektive im Terminmarkt in Form von Forwards, Optionen, strukturierten Produkten und Futures.

Dabei ist der Energiehandel eine alte Disziplin. Strom lässt sich nicht speichern. Und wer Strom produziert, muss diesen zeitgleich einem Abnehmer zuführen. Deshalb haben die Elektrizitätswerke schon immer einen Austausch betrieben. Wer zu viel produzierte, trat den Überschuss einem Konkurrenten ab. Später forderte man die gelieferte Menge wieder ein, wenn es einen Engpass bei der Versorgung gab. Auch über Grenzen hinweg wurde brüderlich (zu)geteilt. Dabei gab es keinen Handelspreis – nur die ausgetauschte Menge zählte.

Das hat sich gegen Ende des letzten Jahrtausends radikal geändert. Damals wurden die Strommärkte europaweit liberalisiert, zuerst in den skandinavischen Ländern, dann in Deutschland, den südlichen Staaten, später im Osten. Nach amerikanischem Vorbild entstanden Strombörsen, gegenwärtig existieren rund zwei Dutzend (siehe Grafik «Europa unter Strom» im Anhang). Nur wenige Märkte sind noch nicht völlig liberalisiert. Dazu gehört die Schweiz.

«Kernaufgabe der Stromproduzenten ist die reibungslose Versorgung ihrer Kunden mit Elektrizität. Dazu gehört auch die Absicherung mit Fremdstrom respektive der Absatz von Überproduktionen. Dies geschieht über den freien Handel», erläutert Stefan Rechsteiner, der als Partner bei der Kanzlei Vischer Anwälte den Bereich Energie leitet. Die Strombörsen erleichtern den Elektrizitätswerken diese Aufgabe massgeblich.

Nur hat der Stromhandel längst die Grenzen normaler Optimierungs- und Absicherungsgeschäfte durch die Erzeuger gesprengt. Zunehmend wird an den Börsen alleine des Profits wegen gehandelt, immer mehr der Deals sind reine Spekulationsgeschäfte. Damit nehmen auch die Risiken überproportional zu. Die Stromkonzerne behaupten zwar, das Risikomanagement sei heute Teil ihrer Unternehmenskultur. Viele Risiken allerdings lassen sich kaum in den Griff bekommen. Am problemlosesten sind die klassischen Markt- und Kreditrisiken. «Um Kreditrisiken zu minimieren, wird für jede Gegenpartei eine genaue Analyse erstellt, und es werden jeweils klare Limiten für gehandelte Volumen und Beträge definiert», führt EGL-Chef Hans Schulz an.

Man kennt sich. Im Börsenhandel spielt das Gegenparteirisiko keine Rolle, denn da übernimmt die Börse die Funktion des Handelspartners und steht damit für das Ausfallrisiko eines Kontrahenten ein. Das gilt jedoch nicht für den OTC-Handel. Allerdings sind bei diesen bilateralen Geschäften die Stromkonzerne unter sich. Man kennt einander, weiss um die Bonität des Handelspartners und muss nicht noch lange Kreditrisiken prüfen. Das ist wichtig am kurzfristigen Spotmarkt, wo Abschlüsse für Energie getätigt werden, die innert Stunden, spätestens am nächsten Tag geliefert werden muss. «In Sachen Gegenparteirisiko reguliert sich der Markt im OTC-Bereich grösstenteils selbst», sagt denn auch Silvio Stengler, Leiter Handel der Rätia Energie.

Dieses Vertrauen hat sich nicht immer ausbezahlt. Als sich 2001 beim riesigen US-Energiehändler Enron der Konkurs abzuzeichnen begann, wurde dessen europäische Holding von den Strombörsen suspendiert. Zwar kamen die Schweizer Stromkonzerne mit einem blauen Auge davon, Händler aus anderen Ländern dagegen verloren massiv Geld. Die noch jungen Strombörsen Europas wurden kräftig durchgeschüttelt. Für Andreas Hünerwadel, Partner bei der Kanzlei Wenger & Vieli Rechtsanwälte und Verfasser von mehreren Studien über den Stromhandel, ein positives Zeichen: «Der Absturz von Enron war ein guter Stresstest für den europäischen Strommarkt. Und der Markt hat den Test bestanden.»

Seither mehren sich aber die Stimmen, die eine verstärkte Kontrolle des Stromhandels fordern. SP-Nationalrat Rudolf Rechsteiner verlangte letzten September in einer Motion unter anderem mehr Aufsicht, der Bundesrat sah keinen Handlungsbedarf. Nur liegt da einiges im Argen. «Ein grosser Teil des Stromhandels fällt nicht unter unsere Aufsicht», sagt die Finanzmarktaufsicht. Die Finma sei lediglich zuständig für den Futures-Bereich, für den Effektenhändler eine Bewilligung benötigen. «Den Bereich Optionen und OTC-Handel dagegen beaufsichtigen wir nicht.» Auch europaweit wird da nicht so genau hingeschaut. Das dürfte sich jedoch ändern. «Die grössten Volumen werden over the counter gehandelt. Nur ist dieser Markt kaum beaufsichtigt. Doch nun setzen amerikanische und europäische Behörden Druck auf, damit auch der Rohstoff- und Stromhandel vermehrt reguliert wird», sagt Andreas Hünerwadel.

Die Stromproduzenten verstehen sich als Asset-backed Traders, die also hinter ihren Handelspositionen eine eigene Stromproduktion wissen. Doch immer mehr branchenfremde Firmen wie Banken, Finanzgesellschaften und Hedge Funds drängen in den Energiehandel – und verteuern damit den Strom zusätzlich, denn alle wollen am spannungsreichen Produkt verdienen. So wechselt eine Kilowattstunde Strom von der Produktion bis zur Steckdose beim Endverbraucher je nach Börse fünf- bis zehnmal die Hand. Schätzungsweise 700 bis 900 Marktteilnehmer tummeln sich im europaweiten Stromgeschäft, viele davon sind Kleinfirmen. Das vergrössert die Risiken zusätzlich – was den Stromproduzenten jedoch kein Kopfzerbrechen bereitet. «Kleine Händler dürften an der Notwendigkeit, genügend Risikokapital bereitstellen zu müssen, scheitern», ist sich Samuel Leupold, Leiter des Bereichs Energie International und Handel der BKW FMB Energie, sicher. Im Optionen- und Futures-Handel dagegen können gar Kleinstfirmen für arge Flurschäden sorgen.

Stromkonzerne müssen die Energieversorgung auf lange Sicht über den Handel sichern, etwa über Terminkontrakte mit mehrjähriger Laufzeit. Nur ist die langfristige Preisentwicklung aufgrund der hohen Volatilitäten und anderer unwägbarer Entwicklungen kaum voraussehbar. Die Unternehmen versuchen zwar, den Ausblick über eigene Analysen sicherer zu machen. Bei der Rätia Energie liefern zehn Spezialisten den Händlern eine Vielzahl von Unterlagen zur Entscheidungshilfe. Die EGL unterhält eine Abteilung von 16 Analysten. Dennoch sichern die Energieversorger die über Termingeschäfte getätigten Beschaffungs- und Lieferverträge über weitere Termingeschäfte ab, was das Volumen an Derivatekontrakten in schwindelnde Höhen schaukelt. In Europa dürfte sich das Kontraktvolumen bei den Energiederivaten auf mehrere Billionen Euro belaufen, in der Schweiz sind es, grob geschätzt, etwa 100 Milliarden Franken.

Alleine die EGL führte per Ende September 2009 für 70,1 Milliarden Franken Terminkontrakte und Derivate im Energiehandel in ihren Büchern. Laut Peter Juch, dem stellvertretenden Handelschef bei der EGL, sagt diese Riesensumme allerdings nichts aus über das Risiko. Man habe dafür eine Risikobremse eingebaut: Alle Long-Short-Positionen gegeneinander aufgerechnet, dürfen die dann noch offenen Beträge die Gesamtsumme von 65 Millionen Euro nicht übersteigen. «So können wir einen Höchstverlust von 65 Millionen auffangen, ohne dass die EGL schweren Schaden nimmt», sagt Juch.

Verschwiegen. In anderen Belangen legen die Strombarone grösste Verschwiegenheit an den Tag mit der Begründung, man wolle der Konkurrenz keinen Einblick in die Handelspositionen und Strategien geben. Allerdings darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, dass es da nicht zum Austausch gewisser Informationen kommt. Einmal ist die heimische Stromszene, die im internationalen Handel eine Rolle spielt, klein; man kennt sich bestens, nicht selten auch privat. Zudem sind die Konzerne miteinander verschwägert und verschwistert – über historisch gewachsene gegenseitige Beteiligungen.

Das Verneinen jeglichen Informationsaustausches hat einen Hintergrund: Die Branche will unter keinen Umständen in den Ruch von Preisabsprachen kommen. Sonst würden die Stromproduzenten mit Kritik zugeschüttet, wie es den Unternehmen in Deutschland seit Jahren widerfährt. Der deutsche Strommarkt wird von den vier Energiekonzernen E.On, RWE, EnBW und Vattenfall kontrolliert. Unter Druck gekommen sind vor allem E.On und RWE, die zusammen rund zwei Drittel aller Elektrizitätswerke kontrollieren. Sie sollen, so der Vorwurf, Stromkapazitäten zurückgehalten haben, um durch eine Angebotsverknappung die Preise in die Höhe zu treiben. Ermittelt haben die Börsenaufsicht, die Staatsanwaltschaft und die Kartellbehörde. Auch die EU-Kommission schaltete sich ein, führte bei beiden Firmen Razzien durch, kopierte Computerfestplatten und transportierte Hunderte von Aktenordnern ab.

Schweizer Stromhändler können sich nicht vorstellen, dass beim Nachbarn die Preise getürkt sind. «Der Stromhandel in Deutschland ist hochliquid. Und je lebhafter die Handelsaktivitäten, desto weniger sind Preisabsprachen möglich», sagt Samuel Leupold von der BKW FMB Energie. Der Umkehrschluss müsste also lauten: Je weniger liquid der Markt ist, desto eher sind Manipulationen möglich. Wie in der Schweiz. Denn während Kleinstaaten wie Slowenien eigene Strommärkte unterhalten, besitzt die Schweiz keine Börse, die unter Strom steht. Zwar gibt es die Swiss Internet Exchange, kurz SwissIX, doch den Namen Börse verdient diese Plattform kaum. Der virtuelle Marktplatz wurde 2006 eröffnet als Spotmarkt, und zwar von der deutschen European Energy Exchange (EEX). Der Schweizer Grosshandelspreis wird an der EEX festgelegt.

Verschworen. Peter Juch von der EGL: «Zwar befindet sich die SwissIX noch im Anfangsstadium. Dennoch hat sich ein Day-ahead-Markt gebildet, rund dreizehn Prozent vom gesamten Stromverbrauch werden bereits dort gehandelt.» Die SwissIX ist dennoch nur ein Nebenschauplatz – und wegen der geringen Marktliquidität anfällig auf Preismanipulation. Dem widersprechen die Stromproduzenten vehement. Eine andere Sicht hat Sozial- und Wirtschaftshistoriker Wolfgang Hafner. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Verhältnisse in der Schweiz viel anders sind als in Deutschland.» Allfällige Preisabsprachen dürften hierzulande jedoch kaum ans Tageslicht gelangen. Dazu Hafner, der die Studie «Strommarktliberalisierung und Terminmärkte» verfasste: «Die Schweizer Stromproduzenten sind eine kleine und verschworene Gruppe. Es gibt kaum Stadtwerke wie in Deutschland, die ihnen Paroli bieten können. Daher ist die Chance gering, dass bei uns Skandale auffliegen.»

Europaweit wächst der Derivatehandel weitaus rasanter als der physische Stromhandel. Elektrisierende Finanzprodukte erfreuen sich bei Privatinvestoren einer geringen Beliebtheit. «Die hohe Volatilität im Strommarkt zieht Anleger an, schreckt aber andere ab. Gerade für Privatanleger sind die Preisausschläge wenig attraktiv», erläutert Silvio Stengler von Rätia Energie. Doch ist zu erwarten, dass diese Anleger eines Tages ihre Vorsicht ablegen. Auch die jungen Strombörsen im wilden Osten werden immer mehr Glücksritter anziehen. Je mehr Spekulanten sich im Strommarkt tummeln, desto instabiler wird er, und die Risiken steigen.

Strom ist heute ein Rohstoff wie Kohle, Öl oder Gas. Nur dass Elektrizität nicht so ohne weiteres zu substituieren ist. Und weil ohne Strom nichts läuft, wird der Markt weiterwachsen, und die Preise werden noch stärker anziehen. Wie hat schon Baron August von Finck senior, Vater des in der Schweiz lebenden gleichnamigen Milliardärs, vor langer Zeit als Aktionär des Energieversorgers Isar-Amperwerke erkannt? «Strom geht immer!»