Es sind verwirrende Zeiten. Sieben Jahre nach der Finanzkrise sind sich die Ökonomen noch immer uneins, warum die Erholung so hartnäckig schwach bleibt. Noch unübersichtlicher sind die Ideen für Gegenmassnahmen.

Im Oktober senkte der Internationale Währungsfonds seine Prognose für das weltweite Wachstum und setzte eine Klage an den Beginn seines Halbjahresberichts: Eine Rückkehr zu robustem und synchronisiertem weltweitem Wachstum bleibe weiterhin kaum erkennbar. Der IWF schätzt, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt 2015 um 3,1 Prozent gewachsen ist.

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Prognosen stimmen wenig positiv

Das ist die schwächste Entwicklung seit der grossen Rezession und der Finanzkrise 2009, und der Trend weist in die falsche Richtung. Als sie ein Jahr zuvor ihren Ausblick gaben, hatten die IWF-Ökonomen noch 3,8 Prozent Wachstum für 2015 erwartet. Für 2016 prognostizieren sie mittlerweile nur noch 3,6 Prozent Wachstum, im Juli waren sie von 3,8 Prozent ausgegangen. Von Bloomberg befragte Ökonomen erwarten für die Weltwirtschaft im kommenden Jahr 3,4 Prozent Wachstum. 

Kurz vor dem Jahreswechsel sind die Investoren mit einer Welt konfrontiert, in der sich die tektonischen Platten der Wirtschaft verschieben. Zentralbanker in den USA und Europa arbeiten gegeneinander. Die US-Notenbank Fed wird die geldpolitische Unterstützung allmählich abbauen, während die EZB die Schleusen noch lange und weit geöffnet lässt. Japan und China lockern ebenfalls. Der erwartete Zinsschritt der Fed soll ein Zeichen für eine Wirtschaft im Aufschwung sein, aber es jubeln nur wenige. Was auch immer die Mächtigen unternehmen, um die Weltwirtschaft aus ihrem Tief zu holen – die Ergebnisse erscheinen bescheiden. 

Zwei Szenarien dominieren

Die weltweite Politikdebatte ist unübersichtlich. Aber es gibt zwei dominierende Ansichten: Die erste, eher orthodox, geht davon aus, dass die Welt nach der Schuldenkrise einfach nur unter einem langen Katzenjammer leidet, den die zyklischen Entwicklungen an den Rohstoffmärkten zusätzlich verschlimmern. Noch etwas mehr geldpolitische Stimuli, etwas mehr Zeit um eine Deflation abzuwehren, und alles wird gut. 

Das zweite, düsterere Szenario geht davon aus, dass wir auf dem Weg in eine fundamental andere Welt sind, in der sich Inflation und Arbeitslosigkeit nicht mehr so verhalten wie früher, wo eine alternde Bevölkerung dauerhaften Negativeinfluss auf die Produktion ausübt und wo mehr als sieben Billionen Dollar, die die Zentralbanken der Industrieländer für quantitative Lockerungen ausgegeben haben, die Deflationsängste nicht vertreiben werden.

Rohstoffpreise und China werden weiter zu schaffen machen

«Es ist schwer, irgendwo inflationären Druck zu erkennen, und das ist untypisch für eine Erholung, die seit sieben Jahren im Gange ist», sagte Bob Michele, Investmentchef bei J.P. Morgan Asset Management in New York. Sein Fazit: «Das bedeutet, dass diesmal etwas anders ist.»

Die Rohstoffpreise, grossenteils für die Schwäche der Gesamtinflation in der letzten Zeit verantwortlich, werden wohl auch im kommenden Jahr keine grosse Hilfe sein. Eine Bloomberg-Umfrage unter Analysten ergab, dass die US-Rohölpreise 2016 im Durchschnitt bei etwa 55 Dollar je Barrel liegen werden, das wäre nur wenige Dollar höher als im Durchschnitt 2015.

Die chinesische Wirtschaft, die in ihren Boomjahren die Metall- und Energiepreise auf Allzeithochs trieb, zeigt ebenfalls Schwäche, während die Regierung versucht, den Übergang von einem exportabhängigen Wachstum zu einer verbrauchergetriebenen Aktivität zu schaffen. Die 6,9 Prozent Wachstum, die China im dritten Quartal vorlegte, war das schwächste seit der weltweiten Rezession, und das Gesamtjahr wird wohl das schwächste seit zwei Jahrzehnten. 

Euro-Dollar-Beziehung im Fokus

Geldpolitiker, die ihre Ausbildung in einer Zeit erhalten haben, wo Notenbanken zu hohe Inflation bekämpften, haben in der heutigen Zeit fehlender Preissteigerungen ihre Probleme. Es gebe «Verwirrung» innerhalb des Berufsstands, sagte David Folkerts-Landau, Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Dennoch müssten die Investoren mit der Kluft in der transatlantischen Geldpolitik klarkommen.

Zentraler Punkt ist laut Folkerts-Landau, dass der Euro zum Dollar wahrscheinlich weiter an Wert verlieren wird. «Wir werden höchstwahrscheinlich die Tiefststände dieses Jahres wieder sehen und, wer weiss, vielleicht geht es noch weiter abwärts in Richtung der Parität oder darunter.» Am 10. November kostete der Euro etwa 1,07 Dollar, lag aber seit 2002 nie unter einem Dollar. 

Renditen unterscheiden sich deutlich

Die von Bloomberg befragten Analysten erwarten, dass sich die Divergenz der Anleihenrenditen zwischen den USA und Europa 2016 ausweiten wird – eine unvermeidliche Konsequenz der besseren Wirtschaftsentwicklung und daher höherer Leitzinsen im Gebiet der Fed. Zweijährige US-Treasuries könnten zu Jahresende bei 1,68 Prozent rentieren, lautet die Durchschnittsprognose, verglichen mit Minus 0,12 Prozent bei vergleichbaren deutschen Bundesanleihen. 

Etwa 3,5 Billionen Dollar der rund 25 Billionen Dollar Staatsschulden, die im Bloomberg Global Developed Sovereign Bond Index abgebildet werden, haben negative Renditen. Das unterstreicht die Merkwürdigkeiten, mit denen es die Marktakteure zu tun haben. In Europa ist in den letzten 500 Jahren keine Periode zu finden, in der die Renditen niedriger waren. Die Deutsche Bank hat so weit in die Geschichte der Staatsanleihen zurückgeblickt.

Was hier funktioniert, funkioniert nicht unbedingt da

Mit Leitzinsen von oder nahe null und Marktzinsen oftmals darunter wird deutlich, dass das Standard-Arsenal der geldpolitischen Instrumente erschöpft ist. Im Januar wird die EZB zwar noch mindestens 500 Milliarden Euro übrig haben, die sie im Rahmen ihres Programms quantitativer Lockerungen ausgeben kann, doch die Skepsis wächst, ob dieses Mittel wirken wird. 

«Man kann sich schwer vorstellen, dass es hier funktioniert, bloss weil es in den USA funktioniert hat», sagte Harvard-Ökonom Martin Feldstein im Oktober an der Frankfurter Goethe-Universität. «Ich sehe keinen Wirkungsmechanismus der tatsächlich einen Anstieg der Inflation oder der Aktienkurse bewirken würde.» 

Neue Handlungsrezepte gefragt

Wenn schwere Zeiten verzweifelte Massnahmen erfordern, dann zeigen die sonderbaren Ideen, die in Geldpolitikerkreisen diskutiert werden, dass wir wirklich in seltsamen Zeiten leben. Andy Haldane, Chefvolkswirt der Bank von England, hat sich als führender Kopf unter denen hervorgetan, die überlegen, welche Handlungsrezepte aufgrund einer veränderten Wirtschaft diskutiert und erforscht werden müssten – auch wenn diese noch so ausgefallen erscheinen mögen. «Wenn die weltweiten Zinsen dauerhaft niedriger sind, dann müssen die Zentralbanken ihre Fantasie spielen lassen», sagte Haldane im September. «Wir haben es mit den fundamentalsten Herausforderungen für Zentralbanken seit einer Generation zu tun.» 

Es sei zumindest «denkbar», dass eine Zentralbank ihr Inflationsziel höher setzt, erklärt er. Dadurch könnte die Geldpolitik eine Erholung für längere Zeit unterstützen und den Leitzinsen mehr Spielraum geben, oberhalb von null zu schwanken. «Simulationen deuten an, dass ein Inflationsziel von vier Prozent genügend geldpolitischen Spielraum lässt, um fast alle der grössten Rezessionen in der Vergangenheit abzufedern», sagte er. Dagegen seien die Kosten abzuwägen, die sich für eine Institution in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit und die öffentliche Unterstützung ergäben. 

Den Leuten das Bargeld und die Fluchtmöglichkeit nehmen

Eine andere Idee, die laut Haldane im Rahmen des Möglichen liege und Erforschung verdiene, sei die Abschaffung des Bargelds durch eine elektronische Währung. Dadurch könnten negative Zinsen einfacher berechnet werden. So seltsam es auch klingen mag, dadurch könnte ein Problem angegangen werden: Wenn Banken einmal negative Zinsen zahlen und dafür auf das Geld zurückgreifen, das sie verwahren, dann haben die Einleger einen Anreiz, ihr Geld einfach abzuheben und als Bargeld zu halten. Das sei ein Grund, warum der Geldpolitik der Spielraum ausgehe, wenn die Zinsen auf null fallen. Die Bank von England erforsche diese Idee, verriet Haldane.

Noch empfiehlt er solche Rezepte nicht. Sie sollten studiert und eventuell vorbereitet werden. Sie könnten einmal zum geldpolitischen Arsenal gehören, wenn die derzeitigen quantitativen Lockerungsprogramme, wie das der EZB 2016, nicht greifen. Falls die US-Wirtschaft ins Stolpern gerät, wenn die Fed ihre Straffungen eher zum Ende eines Wachstumszyklus’ beginnt und nicht am Anfang, könne ernsthaft über ein höheres Inflationsziel nachgedacht werden.

Kurs halten oder Geld- und Fiskalpolitik abstimmen

Eine Änderung der Zentralbankmandate oder eine Ächtung von Bargeld erscheinen allmählich als vernünftige Ideen im aktuellen Umfeld, in dem es so aussieht, als seien niedriges Wachstum und eine niedrige Inflation dauerhaft, sagte Mark Zandi, Chefvolkswirt von Moody’s Analytics in New York. Jedoch könnte die Erklärung für die Malaise auch einfacher sein als Haldane und andere suggerieren, und das geeignete Gegenmittel könnte darin bestehen, Kurs zu halten: «Ich glaube, dass die Geld- und Fiskalpolitik eigentlich ganz gut funktioniert haben; es ist einfach so, dass der Schock, den wir erlebt haben, so massiv war.» 

Auch wenn sie vor Ideen, wie sie Haldane ins Gespräch bringt, zurückschrecken: Immer mehr Ökonomen verlangen, dass stärker auf das Zusammenwirken von Geldpolitik und Fiskalpolitik geachtet wird. In Europa fand die geldpolitische Unterstützung für die Wirtschaft hauptsächlich vor dem Hintergrund einer fiskalischen Sparpolitik statt, und selbst in den USA liessen die fiskalischen Stimuli schnell nach, nachdem die Rezession vorbei war. Janet Henry, Chefvolkswirtin bei der HSBC Bank, sagt, das dieses Thema auf der Agenda sein sollte. Aber sie ist skeptisch, ob Europa irgendetwas annehmen wird, was die Verbindung zwischen Politik und der Zentralbank enger macht: «So viele glauben immer noch sklavisch daran, dass wir total unabhängige Zentralbanken brauchen», sagte sie. 

Erik Nielsen, Chefvolkswirt der italienischen UniCredit, wünscht sich ebenfalls eine Debatte über eine bessere Koordination von geldpolitischer und fiskalpolitischer Unterstützung der Wirtschaft. «Ich würde mich freuen, wenn die politische Klasse endlich ernsthaft über den Politikmix diskutieren würde», sagte er. Seiner Ansicht nach könnte so auch verhindert werden, dass die eher verrückten Ideen ins Spiel kommen: «Man kann entweder eine glaubwürdige Debatte über eine bessere Koordinierung der Geld- und der Fiskalpolitik führen – oder man begibt sich ins Voodoo-Land.»

(bloomberg/jfr)