Während in der Vergangenheit das Stakeholderkonzept oft als ideologische Gegenposition zum Shareholder-Value-Denken gesehen wurde, setzt sich heute eine moderne Stakeholder View durch, welche die Wertschöpfung aufgrund professioneller Stakeholderbeziehungen ins Zentrum des Interesses rückt. In dieser Weise stellt die Stakeholder View eine strategische Perspektive dar, die den heutigen Anforderungen des Wettbewerbes einer Wissensgesellschaft entspricht.
Relevante Stakeholders sind in dieser Perspektive alle Individuen, Gemeinschaften und Institutionen, die das unternehmerische Geschehen positiv oder negativ beeinflussen können. Dazu gehören Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Aktionäre, NGO, Regierungen usw.
Aus der Perspektive dieser Stakeholders betrachtet, resultieren aus ihren spezifischen Beziehungen mit der Unternehmung Chancen und Risiken, die vom Wohlergehen und dem Erfolg der Unternehmung abhängig sind. Aus der Sicht der Unternehmung bedeuten diese spezifischen Beziehungen Potenziale, die sie nutzen oder eben verwirken kann. Stakeholderbeziehungen sind deshalb unerlässlich für erfolgreiches unternehmerisches Handeln.
Stakeholders können kritische Ressourcen wie Wissen zur Verfügung stellen, und sie haben eine erhebliche Macht, die Leistung der Unternehmung zu beeinflussen. Die wirtschaftliche Entwicklung hat dazu geführt, dass neben dem Kapital andere Ressourcenkategorien wie Wissen zu kritischen Erfolgsfaktoren geworden sind und damit auch andere Stakeholders nebst den Kapitalgebern strategisch an Bedeutung gewonnen haben.
Pflicht zur Nutzung des Potenzials
Damit ist die Gestaltung der Stakeholderbeziehungen also eine Kernaufgabe des Managements geworden. Daraus ergibt sich eine Pflicht bzw. Verantwortlichkeit für das Management, dieses Erfolgspotenzial zu nutzen. Konkret heisst dies, dass unter Verwendung der heute verfügbaren Managementinstrumente die relevanten Stakeholders zu identifizieren (Stakeholdermapping), ihre Potenziale zu beurteilen und ihre Erwartungen in Rechnung zu stellen sind, um so die vorhandenen Wertschöpfungsquellen umfassend zu nutzen.
Es zeigt sich, dass einzelne Unternehmungen dabei einzigartige Fähigkeiten entwickeln können, die als Kernkompetenz einen nachhaltigen Erfolg im Wettbewerb mit weniger stakeholderorientierten Konkurrenten bringen und damit auch einen zusätzlichen Beitrag zum Shareholder Value leisten.
Im Rahmen empirischer Untersuchungen von Unternehmungen aus verschiedenen Branchen (z.B. Financial Services, Telekommunikationsindustrie) und von unterschiedlicher Grösse hat sich gezeigt, dass ein strategisches Management unter Beachtung einer vermehrten Stakeholderorientierung in einzelnen Fällen bereits in Umsetzung begriffen ist. Dabei können verschiedene Umsetzungs- und Lernprozesse beobachtet werden.
Entweder haben die Unternehmungen eine Krise (sogenannter «wake-up call») durchlebt, was zu einer Transformation ihres strategischen Denkens im Sinne einer vermehrten Stakeholderorientierung geführt hat. Beispiele dafür sind etwa Naturkatastrophen wie Hurricans oder fundamentale Veränderungen in der Branche, wie sie beispielsweise in der Revisions- und Unternehmungsberatungsbranche stattgefunden haben.
Oder die Unternehmungen werden durch äussere Anlässe angestossen, eine vermehrte Stakeholderorientierung einzunehmen, sei es, weil ihre Versicherer stakeholderorientierte Risiken einkalkulieren, sei es, dass Kreditgeber oder Investoren bei der Bonitätsbeurteilung entsprechende Kriterien anwenden oder sei es, dass Kunden ein nachhaltiges Handeln ihrer Lieferanten einfordern. Gerade aufkommende soziale Risiken, beispielsweise im Gesundheitsbereich oder auch ökologische Altlasten, sind dabei wichtige Kriterien.
Ein dritter Impuls zu einer vermehrten Stakeholderorientierung kann aus spezifischen Werthaltungen des Topmanagements resultieren. Diese sind insbesondere in Unternehmungen anzutreffen, die noch von einer Gründerfamilie geführt werden, die sich sozial dem unternehmerischen Umfeld verpflichtet fühlt.
Die Ausrichtung des Stakeholder-Managements ist je nach Branche sehr unterschiedlich. In einzelnen Fällen steht die Risikovermeidung, in anderen Fällen die Nutzengenerierung (z.B. Innovationsanstösse) im Vordergrund. Bei der Strategieentwicklung dieser Unternehmungen werden indessen Stakeholderaspekte oft noch unsystematisch genutzt; eine professionelle Stakeholderanalyse, basierend auf einem Stakeholdermapping, fehlt meistens noch. Dies aber könnte zu vertieften Einsichten über strategierelevante Kräfte und zu einem effizienteren Wertschöpfungsprozess führen.
Unterschiedlich weit geht bei diesen Firmen auch die institutionelle Verankerung des Stakeholder-Managements. Mitunter wurden spezielle Stellen geschaffen (z.B. Public Affairs, Investor Relations, Sustainability), in anderen Fällen wurden alle Linienstellen zu einer aktiven Stakeholderorientierung und zu einem entsprechenden Reporting verpflichtet. In verschiedenen Firmen wird die Stakeholder View explizit in Dokumenten wie im Leitbild, in den Aussagen zu den Kernwerten oder im Code of Conduct hervorgehoben.
Auch in der Corporate-Governance-Diskussion wird die Bedeutung der Stakeholders zunehmend thematisiert. Die OECD-Principles geben dabei den Stakeholders eine aktive Rolle im Gegensatz zum Swiss Code of Best Practice of Corporate Governance, der nur die Bedeutung der Shareholders thematisiert. Dass zukünftig den Shareholders und insbesondere den institutionellen Anlegern wie Pensionskassen eine aktivere Rolle zukommen wird, hat sich in jüngster Vergangenheit an verschiedenen Aktionärsversammlungen gezeigt.
Zentrale Herausforderung
In allen Fällen wurde sichtbar, dass der Umgang mit Stakeholders eine zentrale Herausforderung für das strategische Management darstellt. Die untersuchten Firmen stehen alle in einem Lernprozess, die Stakeholderbeziehungen systematischer in das strategische Management zu integrieren und damit die Stakeholder View weiter zu entwickeln.
Ein grosser Bedarf besteht hierbei an aussagekräftigen Messgrössen, welche es erlauben, die Effizienz des Stakeholder-Managements objektiv zu beurteilen. Hier wurden in den letzten Jahren interessante Möglichkeiten entwickelt, wie die Global Reporting Initiative, der Sustainable Dow Jones Index usw.
Nach Jahren eines einseitigen und zu kurzfristig verstanden Shareholder-Value-Denkens kann man nun vermuten, dass sich zukünftig sowohl die Unternehmungen wie auch die Wissenschaft vermehrt mit einem StakeholderValue-Denken auseinandersetzen werden.
Sybille Sachs, Titularprofessorin an der Universität Zürich und Leiterin «Center of Strategic Management: Stakeholder View» an der HWZ, Hochschule für Wirtschaft und Verwaltung Zürich.