Heute bekennen sich immer mehr Firmen zu ethischem, nachhaltigem Wirtschaften und wollen «Corporate citizens» sein. Für Ulrich Thielemann, Vizedirektor des Institituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen sind das allerdings oft nur Lippenbekenntnisse: Ethik werde opportunistisch angewendet und sobald sie dem Profit im Wege stehe, werde sie geopfert.

Ein integres Unternehmen hingegen «anerkennt den logischen, unausweichlichen Vorrang ethischer Gesichtspunkte vor anderen Interessen», sagt Thielemann und ist überzeugt, dass derart geführte Firmen Zukunft haben, da die Bürgerinnen und Bürger ein feines Sensorium für integres Verhalten hätten und dieses belohnen. Damit der Verantwortungsbewusste aber nicht der Dumme sei, brauche es ordnungspolitische Rahmenbedingungen.

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Integrität gehört in der HSG zur Managementausbildung. Wovon hängt es aber ab, ob Integrität im täglichen Wirtschaftsleben dann tatsächlich auch gelebt wird?

Ulrich Thielemann: Wir leben in zwiespältigen Zeiten. Einerseits leben wir im Zeitalter der Ökonomisierung und des Ökonomismus. Andererseits beobachten wir zahlreiche Aktivitäten der Unternehmen unter dem Banner von «Corporate Social Responsibility», «Nachhaltigkeit» oder «Corporate Citizenship». Das Motto lautet: «Wir wollen als verantwortungsbewusste, integre Bürger in der Gesellschaft anerkannt sein.»

Und ist es nun ein Zufall, dass diese beiden Trends zusammen auftreten? Häufig leider nicht. Der Glaube, dass das, was den eigenen Erfolg nachhaltig sichert, gut für alle ist, ist immer noch tief verwurzelt und bestimmt viele Bemühungen unter dem Banner der Ethik.

Dieses ökonomistische Denken, das behauptet, dass sich «Ethik» langfristig auszahlt, ist sehr verkürzt und auch metaphysisch. Eine der Hauptaufgaben der Wirtschaftsethik ist es, uns ich meine uns alle von diesem fehlgeleiteten Denken zu befreien, damit wir überhaupt die Chance haben, den Einstieg in eine Geschäftsethik zu finden, die wahrhaft von Integrität getragen ist.

Sie sind ein Aufklärer des Ökonomismus-Zeitalters?

Thielemann: Der ökonomische Vorteil, etwa der Gewinn, soll nicht die Massgabe des Handelns sein, sondern ein Gesichtspunkt neben anderen. Die Massgabe des Handelns ist die ethische Vernunft. Dagegen kann man nicht argumentieren. Die Ökonomik hingegen verficht meistens immer noch den Homo oeconomicus, also den Eigeninteressen-Maximierer. Das wird als Modell richtigen, vernünftigen Handelns hingestellt.

Und dann sind wir wieder bei der Metaphysik des Marktes. Wie stellen wir sicher, dass das ethisch Richtige dabei herauskommt, wenn alle nur ihre eigenen Interessen verfolgen? Dafür sorgt in diesem Modell die unsichtbare Hand des Marktes, sagt Adam Smith. Natürlich kommt dabei bestenfalls der Schein legitimen, verantwortlichen Handelns heraus.

Wer sein Handeln legitimieren will und das gilt für Unternehmen wie Bürger gleichermassen, der muss es eben von seiner Legitimierbarkeit abhängig machen. In der ökonomistischen Welt verhält es sich aber genau umgekehrt: Die «Ethik» oder was dafür ausgegeben wird, wird von ihrer Erfolgsdienlichkeit abhängig gemacht.

Und wer tut nur so als ob, und wer verhält sich wirklich integer?

Thielemann: Man muss nur die «Nachhaltigkeitsberichte» der Unternehmen lesen und kritisch den dort erhobenen Anspruch der Legitimität beleuchten. Und dann merkt man, dass hier vielfach immer noch ökonomistisches Denken vorherrscht.

Bei der Credit Suisse Group hiess es beispielsweise noch vor kurzem: «Zur Unternehmensverantwortung gehört, sich den ständig wechselnden Erwartungen der Gesellschaft anzupassen.» Und wie nennen wir ein solches Denken? Richtig, Opportunismus. Die Unternehmung sagt damit eigentlich: «Wir machen unsere ethischen Überzeugungen davon abhängig, was gerade angesagt ist.» Opportunismus ist das genaue Gegenteil von Integrität.

Kann ich es als Unternehmer überhaupt vermeiden, opportunistisch zu handeln? Wenn nicht ich das Geschäft mache, dann macht es mein Konkurrent in China.

Thielemann: Das ist das Unmöglichkeitstheorem der Unternehmensethik. Es gibt drei Möglichkeiten, wie man das Verhältnis von Wirtschaften und Ethik sehen kann. Die eine ist der beschriebene Ökonomismus, «Ethik» zahle sich aus, das heisst: «Wir betreiben diejenige Ethik, die sich auszahlt.» Die zweite Möglichkeit ist angewandte Ethik, die sagt: «Leider ist die Ethik unter Wettbewerbsbedingungen nicht immer anwendbar.» Dies ist ein gewichtiges Problem - das Problem des moralischen Trittbrettfahrertums -, aber statt von «unmöglich» zu sprechen, sollten wir in den Kategorien von zumutbarunzumutbar denken.

Und dann können wir fragen: Ist es denn wirklich nicht zumutbar, das ethisch Gebotene zu tun? Diese Frage beantwortet sich dann häufig ziemlich rasch, wenn man sieht, dass Leute entlassen werden sollen und gleichzeitig Gewinnsteigerungen im zweistelligen Bereich verkündet werden.

Und die dritte Möglichkeit?

Thielemann: Mit dem Begriff der Zumutbarkeit haben wir das Wirtschaften in die Ethik integriert, und das ist die dritte Möglichkeit: Der integrative Ansatz: Statt zu sagen, der Markt zwingt uns, müssen wir das Verhalten des Marktes selbst reflektieren.

Hier kommen wir von der Individualethik auf der Stufe von Bürgern und Unternehmen zur Ordnungsethik. Denn wenn sich ein Unternehmen ethisch verantwortungsbewusst verhält, die Konkurrenz aber nicht, dann ist der Verantwortungsbewusste rasch der Dumme. Um dies zu verhindern, brauchen wir ordnungspolitische Rahmenbedingungen, die den Wettbewerb selbst in ethischer Absicht gestalten.

Wo liegt der Unterschied zwischen opportunistischem und integrativem Verhalten der Unternehmen? Firmen werden sich doch dann ethisch verantwortungsbewusst verhalten, wenn sie Sanktionen zu befürchten haben, sei es aus Angst vor dem ramponierten Ruf oder der Geldstrafe.

Thielemann: Opportunistisch verhält sich eine Unternehmung, wenn sie Ethik nach Massgabe der Profitabilität betreibt, statt umgekehrt das Gewinnstreben von seiner Verantwortbarkeit abhängig zu machen. Ein integres Unternehmen anerkennt den logischen, unausweichlichen Vorrang ethischer Gesichtspunkte vor dem eigenen Vorteil. Die Stakeholder, Kunden und Mitarbeiter, haben ein feines Gespür dafür, wer es ernst meint und wer nicht.

Jetzt habe ich aber als Manager meine Aktionäre, die ihren Gewinn maximieren möchten und von mir von Quartal zu Quartal noch bessere Zahlen einfordern.

Thielemann: Die Shareholder sind natürlich nicht an ein Unternehmen gebunden. Die ziehen ihr Geld hier ab und gehen anderswohin. Der Kapitalmarkt ist das Problem. Mit dieser Ansicht scheine ich radikal. Aber der Kapitalmarkt ist radikal. Er beschleunigt den Prozess der «schöpferischen Zerstörung», und das heisst immer auch der Zerstörung von Arbeitsplätzen.

Die Funktion des Kapitals besteht ja einzig darin, dem Pionierunternehmer die Zeit zu überbrücken, die besteht zwischen der Idee, bis die Umsätze fliessen. Jetzt könnte man sagen: Dieser Unternehmer arbeitet eigentlich mit unlauteren Mitteln, denn er schaffts ja gar nicht aus eigener Kraft. Und auch der Kapitalgeber erzielt ein übrigens stetig wachsendes Einkommen in arbeits- und anstrengungsfreier Weise und gibt auch noch dem Pionierunternehmer einen Hebel in die Hand, der es diesem erst erlaubt, die vielleicht nur geringfügig schwächeren Marktteilnehmer aus dem Markt zu drängen.

Und was machen Sie mit dem bösen Kapitalmarkt hier an der Uni St. Gallen?

Thielemann: Ich würde nicht von «böse» sprechen. Wir, das heisst, die Weltgemeinschaft, sollten uns nur diesem Problem nüchtern stellen und uns fragen, inwieweit dieser Prozess noch lebensdienlich ist für uns alle. Ein Ansatz, den Kapitalmarkt zu verlangsamen nicht abzuschaffen(!) , wäre beispielsweise die Tobin-Steuer, eine Steuer auf Währungsspekulationen.

Aber da spielen auch Steueroasen eine wichtige Rolle. Die einzige «Leistung» von Steueroasen ist es ja, ein Gesetz zu kreieren, in dem es heisst: Wir leisten dem Ausland Rechtshilfe, ausgenommen fiskalische Delikte. Da kann man gleich schreiben: Wir schützen Steuerhinterzieher.

Es handelt sich hierbei im Grunde um eine Art von Diebstahl: Es ist keinerlei Rechtsgrundlage für die Beanspruchung dieser unglaublichen Mittel erkennbar, die da an Land gezogen werden. Was in Steueroasen geschieht, ist kein Leistungswettbewerb sondern Nichtleistungswettbewerb. Und ich glaube, der Schlüssel liegt bei der Schweiz, und zwar weltweit: Wenn die Schweiz fällt, fallen alle.

Zur Person

Ulrich Thielemann (1961) ist Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik (IWE) der Universität St.Gallen. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Wuppertal. Zwischen 1990 und 1996 war er Assistent von Professor Peter Ulrich, dem Leiter des IWE. 1996 dissertierte er zum Thema «Das Prinzip Markt». 1996 und 1997 war er im Rahmen seines Habilitationsprojekts «Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept» an der American University in Washington D. C.