Turin, Fiat-Stadt. Corso Tazzoli, am Südrand. Ein Donnerstag Ende Mai, 14 Uhr. Schichtwechsel am Eingang Nummer 2 zum Fabrikgelände Mirafiori. Die Wolken hängen tief, aschgrau und trüb. Die Arbeiter eilen zum Tram und zu den wartenden Bussen. Vorbei an den paar Ständen, die Getränke, Brötchen, Früchte und Gemüse feilbieten. Es riecht nach Knoblauch. Gewerkschafter verteilen Flugblätter: ein Aufruf zum nächsten Proteststreik.

Die Männer diskutieren, gestikulieren. Es geht um ihre Zukunft. Sie wissen, Fiat kämpft ums Überleben. Was wird jetzt aus uns, unseren Familien? Viele sind erregt, stehen unter Schock. Wie Giosuè Meo (36), Sizilianer, schwarze Jeans, dunkler Schnurrbart und breite Schultern, ein Paket von einem Kerl. Zweite Generation, schon sein Vater war Arbeiter bei Fiat. Aufgewachsen ist er in einer der Sozialwohnungen der Reihenhäuser im Fiat-Dorf von Settimo Torinese. «Als Buben spielten wir im Hof. Alles Kinder von Fiat-Familien. Alle haben Arbeit gefunden in Mirafiori. Auch meine Frau. Im Monat verdienen wir um die 900 Euro pro Kopf, das reicht.» Gehört auch er zu den Tausenden von Arbeitern der Mirafiori-Belegschaft, denen die Entlassung droht? «Ich nicht. Vor allem unter den 50-Jährigen herrscht Angst. Sie fürchten ernsthaft um ihre Jobs.»

Mirafiori, Industriezentrum der Fiat- und Olympia-Stadt Turin (Winterspiele 2006), düstere Fabrikhallen aus den Dreissigerjahren auf einem Gelände von rund zwei Millionen Quadratmetern. Während des Booms arbeiteten hier mehr als 50 000 Leute. Heute sind es noch knapp 21 000. Die anderen wurden entlassen oder frühpensioniert. Die Fiat-Fabrik im benachbarten Dorf Rivalta ist dichtgemacht worden. 5000 Mitarbeiter hat man auf die Strasse gestellt. Vor fünf Jahren wurden in Mirafiori mehr als eine halbe Million (genau 507 531) Pandas, Puntos und Mareas produziert. Für 2002 schätzt Fiat, dass es rund 200 000 Autos weniger sein werden. Die Produktion wird massiv gedrosselt. Das bedeutet Kurzarbeit für jene, die noch bleiben. «Cassa integrazione» heisst das in Italien und bedeutet bis zu einem Drittel weniger Lohn. «Zwei Wochen mussten wir im Mai daheim bleiben. Im Juni werden es sogar drei sein», klagt Salvatore Orlando, der in der Endmontage der Fiat-Modelle Marea, Multipla und Lancia Lybra arbeitet. Antonio Cirillo, ein Veteran mit 34 Fiat-Jahren, sagt resignierend: «Wir sind nicht mehr konkurrenzfähig und geraten gegenüber den ausländischen Autoherstellern immer mehr ins Hintertreffen. Der Stilo, das einzige innovative Fiat-Modell, kommt nicht an auf dem Markt. Es ist mit Technologie vollgepumpt und deshalb viel zu teuer.» Zu reden unter den Fiat-Arbeitern gibt auch ein Zeitungsbericht aus Frankreich, wo der Peugeot 307 ein solcher Erfolg ist, dass die Arbeiter der Fabrik in Sochaux sogar Wochenendschichten einlegen müssen.

Gigantischer Schuldenberg
Der Unmut gegen den ins Schleudern geratenen Turiner Koloss (Umsatz mit Automobilen 2001: 24,4 Milliarden Euro) wächst im Land. Die Krise liefert seit Wochen Gesprächsstoff. In Rom befassen sich Regierung und Parlament damit, die Medien berichten täglich in epischer Breite. Im Vordergrund steht der gigantische Schuldenberg, den die Fiat-Gruppe in den vergangenen Jahren angehäuft hat: insgesamt 58 Milliarden Euro (wovon 35 Milliarden dieses Jahr fällig sind); die Nettoverschuldung liegt inzwischen bei 6,6 Milliarden. Im Mai gab Fiat den Abbau von 2887 Arbeitsplätzen bekannt, grösstenteils in Turin. Doch bereits letzten Dezember kündigte der Konzern im Zusammenhang mit der Schliessung von 16 Fabriken an, es müssten 6000 Jobs im Ausland gestrichen werden (weltweit beschäftigt die Gruppe knapp 200 000 Menschen, rund die Hälfte davon in Italien). Die Metallarbeiter-Gewerkschaft FIOM fürchtet um mindestens 12 000 Arbeitsplätze, bereits in naher Zukunft. Sie zweifelt daran, dass es gelingen wird, den Autohersteller kurzfristig wieder zu kurieren – trotz Finanzspritzen der Banken, Kapitalaufstockung und Hilfsmassnahmen durch die Regierung (vor allem Steuererleichterungen und Subventionen für das Öko-Auto). Nicht nur die Gewerkschaften befürchten, dass die angekündigten Investitions- und Restrukturierungspläne nicht genügen werden, um die angeschlagene Gruppe zu retten. Neues Geld soll der Börsengang des Nobelrennstalls Ferrari bringen, der bisher zu 90 Prozent Fiat gehört, sowie der Verkauf des Nutzfahrzeug-Herstellers Comau, des Autozulieferers Magneti-Marelli und von Beteiligungen wie dem 38,6-Prozent-Anteil am Stromkonzern Italenergia.

Vielen Italienern stösst sauer auf, dass einmal mehr der Staat bemüht wird, um der Familie Agnelli, der reichsten des Landes, aus dem finanziellen Schlamassel zu helfen. Mit 35,12 Prozent kontrollieren die Agnellis den Milliardenkonzern, dessen Gesamtrechnung durch die hohen Verluste im Autogeschäft massiv belastet wird (Betriebsergebnis 2001: minus 549 Millionen Euro, Umsatzrückgang 14,9 Prozent).

Fatale Staatshilfe
«Ich bin es leid, die Schulden von Fiat zu bezahlen», schrieb der Arbeitsrechtsjurist Michele De Lucia bereits Mitte Januar dieses Jahres. «Im Zehnjahresrhythmus» wälze Fiat über die Arbeitslosenkasse Verluste und Unternehmerrisiko auf die Steuerzahler und die konkurrenzfähigen Betriebe ab. «Dieses Mal soll Agnelli die Restrukturierung selbst finanzieren», forderte Politiker De Lucia, Direktionsmitglied der italienischen Radikalen. Und kündigte eine Intervention bei der EU in Brüssel an, «gegen Fiat und die italienische Regierung, weil mit der staatlichen Hilfe die Wettbewerbsregeln der Union verletzt werden». Die gegenwärtige Krise, sagt De Lucia, sei zwar durch eine Reihe unternehmerischer Fehlentscheide ausgelöst worden, die wahre Ursache liege aber viel tiefer: «Seit dem Faschismus haben sich die grossen italienischen Industrien daran gewöhnt, dass ihnen der Staat hilft, wenn sie in Schwierigkeiten sind. Die Verluste wurden verstaatlicht, während die Gewinne privatisiert blieben.» Fiat war in den vergangenen 100 Jahren stets mit der politischen Geschichte Italiens, von Mussolini bis zu den Kommunisten, eng verknüpft. Mit einer Aufsehen erregenden Serie in der Zeitung «Libero», die es als Einzige wagte, das Tabu zu brechen, ging der Wirtschaftsjournalist Gianluca Marchi mit dem Turiner Konzern hart ins Gericht. Dabei zitierte er den ehemaligen Staatspräsidenten Francesco Cossiga: «Ohne die Armut im Süden, welche die Leute zur Emigration gezwungen hat, und ohne die Unterstützung durch die diversen Regierungen wäre Fiat nie Fiat geworden.»

Einheimische werden untreu
Das Debakel lag in der Luft. Spätestens im Februar, als bekannt wurde, dass der diesjährige Auto-Salon in Turin wegen mangelnder Beteiligung platzte, läuteten die Alarmglocken. Sogar General Motors, zu 20 Prozent an Fiat beteiligt, liess die Italiener im Stich. Fiat-Spezialist Giuseppe Oddo vom renommierten Wirtschaftsblatt «Sole 24 Ore» urteilt: «Es ist nicht das erste Mal, dass Fiat in der Krise steckt, doch diesmal ist es viel schlimmer.» Der Konsumrückgang nach dem 11. September habe «das schon übervolle Glas vollends zum Überlaufen gebracht». Zusätzlich zum weltweit eingebrochenen Automarkt seien Fehlentscheide des Managements für die derzeitige Krise verantwortlich: falsche strategische Entscheide, falsche Beurteilungen der Märkte. «Die Fiat-Krise ist vor allem eine Krise des Produkts. Etwas hat nicht funktioniert an der Spitze des Unternehmens», sagt er.

«Keine spektakulären Managementfehler» vermag dagegen Stefano Aversa von A.T. Kearny auszumachen. Fiat sei auf dem Weltmarkt exponierter gewesen als die Konkurrenz, erklärt der Analyst der Beratungsfirma. Es sei «unmöglich», dass Fiat es nicht schaffe, die Krise zu meistern, sagt er, und verweist darauf, dass Fiat in den nächsten zwei Jahren je 2,4 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investieren will. Das ist bitter nötig: Denn in den letzten Jahren setzte Fiat auf Globalisierung, investierte in potenziellen Märkten (Lateinamerika, Indien, China) und vernachlässigte darob die Ansprüche der traditionellen Kunden nach technologisch hoch entwickelten Qualitätsprodukten. Eine Todsünde besonders angesichts des seit langem existierenden Imageproblems bei Fiat. Als Folge der hohen Investitionen in den Schwellenländern stieg die Verschuldung zunehmend. Für die Entwicklung neuer Modelle fehlte das Geld. Die, verglichen mit den grossen Rivalen, geringe Produktionskapazität von Fiat trug dazu bei, dass die Investitionskosten nicht amortisiert werden konnten.

Ausbaden müssen es die Verkäufer an der Front, die Autokonzessionäre. Giuseppe De Angelis von der Alfa-Romeo-Vertretung Jolly Motori in Colleferro beklagt einen Umsatzrückgang «von mehr als zehn Prozent» in den letzten Monaten. «Dabei hatten wir bis vor kurzem noch fest damit gerechnet, dass sich der Markt wieder erholen würde.» Fiat-Vertreter Amedeo Basili in Sant’Elpidio an der Adria sieht noch schwärzer: «Im Vergleich zum letzten Jahr werden wir mindestens zwanzig Prozent weniger verkaufen.» Davon profitiert die Konkurrenz: Namensvetter Arnaldo Basili, der am gleichen Ort japanische Autos verkauft (Toyota, Subaru), versichert: «Unser Geschäft läuft bestens.» Immer mehr Leute würden ihm alte Puntos, Pandas oder Seicentos für den Kauf eines neuen Japaners in Zahlung geben, freut er sich.

Symptomatisch dafür, wie die Italiener das Vertrauen in ihr Nationalsymbol verlieren. In den Sechzigerjahren waren drei von vier in Italien verkauften Autos Fiat, in den Neunzigern jedes zweite. Heute ist es kaum noch ein Drittel. Auch in der Schweiz fährt Fiat nur noch im Rückwärtsgang: Hier zu Lande beträgt der Marktanteil der Fiat-Modelle 3,6 Prozent. Vor fünf Jahren waren es noch 4,6 Prozent. Seither sind mit Ausnahme von Alfa Romeo die Verkaufszahlen aller Fiat-Töchter rückläufig.

Als ob der Probleme nicht genug wären, droht jetzt dem mächtigen Konzern, seine Garanten zu verlieren. Der 82-jährge Patriarch Giovanni (Gianni) Agnelli, der «Avvocato», ist schwer krank. In New York musste er sich einer Chemotherapie unterziehen. Die Börse zitterte. Diesen Frühling, als die Stunde der Wahrheit schlug, fehlte Gianni Agnelli, der als Fiat-Ehrenpräsident den Konzern noch immer kommandiert, an der Aktionärsversammlung erstmals seit mehr als einem halben Jahrhundert. Gianni Agnelli, der ungekrönte König Italiens, bot Gewähr für die Kontinuität des Unternehmens, für das Engagement der Familie. Solange er lebt, wird nicht verkauft. Doch was nach ihm kommt, weiss keiner. Die Familie ist zerstritten. Seit dem (Krebs-)Tod von Giannis Neffe Giovannino gibt es keinen Vertreter der jungen Generation mehr, der sie zusammenhalten könnte.

Das grosse Köpferollen an der Spitze der Gruppe blieb nicht aus: Bereits letzten Dezember wurde der Chef von Fiat Auto, Roberto Testore, gefeuert und durch den bisherigen Verantwortlichen des weniger glücklosen Nutzfahrzeugsektors Iveco, Giancarlo Boschetti, abgelöst. Mitte Juni ist der CEO des Konzerns, Paolo Cantarella, überraschend zurückgetreten. Mit einem Jahreseinkommen von über sechs Millionen Franken zählte er zu den bestbezahlten Managern Italiens.

Agnelli ist krank, Fiat ist krank. Fiat ist Italien, das Symbol italienischer Industriekultur. Denn Fiat heisst nicht nur Autos, inklusive Alfa Romeo, Lancia, Ferrari und Maserati. Fiat heisst auch Nutzfahrzeuge, Landwirtschafts- und Baumaschinen, Weltraumforschung, Aeronautik, Chemie, Versicherungen, Verlagswesen. Ein Kollaps wäre traumatisch, eine nationale Schande.

Sergio Chiamparino, der Bürgermeister von Turin, sagt: «Eine solche Katastrophe, eine Zukunft ohne Fiat, ist undenkbar. Im Piemont verdienen – die Zulieferer mitgerechnet – fast 100 000 ihr Leben bei der Autoindustrie, die meisten bei Fiat.» Gibt es überhaupt einen Ausweg aus der Krise? Fiat hat eine Put-Option bei GM, die es der Familie Agnelli ab dem Jahr 2004 erlauben würde, auch die restlichen 80 Prozent an die Amerikaner zu verkaufen. Aber auch das würde das Problem nicht lösen. Doch vielleicht gibt es eine andere Lösung. Gerüchten zufolge weilte vor ein paar Wochen eine Gruppe diskreter Herren aus Japan im Fiat-Hauptquartier. Es war eine Delegation des weltweit zweitgrössten Autoherstellers, Toyota. Vielleicht wird wirklich bald alles anders in Turin.
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