Der Höhenweg liegt am Dorfrand von Wohlen AG. Hinter den letzten Häusern breiten sich bereits Wiesen und Äcker aus, eingerahmt von ausgedehnten Wäldern. Es ist eine typische Einfamilienhaussiedlung, auch wenn die Häuser hier etwas grösser, teurer und individualistischer aussehen als in anderen Quartieren der Gemeinde. Hier kennt man sich seit Jahren und ist mit der Nachbarschaft per Du.

Weit über das Quartier hinaus wissen die Wohler auch, wer am Höhenweg 12 wohnt. Es ist einer der prominentesten, wenn auch nicht beliebtesten Einwohner der 14 000-köpfigen Ortschaft: Philippe Bruggisser, 63 Jahre alt, der während fünf Jahren die Swissair als Chefpilot steuerte und Anfang 2001 vom Balsberg, dem Hauptsitz der damaligen Schweizer 
Vorzeige-Airline, gejagt wurde.

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Obwohl Bruggisser in Wohlen geboren und aufgewachsen ist, bleibt er für manchen Nachbarn ein Phantom. «Er ist seit Jahren abgetaucht», meint ein guter Freund. Und ein pensionierter Top-Bundesbeamter, der zwei Steinwürfe entfernt wohnt, hat ihn «seit Jahren nicht mehr gesehen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, er wohne gar nicht mehr hier.» Nur abends sehe er manchmal ein Licht im Haus brennen.

Philippe Bruggisser ist derart öffentlichkeitsscheu geworden, dass er nicht einmal mehr an seinem Wohnort einkaufen mag. Ein Wohler hat ihn samstags mehrmals im Ladenzentrum Sunne Märt gesichtet – im Nachbarort Bremgarten. In Wohlen dagegen zeige sich Bruggisser praktisch nie. «Der Rausschmiss bei Swissair hat ihn tief verletzt», erzählt ein ehemaliger Weggefährte.

Nicht vermittelbar. Dazu kam die Reaktion der Öffentlichkeit. Der einstige höchste Pilot, der mit seiner Hunter-Strategie den Sinkflug der Swissair einleitete, wurde beschimpft, ja massiv bedroht. Eine Bekannte von ihm hat miterlebt, wie wildfremde Leute Bruggisser auf der Strasse anschrien, er solle sich in Grund und Boden schämen, dass er die Swissair zerstört habe. Derartige Gifteleien fressen die Seele auf. Auch zehn Jahre später will der hagere 1,90-Meter-Mann nicht reden. «Ich muss Ihre Anfrage leider negativ beantworten. Ich hoffe, Sie haben Verständnis», quittiert er höflich den Wunsch nach einem Interview.

Das Selbstvertrauen zusätzlich angeknackst hat die Tatsache, dass Bruggisser, von Weggefährten als «höchst gewissenhaft, fast schon überkorrekt» bezeichnet, nie mehr Fuss fassen konnte im Fluggeschäft. «Bruggi», wie er von Freunden genannt wird, war klar, dass er in der Schweiz nicht mehr vermittelbar ist. So vergrub er sich zuerst in Wohlen, wälzte nächtelang Gerichtsakten oder spielte mit seiner Modelleisenbahn. Danach packte er die Koffer und zog nach Miami, wo er eine Luftfrachtfirma beriet. 2006 setzte er zum Sprung an in die obersten Etagen der South African Airlines (SAA). Er liess seine früheren Kontakte spielen, als er für die Swissair 20 Prozent der SAA kaufte. Er wurde zwar als Kandidat für den Verwaltungsrat nominiert – an der Generalversammlung jedoch nicht gewählt. Eine schallende Ohrfeige. Bruggisser verkroch sich wieder.

Erst 2009 gelang ihm der Sprung zurück in die Heimat. Überraschend wurde Bruggisser von der in Baar ZG ansässigen VistaJet, einem Anbieter von Privatflügen, als CEO ins Cockpit geholt. Firmengründer Thomas Flohr lobte seinen neuen Chefpiloten über den grünen Klee. 2010 schied Bruggisser aus dem Verwaltungsrat und als CEO aus. Heute wird er auf der VistaJet-Homepage nicht mal mehr als Berater aufgeführt. Inzwischen ist der Wohler wieder einmal abgetaucht. Ein Freund weiss nur, dass er mit seinem Sohn in Amerika unterwegs ist.

Persona non grata in der Schweizer Wirtschaft ist auch Mario Corti. Der einstige Finanzchef von Nestlé, der im März 2001 den Steuerknüppel bei Swissair in die Hand nahm, stand in der Öffentlichkeit nach dem Absturz der Swissair zwar besser da als Bruggisser – in seiner Heimat platzierbar war aber auch «Super-Mario», wie er anfänglich in der Presse genannt wurde, nicht mehr. Im Herbst 2002 räumte er seine Villa am Zürichberg und zog mit seinem millionenschweren Fünfjahressalär, das er sich von der Airline im Voraus hatte überweisen lassen, in die USA, genauer nach Boston, wo er einst seine Frau Joy kennen gelernt hatte. Dort liess sich Corti in den Beirat der Harvard Business School wählen, an der er 1975 seinen MBA gemacht hatte.

Der als introvertiert geltende Corti ist fasziniert vom Fliegen. 1992 umrundete er mit einer Cessna 340 den Globus. Auch der Absturz der Swissair vermochte ihm sein Hobby nicht zu vergällen. Im Gegenteil: In den USA erfüllte er sich 2004 einen Traum, indem er sich den Pilotenschein für Passagierflugzeuge erflog. Heute leben die Cortis abwechslungsweise in Boston sowie in Savannah im Bundesstaat Georgia. Dort betätigt sich Corti als Fluglehrer. Zusammen mit seiner Frau besitzt er ein siebenplätziges Flugzeug. An eine Rückkehr in die Schweiz scheinen die beiden nicht mehr zu denken; Joy Corti hat in Savannah für 765 000 Dollar ein schönes Anwesen mit viel Umschwung gekauft.

Einen Job im Ausland suchen mussten sich auch andere einstige Swissair-Manager. Beispielsweise Georges Schorderet. Er war ab 1995 Finanzchef und wurde im Sommer 2001 von Mario Corti geschasst. «Corti wollte seine eigenen Leute etablieren. Ein berechtigtes Vorgehen», blickt Schorderet zurück. Nach seinem Weggang hat er sich eine eigene Beratungstätigkeit aufgebaut und diese bei United Gates in Genf in eine feste Anstellung umgewandelt. Doch das Start-up, das an Flughäfen Verkaufsstellen für IT-Produkte aufbauen wollte, machte eine Bauchlandung. Danach sah sich Schorderet schon gar nicht mehr nach einem Job in der Schweiz um. «Ich hatte den Swissair-Stempel auf der Stirn.»

Weisses Pulver im Drohbrief. Als ihm beim saudischen Milchkonzern Almarai die Aufgabe des Finanzchefs angeboten wurde, griff der Freiburger zu. Er legte in Riad offen, dass Strafverfahren gegen ihn liefen. Das wurde zur Kenntnis genommen, basta. «Swissair war dort kein Thema.» Vor wenigen Wochen hat sich der 58-Jährige innerhalb des Unternehmens umorientiert und ist nun Chief Operating Officer. Im Rückblick bringt Schorderet viel Verständnis auf für die Empörung in der Öffentlichkeit. Negativ in seiner Erinnerung hängen geblieben ist die 2002 bei allen Ex-Managern durchgeführte Durchsuchung. Vor sieben Uhr morgens klopften ein halbes Dutzend Polizisten an die Tür – zum Schrecken der 15-jährigen Tochter, die allein zu Hause war. In Hombrechtikon ZH besitzen die Schorderets immer noch ein Haus. Dort wolle er eines Tages auch seinen Ruhestand verbringen.

Auch Schorderets Nachfolgerin Jacqualyn Fouse, die Corti von Nestlé zu Swissair geholt hatte, packte nach dem Grounding ihre Siebensachen. Die Texanerin kehrte in ihre Heimat zurück und wurde bei der Nestlé-Tochter Alcon Finanzchefin. 2007 wechselte sie zum New Yorker Agribusiness-Konzern Bunge, seit einem Jahr ist sie CFO bei der Gesundheitsfirma Celgene. Sie wurde nie angefeindet, ja erhielt noch lange Post von einstigen Beschäftigten, die ihr für ihren Einsatz bei der Schweizer Airline dankten. Kein Wunder, denkt sie an die vier Monate als Kassenwartin der Swissair nicht ungern zurück. «Eigentlich waren diese Erfahrungen für mich sogar positiv. Ich habe damals viel gelernt und kann dieses Wissen auch heute noch einsetzen.»

In der Schweiz geblieben ist dagegen Matthias Mölleney. Der letzte Personalchef der Swissair musste nach dem Grounding mehr als 5000 Kündigungen schreiben – darunter auch seine eigene. Die Beschimpfungen, Anfeindungen und sogar Morddrohungen konnten ihn nicht gross erschüttern. Seine Familie dagegen habe unter den Ereignissen gelitten. So war der Schreck gross, als aus einem Drohbrief weisses Pulver rieselte. Damals wurden weltweit Couverts mit Anthrax verschickt. Zwar stellte die Polizei fest, dass es nicht der Milzbranderreger, sondern nur Mehl sei – doch die Aufregung in der Familie Mölleney wollte sich nicht so schnell legen. «Ich blicke nicht im Zorn zurück auf meine Swissair-Zeit», sagt der 51-Jährige, «schliesslich hatte ich damals meinen Traumjob.» Mölleney gründete nach den Zwischenstationen Centerpulse und Unaxis 2005 in Uster die Personalberatungsfirma PeopleXpert.

Schlecht bekommen ist das Swissair-Grounding auch einigen Verwaltungsräten. Einige mussten zusehen, wie ihre bis dahin steile Karriere geknickt wurde. Am härtesten aufgeschlagen ist Eric 
Honegger. «Ich habe mit dem Kapitel Swissair abgeschlossen, das ist längst Vergangenheit», sagt der 65-Jährige zwar gegenüber BILANZ. Doch man spürt, dass die Erlebnisse nach seinem Rauswurf vom März 2001 noch immer an ihm nagen.

Vorverurteilt und geächtet. Eric Honegger hat die Episode Swissair in seinem Buch «Erinnerungs-Prozess» zu verarbeiten versucht. Der Bundesratssohn, Regierungsrat des Kantons Zürich, Multi-Verwaltungsrat und Stargast an Empfängen verlor vor zehn Jahren Freunde, Einkommen und gesellschaftlichen Status. Innerhalb von wenigen Wochen wurden ihm seine VR-Mandate bei UBS, Möbel Pfister und NZZ entzogen. Ökonomisch hat er sich aufgefangen: Heute ist er Geschäftsleiter einer Dienstleistungsfirma und hält einige Mandate.

Auch andere ehemalige Verwaltungsräte kauen bis heute an ihrer Swissair-Vergangenheit. Beispielsweise Gaudenz Staehelin. Er gehörte einst zu den Wirtschaftsgrössen des Basler Daig. «Ich will nicht mit Ihnen reden», meint er fast trotzig. Auf die Zusicherung, er bekomme seine Zitate zu sehen, erwidert er: «Dann steht sowieso etwas anderes in der Zeitung.» Der Spross einer Patrizierfamilie sass zu seinen besten Zeiten in 18 Verwaltungsräten; heute hält er noch zwei unbedeutende Mandate.

Tief gefallen ist auch Andres Leuenberger. Einst, als Präsident des einflussreichen Wirtschaftsdachverbands Vorort, wurde er «achter Bundesrat» genannt. Leuenberger sass bei bekannten Schweizer Konzernen im Verwaltungsrat. Doch der Swissair-Crash würgte seine bis dahin brillante Karriere ab. Bis 2004 verlor er die meisten Ämter oder gab sie freiwillig preis.

Vreni Spoerry war die einzige Verwaltungsrätin bei Swissair. Nach der Anfrage für ein Gespräch erbat sie sich drei Tage Bedenkzeit. Dann brachen aus der Zürcher Alt-Ständerätin die Emotionen hervor. «Wir wurden in einem unvorstellbaren Masse vorverurteilt und geächtet. Ich wurde in Mails, Briefen und auch telefonisch beschimpft, ja teilweise bedroht», erinnert sie sich. Im Gegensatz zu einigen ihrer einstigen Kollegen haben ihre Freunde und das Wirtschaftsestablishment sie nicht fallen gelassen. Nach dem Grounding wurde sie erneut in die Verwaltungsräte bei Nestlé und der SV Group gewählt, später übernahm sie die Präsidentschaft bei Pro Senectute. «Mit zunehmendem Alter bekomme ich mehr Abstand zu den Ereignissen rund um die Swissair.» Spoerry ist 73 Jahre alt und hat alle wichtigen Ämter abgegeben. «Ich bin mit mir im Reinen, und es geht mir gut», meint sie fast erleichtert.

Im einst zehnköpfigen Aufsichtsgremium der Swissair steht nur eine Person dazu, dass auch arge Fehler gemacht worden seien, die den Absturz der Airline erst ermöglicht hätten. «Die Mehrheit der Verwaltungsräte waren hoch qualifizierte und angesehene Wirtschaftsgrössen. Doch wir haben uns wohl zu sehr auf die anderen verlassen. Denn keiner hat frühzeitig realisiert, dass die Swissair nicht mehr auf Kurs fliegt», meint dieser. «Natürlich ist der Verwaltungsrat für alles verantwortlich. Wir haben unsere Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen. Sonst hätten wir Philippe Bruggisser viel früher gestoppt.»

Dass dieser einstige Verwaltungsrat seinen (berühmten) Namen nicht 
gedruckt sehen will, rückt die Selbstkritik allerdings wieder zurecht.