Herr Rudolph, der St. Galler Handelstag steht unter dem Titel «Reinventing Retail». Warum muss der Detailhandel neu erfunden werden?
Thomas Rudolph: Weil die Digitalisierung die Händler dazu zwingt, ihre bisherigen Geschäftsmodelle neu zu denken. Wir wollen die Handelsmanager nicht wachrütteln – dafür wäre es ohnehin schon reichlich spät. Wir wollen den Wachen unter den stationären Retailern zeigen, wie sie sich neu erfinden können. Ganz praktisch und hands-on, wie man so schön sagt.

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Wäre der beste Rat nicht einfach: Gegen Amazon und Alibaba habt Ihr keine Chance?
Nein! Ganz entschieden: Nein! Wir wollen nicht Angst machen, sondern Mut. Wir zeigen Lösungen auf. Und ich möchte betonen: Die etablierten Retailer haben Chancen. Nehmen wir das Beispiel des deutschen Warenhauses Karstadt. Das Unternehmen war jahrelang in der Krise. Jetzt aber floriert es wieder. Will heissen: Eine Transformation kann gelingen, Amazon hin oder her.

Und wie soll das gehen?
Entscheidend ist zunächst, dass man sich mit seinen Zielgruppen beschäftigt. Die entscheidende Frage, die man sich stellen muss, lautet: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich in den kommenden zwei bis drei Jahren Kunden verliere? Je nach Resultat kann daraus ein gewisser «Sense of Urgency» entstehen. Wenn ich zum Beispiel zehn Prozent meiner Kunden zu verlieren drohe, muss ich etwas tun. Vor solchen Herausforderungen steht etwa die Automobil-Industrie, weil immer mehr Kunden auf das eigene Auto verzichten. Mobil aber bleiben sie. Daraus lässt sich ableiten, wo ich sinnvollerweise investieren muss.

Das leuchtet ein. Aber im Detailhandel?
Auch dort ist die Geschwindigkeit der Veränderungen sehr gross geworden. Beispiel Unterhaltungselektronik. In diesem Markt haben wir einen erdrutschartigen Shift in Richtung online gesehen. Ein stationärer Händler hätte voraussehen können, dass er Kunden verliert. Und hätte sich überlegen können, wie er darauf reagiert.

Und wie können Retailer reagieren?
Zusammen mit Markus Schweizer von Holistic Consulting habe ich einen Managementansatz entwickelt, der als Buch mit dem Titel «High Five der erfolgreichen Geschäftsmodelltransformation» veröffentlicht wird. Es klärt, was zu tun ist.

High Five? Was heisst das denn?
Bei einer Geschäftsmodell-Transformation versuche ich, meine bestehenden Kunden im Boot zu halten und passe mein Leistungsversprechen – wenn überhaupt – nur leicht an. Obwohl ich das Unternehmen neu erfinden muss und neue Angebote einführen muss. Das neue Leistungsangebot ist Element eins von «High Five».

Und die anderen vier Finger?
Ich muss zweitens meine Leistungserstellung optimieren und mich dabei organisatorisch anpassen. Drittens muss meine Kosten anschauen: Brauche ich noch alle Läden? Muss ich günstigere Mieten aushandeln und so weiter. Viertens muss ich mein Ertragsmodell überdenken und mich fragen, womit ich in Zukunft gewinnversprechende Umsätze generieren kann. Wenn ich mich beispielsweise darauf konzentriere, auch in Zukunft bloss Laptops zu verkaufen, muss ich mich auf stetig sinkende Gewinne einstellen. Ergo: Welche Services kann ich bieten, um von reinen Transaktionsmodell wegzukommen?

Ein auf reinem Verkauf basierendes Geschäftsmodell ist also nicht mehr nachhaltig?
Zumindest stationäre Händler kommt mit einer solch einseitigen Orientierung wahrscheinlich schnell in die Bredouille.

Jetzt hat Ihre «High-Five»-Hand aber nur vier Finger. Was ist mit dem Daumen?
Der Daumen ist die Definition des Leistungsversprechens. Zara will den Kunden topmodische Kleidung zu bezahlbaren Preisen bieten. Punkt. Was einfach klingt, müssen aber alle bei Zara im Kopf haben – und ihr ganzes Handels danach ausrichten. Vom Management bis zum Verkaufspersonal. Entscheidend ist: Wenn das Leistungsversprechen nicht klar ist, bringt es nichts, sich in rasendem Tempo zu verändern. Ohne diesen Kompass wird man sich verlaufen oder verzetteln – und wohl verlieren. Gegen jene Konkurrenten, die eben wissen, wohin die Reise gehen soll.

Ihre Hauptmessage?
Es gibt Märkte, in denen 90 Prozent der einst etablierten Anbieter verschwunden sind. Im Detailhandel wird das wahrscheinlich nicht so sein. Aber: Eine Erfolgsquote über 50 Prozent wäre für die nächsten zehn Jahre schon ganz gut.

 

Die «Handelszeitung» ist Medienpartner des St. Galler Handelstages. Er findet morgen Mittwoch, 6. Juni, statt.

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