Es war Punkt 18 Uhr, als Gianni Infantino im Zürcher Hallenstadion seine rechte Hand auf sein Herz legte und sich Richtung Rednerpult bewegte. Er wisse nicht, was er nun sagen solle, erklärte der 45 Jahre alte Schweizer: «Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet.» Infantino blickte in die Menge, nein, er könne seinen Gefühlen jetzt keinen Ausdruck verleihen, sagte er. Der Mann war überwältigt.

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Er ist der neue Präsident des Fussball-Weltverbandes Fifa, der hochrangigste Funktionär des Planeten, gewählt bis Mai 2019. In der zweiten Runde einer dramatischen Wahl setzte sich Infantino mit 115 Stimmen gegen Scheich Salman aus Bahrain durch.

Unerwarteter Triumph

Es war ein Triumph für den 45 Jahre alten Schweizer, den sich Favorit noch kurz zuvor nicht hatte vorstellen können. Noch in der Nacht zum Freitag atmeten der Scheich, 50, und seine Unterstützer, die im Fünf-Sterne-Palast «Grand Hyatt» in der Nähe des Zürichsees untergebracht sind, auf. Da hiess es aus seinem Team, dass deutlich mehr als die nötigen 104 Stimmen zusammen sind. Trotzdem empfing der Bahraini noch bis weit nach Mitternacht Verbandspräsidenten in seiner Suite und bat sie, für ihn zu stimmen. Am nächsten Tag lag Salman schon in der Auftaktrunde mit 85 Stimmen drei Stimmen hinter Infantino; Prinz Ali aus Jordanien mit 20 und der Franzose Jerome Champagne (7) waren da schon aussichtslos zurück.

Salman, seit 2013 Präsident des asiatischen Fussball-Verbandes und damit Vize-Chef der Fifa, war im Herbst vergangenen Jahres als grosser Favorit in den Wahlkampf gegangen, allerdings kristallisierte sich zeitnah ein ernsthafter Gegenkandidat heraus: Infantino, seit 2009 Generalsekretär des europäischen Verbandes Uefa, bekannt geworden als Losfee bei Europapokal-Auslosungen. Infantino war eingesprungen, als Uefa-Präsident Michel Platini seine Ambitionen auf das höchste Amt im Weltfussball wegen Korruptionsverdachts aufgeben musste.

Fünf Mal in vier Monaten um die Welt

Fünf Mal reiste der Schweizer in den vergangenen vier Monaten des Wahlkampfs nach eigenen Angaben um die Welt, um die Chefs der Nationalverbände auf ihn einzuschwören. Stets mit im Gepäck: bemerkenswerte Wahlversprechen wie die Aufstockung der WM-Teilnehmer von 32 auf 40 und die Verdoppelung der Entwicklungshilfezahlungen für die Mitgliedsstaaten. Das waren Aktionen im Stile von Blatter, der sich in seiner Ära stets mit ähnlichen Versprechen die Unterstützung gesichert hatte. Infantino war der einzige Kandidat, der während seiner Rede vom Applaus aus dem Plenum unterbrochen wurde - als er über eben jene Geldgeschenke sprach.

Emotionalste Rede

Wenn man davon ausgeht, dass zumindest einige Stimmen erst am Freitag und nicht schon zuvor bei Hinterzimmergesprächen vergeben wurden, dann war es womöglich auch der Rest der Rede von Infantino, mit der er die Delegierten von sich überzeugte. Der Schweizer wechselte in fünf Sprachen hin und her, er redete Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch, Spanisch und etwas Arabisch. Er wollte beweisen, dass er ein Kosmopolit ist, ein Weltbürger, der sich in die Perspektive eines jeden Nationalverbands hineinversetzen kann. Infantino erzählte von Begegnungen mit Strassenfussballern in Papua-Neuguinea und Kindern in Afrika, denen er in die Augen schaute und sich fragte: «Was können wir hier als Fifa tun?» Es war die emotionalste aller Ansprachen, Infantino gab alles, um das Fifa-Volk hinter sich zu bringen.

Salman dagegen hatte Infantinos Versprechen in seiner Rede als unverantwortlich abgetan. Er verwies auf die aktuelle finanzielle Situation der Fifa: Im Vier-Jahres-Zeitraum bis 2018 rechnet die Führungscrew mit einem Minus in Höhe von 560 Millionen US-Dollar, mehr als ein Drittel der Reserven werden bis dahin aufgebraucht sein. «Wenn wir Versprechen geben, müssen wir realistisch bleiben», sagte Salman im Bezug auf diese Zahlen. Und weiter: «Ich bin nicht bereit, das Überleben der Fifa aufs Spiel zu setzen, um meine eigenen Ziele zu erreichen.» Es war ein Statement der Vernunft, aber es half nichts.

Der grosse Abwesende

Noch schmerzhafter als für Salman dürfte der Tag nur für Sepp Blatter gewesen, seine Ära ist nun endgültig vorbei. Weil der 79 Jahre alte Schweizer eine ungerechtfertigte Millionenzahlung an Uefa-Präsident Michel Platini genehmigte, wurde er im Dezember von der Fifa-Ethikkommission suspendiert und für acht Jahre gesperrt; in der Berufung wurde die Sperre auf sechs Jahre reduziert. Als Reaktion auf die Ermittlungen von US-amerikanischen und Schweizer Staatsanwälten gegen die Fifa hatte er seinen Rücktritt schon vorher angekündigt, beim Kongress wollte er eine Abschiedsrede halten. Aber das ging nicht.

Blatter, der seit 1998 Präsident war und insgesamt 40 Jahre für den Verband tätig war, hatte Hausverbot - schlimmer hätte sein Ende als mächtigster Fussball-Funktionär des Planeten nicht sein können. Selbst Interimspräsident Issa Hayatou, einer von Blatters engsten Vertrauten, der Leiter des Kongresses, erwähnte ihn mit keinem Wort - weil er nicht wollte oder nicht durfte?

Der Kongress, er war auch eine grosse Showeinlage, bei dem alle den Wandel, eine neue Fifa, beschwörten. Selbst die grössten Reformverhinderer, die der Fussball je gesehen hat, hatten ganz plötzlich erkannt, dass die Fifa ein korruptionsverseuchter Laden ist und sich etwas ändern muss. Was dahinter steckt? Offen redet niemand darüber, aber klar ist, dass der Druck der US-Justiz immens ist. Bislang sieht Amerika die Fifa als Opfer von korrupten Offiziellen; ändert sich das und wird die Fifa selbst als korrupt eingestuft, droht ihr die Zerschlagung. Also kein Wort über Blatter, der für das alte System stand.

Neu aufgestellte Fifa

Nur einer hielt sich nicht daran: der Südafrikaner Tokyo Sexwale, der am Ende seiner Wahlrede den Verzicht auf seine Kandidatur bekannt gab. Er nannte Blatter und die anderen Gesperrten «Familienmitglieder und Freunde», die hoffentlich als «neue Menschen» zurückkehren würden. Dieser Wunsch dürfte kaum in Erfüllung gehen, die Fifa will sich ja runderneuern. In den Stunden vor der Präsidentschaftswahl hatte der Kongress tiefgreifende Reformen verabschiedet. Das Paket mit einer Machtbeschränkung für den Präsidenten und die Exekutivmitglieder wurde mit der Zustimmung von 89 Prozent der Stimmberechtigten abgesegnet. „Wir müssen eine Botschaft an die Welt richten, eine Botschaft der Einheit", hatte Hayatou vor der Abstimmung gesagt und erklärt: «Die Fifa beginnt ihre Reise mit dem Ziel, wieder Vertrauen herzustellen.»

Mit der Reform will der Verband die politische von der ökonomischen Entscheidungsebene trennen. Zudem gilt für den Fifa-Präsidenten und die Mitglieder des neuen Councils, das das umstrittene Exekutivkomitee ablösen soll, eine Beschränkung auf drei Amtszeiten à vier Jahre. Sie müssen sich vor Amtsantritt einem externen Integritätscheck unterziehen, ihre Gehälter werden offengelegt; der Präsident verliert durch diese Veränderungen, die innerhalb von 60 Tagen nach dem Kongress in Kraft treten, an Macht, hat künftig eine vor allem repräsentative Funktion.

All das ist mindestens genauso wichtig wie ein Präsident, der das System Blatter vergessen macht. Der für eine andere Mentalität steht und einen Kulturwandel herbeiführt. Infantino jedenfalls kündigte an, das hinzukriegen. «Wir werden den Ruf bei der Fifa wieder herstellen», sagte er. Der neue Fifa-Chef, so sagte er, wolle nun eine Ära einleiten, bei dem der Fussball wieder im Zentrum steht. Die Krise sei vorbei, nun würde mit Hingabe gearbeitet werden. Es war ein grosses Versprechen, das Infantino am Ende eines langen Tages gab: «Am Ende wird uns die ganze Welt applaudieren.»

Dieser Artikel erschien zunächst in der «Welt» unter dem Titel «Weshalb Gianni Infantino Fifa-Präsident wurde».