Früher wurde Luca Albertoni, der Chef der Tessiner Handelskammer, von seinen Kollegen aus der Deutschschweiz und der Romandie immer mal wieder belächelt, wenn ein Tessiner Fait divers national für Schlagzeilen sorgte. «Doch jetzt lachen sie nicht mehr», sagt Albertoni.

Denn nach und nach hätten sie realisiert, dass das, was im Tessin geschehe, mit Verspätung auch auf die nationale Agenda durchschlage: vom Inländervorrang zum Strafregisterauszug für Grenzgänger, vom Mindestlohn zum Einbruch auf dem Bankenplatz, von der Elitefeindlichkeit zum Problem des grassierenden Einkaufstourismus, den man im Süden seit den Lira-Schnäppchenfahrten in den 1960er Jahren kennt, vom Burkaverbot bis zum Aufstieg einer rechten Bewegung zur wichtigsten politischen Kraft, die alle anderen Parteien vor sich hertreibt.

Das Tessin ist ein guter Seismograf für künftige Entwicklungen, ein Labor, wo Veränderungen früher sichtbar werden, und damit ein verlässliches Frühwarnsystem – wenn denn die übrige Schweiz sich die Mühe machen würde, die Entwicklungen südlich des Gotthards genauer zu beobachten. Doch der Trend geht in die andere Richtung: Das Tessin und die Restschweiz driften immer weiter auseinander, wie die für 2019 designierte Nationalratspräsidentin Marina Carobbio festhält. Das gegenseitige Desinteresse ist gross.

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«Gartenquartier von Mailand»

Eine Erklärung für die seismografischen Qualitäten des Tessins ist seine geografisch exponierte Lage. Kein anderer Kanton ist Teil einer europäischen Grossmetropole. Andere Grenzregionen wie Basel oder Genf stellen selbst das Zentrum, das Tessin hingegen ist Peripherie.

Der Financier Tito Tettamanti bezeichnet das Tessin mit seinen rund 350'000 Einwohnern gar als «Gartenquartier von Mailand».Der norditalienische Ballungsraum, die Lombardei mit ihren zehn Millionen Einwohnern, gibt den Takt vor. Das ist eine grosse Chance, wenn der Wirtschaftsmotor Italiens brummt.

Doch seit 2008 steckt das Land in einer tiefen Krise, aus der es nicht herausfindet. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich angestiegen, die Zahl der Grenzgänger hat sich auf über 60'000 verdoppelt. Das Tessin ist zum grössten Arbeitgeber der Lombardei aufgestiegen.

Grosse Skepsis gegenüber Italien

Doch das Verhältnis zu Italien ist kompliziert. Die Skepsis gegenüber dem südlichen Nachbarn sei immer gross gewesen, betont Tettamanti. Und weil letztlich für die Tessiner Europa gleichbedeutend sei mit Italien, hätten sie immer wieder Nein gesagt, wenn es um Europa ging: Sie sagten Nein zum EWR, zu den Bilateralen I, zu Schengen/Dublin und zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf weitere Staaten.

Die Ablehnung Italiens oder Europas, gekoppelt mit der zugespitzten Situation auf dem Arbeitsmarkt, war der perfekte Nährboden für den Aufstieg der Lega dei Ticinesi, die Giuliano Bignasca vor 25 Jahren zusammen mit Flavio Maspoli gegründet hatte – aus Protest gegen das Machtkartell der grossen Familien, gegen das von der FDP angeführte Establishment.

Heute gehört die Lega selbst zum Establishment. Im Kantonsrat ist ihr Wähleranteil fast so hoch wie jener des einst so mächtigen Freisinns, und bei der Besetzung der Exekutiven hat sie diesen sogar überflügelt: Die Lega stellt zwei von fünf Regierungsräten und in Lugano drei von sieben Mitgliedern der Stadtregierung. «Damit steht die Lega in der Verantwortung», sagt Michele Foletti, Finanzdirektor der Stadt Lugano und Legist der ersten Stunde.

Doch das sehen nicht alle so in der Partei. Die Frage ist, wer sich durchsetzt: «die Lega 2.0», also die gestaltungs- und lösungsorientierte Kraft, zu der sich Foletti zählt, oder «der Geist der Lega als Oppositionsbewegung»?

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