Nicht alle Schweizerinnen und Schweizer sind reich. Und erst recht werden nicht alle Schweizerinnen und Schweizer reich sein, wenn sie alt sind. Es gibt Leute, die ihr Leben lang weniger verdienen und sich deswegen Sorgen machen (müssen). Die Schweiz entwickelt sich auf direktem Weg zur Pensionsklassengesellschaft.

Man muss fast von Diskriminierung sprechen, die technisch über den so genannten «Koordinationsabzug» abläuft. Er beträgt 22 575 Franken. Was sich harmlos anhört, hat für Niedriglohnempfänger gemeine Folgen. Ein Arbeiter mit 35 000 Franken Einkommen kommt nach dem Koordinationsabzug auf einen versicherten Lohn von 12 425 Franken; sein Kollege, der doppelt so viel verdient, kommt auf einen fast viermal so hohen versicherten Lohn: 70 000–22 575 =47 425 Franken. Also erhält dieser Kollege viermal so hohe Arbeitgeberbeiträge und wird am Ende eine viermal so hohe Rente erzielen.

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Diese Zweiteilung der Bevölkerung hat zweiteilige Auswirkungen: Die heute wenig verdienende und deswegen in der zweiten Säule schwach versicherte Hälfte wird im Alter zum Armutsrisiko, weil ihre AHV-Rente allein die Existenz nicht deckt. Diese Lücke muss mit Ergänzungsleistungen zur AHV aufgefüllt werden.

Für alle andern aber sind die Aussichten heiter: Wer zur Pensionsklasse gehört, hat keinen Grund zum Klagen. Das Obligatorium der zweiten Säule gilt bis zu einem Lohn von 77 400 Franken (ab Januar). Wer regelmässig über die Jahre etwa so viel verdient, hat nach der Pensionierung eine schöne Zeit vor sich: Rund 60 Prozent des letzten Lohns sind garantiert.

Im Drei-Säulen-Paradies Schweiz leben die «oberen 60 Prozent» der Altersrentner bereits heute in vorzüglichen Verhältnissen. Nachschlagen kann man das in der Nationalfondsstudie unter dem Titel: «Wer zahlt für die soziale Sicherheit, und wer profitiert davon?» Hier werden alle Altersrentner in fünf Gruppen (Quintile) eingeteilt. Das oberste Fünftel erhält aus der AHV und der zweiten Säule eine jährliche Rente von 73 000 Franken, wenn es sich um Einzelpersonen handelt, und 97 000 Franken, wenn es Paare sind. Berücksichtigt sind die erste und die zweite Säule – es fehlt die dritte Säule, es fehlen Zinsen aus privaten Ersparnissen.

Nicht nur das oberste Fünftel lebt formidabel, auch das dritte und mittlere Quintil: Einzelpersonen erhalten 46 000 Franken, Paare 66 000 Franken aus AHV und Pensionskasse. Das tönt nach wenig, aber dieser Eindruck täuscht.

Alle Zahlen gelten für das Jahr 1998, und mitgezählt wurden alle Pensionierten, auch die Hundertjährigen.

In der Zwischenzeit sind sechs weitere Jahre vergangen, was bei den Pensionskassen viel bedeutet, denn die berufliche Vorsorge ist erst seit 1985 obligatorisch. Je länger es geht, umso stärker greift sie. Die Jahrgänge ab 1940, die nun pensioniert werden, haben viel höhere Renten als die oben genannten, dank der zweiten Säule; und immer öfter kommt die dritte hinzu. «Pensionsklassengesellschaft», das zeigen diese Zahlen, heisst, dass die oberen 60 Prozent eine schöne Zukunft – und keinen Grund zum Klagen – haben.

Bürgerliche Politiker reden zwar viel über die «Probleme der Altersvorsorge», das Ausmass des Altersreichtums interessiert sie weniger. Dabei geht es hier um des Pudels Kern: «Bei der Altersvorsorge ist die Frage absolut berechtigt, ob das schweizerische System nicht weit über das Ziel hinausgeschossen hat», schreibt der Basler Ökonomieprofesssor Silvio Borner. «Heute lebt ein Grossteil der Rentner in komfortablen finanziellen Verhältnissen, und es werden in der Mehrzahl der Fälle nach der Pensionierung noch zusätzliche Ersparnisse gebildet.» Man muss gar von «Übervorsorge» sprechen, der besonders die reichsten Leute verfallen sind. Der Bestsellerautor Walter Wittmann betitelt sein neues Buch kurz und bündig mit «Sicherheitswahn».

Eine tiefere Ursache für den Vorsorgewahn liegt im Steuersystem: In der Schweiz ist das Sparen in der zweiten und dritten Säule zusätzlich populär, weil damit Steuern gespart werden können.

Zur Zeit der Pensionierung sind die Leute im Durchschnitt nicht nur reich, sondern sehr reich. Unter den über 65-Jährigen im Kanton Zürich versteuert jeder fünfte Verheiratete mehr als eine Million Franken Vermögen, jeder zweite immerhin noch mehr als 360 000 Franken. Bei den über 85-Jährigen versteuert die obere Hälfte über 400 000 Franken. Aber auch im ländlichen, etwas ärmeren Solothurn versteuern die 60- bis 70-Jährigen im Schnitt 175 000 Franken Vermögen, die 70- bis 80-Jährigen im Schnitt 260 000 Franken und die über 80-Jährigen im Schnitt 300 000 Franken.

Das ist schön für die Betroffenen, aber fast schon «pervers» aus Sicht der Gesellschaft. Je länger die Schweizerinnen und Schweizer pensioniert sind, je länger ihr erwerbsfreier Lebensabend dauert, umso mehr Geld legen sie auf die Seite. Das widerspricht sämtlichen Theorien über den Lebenszyklus des Sparens, wonach die Menschen, ähnlich wie die Eichhörnchen, bis ins Alter von 65 ihre Nüsse auf die Seite bringen, um diese nachher zu verspeisen. Unsere Senioren, zumindest deren «obere Hälfte», zehren nicht vom Ersparten. Im Gegenteil: Sie vermehren ihr Vermögen.

Oft vergessen geht die Vererbung, ein Kapitel, das in der Schweiz gänzlich unerforscht ist. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 52 ist ein Projekt «Erben in der Schweiz» an das Berner Büro Bass vergeben worden, das diesen «für die Generationenbeziehung zentralen Bereich für die Schweiz erstmals statistisch ausleuchten» soll. Denn die Vererbung stellt nichts anderes dar als eine private Form der Umverteilung, die heute, grob gesagt, von den 80- bis 100-Jährigen zu den 50- bis 70-Jährigen läuft und von einem Ausmass ist, das der Wirtschaftsjournalist Alain Zucker auf 24 bis 29 Milliarden Franken im Jahr schätzt.

Das Thema ist politisch aufgeladen: Just die Erbschaftssteuern sind in den meisten Kantonen abgeschafft worden – mit Folgen für die Solidarität zwischen den Generationen. Der Basler Integrationsbeauftragte Thomas Kessler bringt es auf folgenden Punkt: «Es ist nicht solidarisch und auch nicht einsichtig, dass das riesige Schweizer Volksvermögen, das heutzutage hauptsächlich von Hochbetagten an die jüngere Rentnergeneration vererbt wird, in einem Kreislauf ausserhalb der Jugend- und Familienförderung und der Rentenmitfinanzierung zirkuliert.»

Wenigstens zahlen die Reichen unter den Rentnern Steuern. Und da so viele so reich sind, zahlen sie sogar sehr hohe Steuern. Eine Untersuchung der Staatsfinanzen in Basel-Stadt ergab zunächst das erwartete, dann das überraschende Ergebnis: «Die Einkommenssteuern sinken nach der Pensionierung deutlich ab, doch wird dieser Effekt durch stark steigende Vermögenssteuerbeträge kompensiert.» Pro Kopf zahlen die über 65-Jährigen in Basel-Stadt sogar ein bisschen mehr Steuern als die 25- bis 65-Jährigen. Wobei Basel wohl ein Spezialfall ist: Hier sind die Tarife der Vermögenssteuer hoch, trotzdem bleibt der noble «Daig» seiner Stadt treu.

Das weltweit gelobte Dreisäulenprinzip beginnt Früchte zu tragen. In unzähligen Seminaren und Tagungen rätseln Marketingfachleute bereits, welche Sektoren von der zunehmenden Kaufkraft der Senioren am meisten profitieren. Der Tourismus? Der Fitness- und Wellnessbereich? Die Möbel-, die Unterhaltungs-, die Pflegeindustrie? Oder doch der Immobilienmarkt? «Wer das Alter lobt, hat ihm nie ins Antlitz geblickt», schreibt der Turiner Philosoph Norberto Bobbio über seine eigenen Erfahrungen. Schaut man dem Alter in der Schweiz ins Gesicht, drängt sich eine Differenzierung auf: Offenbar kommt es auf die Umstände an.

Menschen werden mit steigendem Alter nicht etwa gleicher, sondern ungleicher. Das endet bei der geistigen Konstitution, geht über zur finanziellen und beginnt bei der gesundheitlichen. Die einen Senioren bleiben aktiv und fit, treiben Sport und Sex, reisen und tanzen, gehen ins Konzert und ins Theater, kaufen gern ein und essen gern gut.

«In einer Zeit, in der Pensionäre ‹Harry Potter› lesen, SMS schreiben, Sneakers tragen, Big Macs futtern, Internetkurse belegen und an Antiglobalisierungsdemonstrationen teilnehmen, ist das Alter kein absolutes Segmentierungskriterium mehr», schreibt der Zürcher Werber Geri Aebi. «Vorbei sind die Zeiten, als Konsumenten einfach in Alters- und Gehaltsklassen eingeteilt werden konnten. Heute sind sie hybrid, multioptional oder sogar paradox. Nicht die Person zählt, sondern die Rolle, die sie spielt. Und dies gilt für die ‹jungen› Alten mehr als für alle andern. Sie geben sich polyvalent. Während ihre Kinder auf Kreuzfahrt gehen, fahren sie Snowboard oder trainieren für den nächsten Marathon.»

Selbstverständlich sind nicht alle Alten so fit und fröhlich. Eine von fünf Personen ist beim Start in den Ruhestand invalid; die vier andern aber rechnen nach, ob sie es sich leisten können, früher in Rente zu gehen. Bei Leuten mit weniger als 25 000 Franken Jahreseinkommen beträgt der Anteil der Frühpensionierungen nur zehn Prozent, bei Leuten mit mehr als 104 000 Franken leistet sich bereits eine Mehrheit von 54 Prozent den vorzeitigen Ruhestand.

Reibungslos wird der Übergang in die Pensionierung nie verlaufen. Abzusehen ist, dass das offizielle Rentenalter steigen muss, nur schon wegen der weiter zunehmenden Lebenserwartung. Ist das auch gerecht? Hierauf hat Sozialminister Pascal Couchepin neuerdings eine differenzierte Antwort: Das Rentenalter soll nur für die Besserverdiener auf 66 und später auf 67 erhöht werden, aber Wenigverdienende sollen früher in Rente gehen dürfen. «Für mich ist ein solches Modell sozial, gerecht und realisierbar», sagte Couchepin zur «SonntagsZeitung».

Der Vorschlag besticht, denn vor dem Tod sind nicht alle gleich. «Die Fakten sind klar, aber noch wenig thematisiert», bestätigt der Zürcher Präventivmediziner und FDP-Nationalrat Felix Gutzwiller. «Auch in der Schweiz hat die soziale Grundschicht eine deutlich geringere Lebenserwartung.» Die Differenz beträgt rund vier Jahre.

Bei den Besserverdienern hingegen handelt es sich heute schon um eine Kategorie, die weitgehend nach eigenen Regeln funktioniert. Wer eine gute Pensionskasse hat, kann sich eine Frühpensionierung leisten, selbstständig. Und muss nicht warten, bis die AHV kommt.

Dank der zweiten Säule wird die Altersvorsorge für Besserverdiener individualisiert. Dumm ist nur, dass die Schweiz diese Strategie nicht voll durchzieht. In den Pensionskassen gibt es heute ein Obligatorium: Es reicht bis zu einer oberen Grenze von 77 400 Franken Jahreslohn. Bis hierher müssen sich alle Arbeitnehmer versichern, damit sie am Ende zusammen mit ihrer AHV rund 60 Prozent des versicherten Lohns als Rente kriegen. So ein Standard ergibt Sinn, bis hierher geht es um die Sicherung eines Minimums.

Was darüber hinausgeht, kann der Staat getrost dem Individuum überlassen. Ein jedes weiss selber am besten, wie viel es fürs Alter zurücklegen will. Noch besteht leider ein Zwangssystem, ein so genanntes «Überobligatorium», das auch Jahreslöhne über 77 400 Franken pflichtversichert, und meist bis zu einem Maximum von sage und schreibe 776 000 Franken. Das ist der reine Luxus. So treibt der Staat die Leute zu einer Übervorsorge an, was auch aus volkswirtschaftlicher Sicht völlig übertrieben ist, wie die Experten der OECD und des IWF regelmässig monieren.

Besonders sozial ist es auch nicht, weil Spitzenverdiener auf diese Weise in erster Linie Steuern sparen. Drei Sofortmassnahmen drängen sich auf:

1. Das so genannte «Überobligatorium» ist für freiwillig zu erklären.
2. Das Steuerprivileg muss abgeschafft werden, zumindest im Überobligatorium.
3. Die Arbeitnehmer entrichten den vollen Pensionskassenbeitrag selber.

Werden alle diese drei Punkte gleichzeitig umgesetzt, wird das Überobligatorium vollständig liberalisiert. Es gälte dann sogar die freie Wahl der Kasse. Auf einen Schlag dürften alle Arbeitnehmer frei entscheiden, wo sie wie viel überobligatorisch vorsorgen und wie viel sie sofort konsumieren wollen.

Es ist aberwitzig, wenn die jungen Erwachsenen, die gut verdienen und heute Kinder haben – also das Geld heute brauchen –, vom Staat zu einer überobligatorischen Vorsorge gezwungen werden. Jede Person lebt ihren eigenen Zyklus, jede kann frei entscheiden: Mit 40 spare ich lieber nichts fürs Überobligatorium, nach 50 vielleicht schon. Was geht das den Staat an?

Literatur zum Thema

  • Kilian Künzi, Markus Schärrer: Wer zahlt für die Soziale Sicherheit, wer profitiert davon? Verlag Rüegger, 2004.
  • Urs Müller: Demografie und Staatsfinanzen. In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. René L. Frey. VDF Hochschulverlag an der ETH Zürich, 2004.
  • Walter Wittmann: Der Sicherheitswahn, Verlag Huber, 2004.
  • Peter Moser: Alter, Einkommen und Vermögen. Eine Analyse der Zürcher Staatssteuerstatistik 1999. In: «Statistik.info» Nr. 23/2002, Zürich, 2002. Als PDF unter www.statistik.zh.ch

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BILANZ-Serie: Irrtümer der Wirtschaftspolitik

  • Irrtum Nr. 1: Die Ausländer nehmen uns die Jobs weg (BILANZ 3/2004)
  • Irrtum Nr. 2: Der Staat fördert das Wohneigentum (BILANZ 4/2004)
  • Irrtum Nr. 3: Die Inflation muss null Prozent betragen (BILANZ 5/2004)
  • Irrtum Nr. 4: Die Sozialhilfe belohnt das Nichtstun (BILANZ 6/2004)
  • Irrtum Nr. 5: Freie Fahrt für freie Bürger (BILANZ 7/2004)
  • Irrtum Nr. 6: Unser Bildungswesen ist das beste der Welt (BILANZ 8/2004)
  • Irrtum Nr. 7: Eigene Kinder sind Privatsache (BILANZ 9/2004)
  • Irrtum Nr. 8: Das Volk verhindert die Reformen (BILANZ 10/2004)
  • Irrtum Nr. 9: Die Entwicklungshilfe in den Schweizer Alpen (BILANZ 11/2004)