Während in den letzten Tagen bei den Europawahlen über die Zusammensetzung des EU-Parlaments entschieden wurde, verharrte die Schweiz im Entscheidungsstillstand bei der Frage, wie die Beziehungen zur Europäischen Union weiterentwickelt werden sollten. Die EU erklärt das von Berner und Brüsseler Unterhändlern ausgehandelte Institutionelle Rahmenabkommen zum endgültigen Vertragstext, während der Bundesrat offiziell von einem Vertragsentwurf spricht. Die Forderung nach Nachverhandlungen macht die Runde.

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Zugleich strebt die Schweiz ein Freihandelsabkommen mit den USA an. Immer offensichtlicher wird, dass solch ein Vertrag nur zustande kommt, wenn das Agrardossier einbezogen wird. Doch hier droht Unbill von der Agrarlobby, die mit ihrer Fundamentalopposition im Jahr 2006 bereits den ersten Anlauf zum Scheitern gebracht hat.

Peter Grünenfelder ist Direktor von Avenir Suisse, dem Think-Tank der Schweizer Wirtschaft. Zuvor war er unter anderem Staatsschreiber des Kantons Aargau und Präsident der Schweizerischen Staatsschreiberkonferenz. Er ist auch Lehrbeauftragter für Public Governance an der Universität St. Gallen.

Bemerkenswert: War die Wertschöpfung der Schweizer Bauern schon vor 13 Jahren sehr gering, trägt heute die Landwirtschaft nur noch knapp 0,7 Prozent zum BIP bei – ein historischer Tiefstand. Nach wie vor ist die Bauernlobby jedoch weder bereit, ein Freihandelsabkommen mit den USA zu unterstützen, noch dem Rahmenabkommen zuzustimmen.

«Mit 50'000 Franken wird jeder Schweizer Bauer im Schnitt unterstützt. Die Ausbildung pro Student kostet jährlich 32'000 Franken.»

Vergessen wird, dass unser Land laut der deutschen Bertelsmann Stiftung überproportional von der globalen Handelsintegration der Unternehmen profitiert. Kein anderes europäisches Land (EU-Mitglieder eingeschlossen) erreicht auch nur ansatzweise die gleichen ökonomischen Vorteile durch den EU-Binnenmarkt wie die Schweiz.

Doch nicht nur wirtschaftlich, auch bei der Bildung und Forschung steht für das Land von Johann Heinrich Pestalozzi viel auf dem Spiel. Kommt es zu keiner Einigung über das Rahmenabkommen, wird die Schweiz ab 2021 nur eingeschränkt am weltgrössten Forschungs- und Innovationsprogramm teilnehmen können. «Horizon Europe» mit einem Budget von fast 100 Milliarden Euro gilt als Champions League der Wissenschaft.

Bei Bildung und Forschung steht viel auf dem Spiel

Man ist hierzulande berechtigterweise stolz, dass ETH und EPFL in globalen Hochschulrankings Spitzenpositionen belegen. Ihre Stärken beruhen wesentlich auf Internationalität und grenzüberschreitender Kooperation. Der Anteil ausländischer Professoren an der ETH beträgt 67 Prozent. 43 Prozent aller EU-Fördermittel, die von 2010 bis 2017 an Schweizer Institutionen gingen, flossen in den Hochschulraum am Arc lémanique.

Exportindustrie und Bildungsinstitutionen scheuen den internationalen Wettbewerb nicht und sehen die Vorteile eines Rahmenabkommens.

Dem steht die aktuelle politische Gewichtung gegenüber: Mit jährlich knapp 50'000 Franken wird jeder Schweizer Bauer im Durchschnitt direkt und indirekt unterstützt, 32 000 Franken kostet die Ausbildung pro Student jährlich. In Bezug auf die Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und Prosperität ist diese Prioritätensetzung zu hinterfragen.