Die beiden gross gewachsenen Männer können es manchmal selbst nicht glauben. Vor allem jetzt, wo Robert Gentz und David Schneider wieder in der 3-Zimmer-Wohnung in Berlin-Mitte sitzen. 

In dieser schmalen Loge packten die beiden Uni-Abgänger vor zehn Jahren ihre ersten Flip-Flops in eine Kartonschachtel und verschickten sie. Ihr Versprechen an die Online-Besteller: Was nicht gefällt, darf kostenlos zurückspediert werden. Die beiden Mittdreissiger sind die Gründer von Zalando: Der 3-Zimmer-Schlauch im ersten Stock in D-10115 Berlin: Die Geburtsstätte von Zalando

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Was 2008 an der Torstrasse 218 begann, hätte wie viele Startups im fiebrigen Berlin schnell enden können. Cash verbrannt, Prozesse nicht durchdacht, am Kunden vorbei gedacht – das wäre dann auf dem Firmengrabstein gestanden. Doch es kam anders. Die Zalando-Gründer,befeuert von der Berliner Online-Schmiede Rocket Internet, wurden zusammen mit ihrem Co-Chef Rubin Ritter zu Tech-Millionären. Zalando wuchs zum Online-Ungeheuer. Millionen von Päckli, 15 000 Angestellte, 5 Milliarden Franken Umsatz: Der Flip-Flop-Winzling wurde zum Betriebssystem der Mode, zum Raubfisch, der sich mit Haifischzähnen in die Märkte frass. Besonders in der Schweiz

Erste Prognose um Faktor vier übertroffen

In weniger als einem Jahrzehnt gelang es einem zuvor unbekannten Player, zur Nummer eins im Schweizer Modehandel zu werden. Per 2017 stiess die deutsche Online-Walze, das zeigen aktuelle Zahlen von GfK Switzerland, erstmals den bisherigen und langjährigen Marktführer H&M vom Thron.

Eine epochale Machtablösung, sagt Thomas Hochreutener. Der Direktor Handel beim Marktforschungsinstitut GfK Switzerland, der dieses Jahr in Pension geht und als «Papst» des Schweizer Detailhandels gilt, sieht die historische Dimension: «In 39 GfK-Jahren überraschten mich nur zwei Dinge wirklich: dass Migros 2007 Denner übernahm. Und wie es Zalando schaffte, in nur sieben Jahren zur Nummer eins im Schweizer Modehandel zu werden.»

Ebenso erstaunt zeigt sich Patrick Kessler. Der Präsident des Verbands des Schweizer Versandhandels VSV verfolgte Zalando schon vor dem Markteintritt. Anfang 2011 traf er sich im Restaurant Au Premier im Zürcher Hauptbahnhof mit Ivo Scherkamp, der Zalando in der Schweiz aufbaute. Dessen Prognose: 400 000 Pakete im ersten vollen Geschäftsjahr 2012. «Das hielt ich für sehr, sehr ambitioniert», erinnert sich Kessler. Tatsächlich aber übertraf der Berliner Blitz den gewagten Forecast um den Faktor vier. 2012 kam Zalando in der Schweiz auf einen Umsatz von 160 Millionen Franken, was 1,5 Millionen Paketen entsprach. Danach machte Zalando in Millionen-Meilen-Stiefeln weiter. Die Konsumenten schrien vor Glück. Und eine ganze Branche fragt sich bis heute: Wie schaffte Zalando das?

Zalando
Quelle: Handelszeitung

«Von Beginn weg assimiliert»

Kessler sagt, dass die Deutschen den Sprung von der alten in die neue Welt besser als alle anderen schafften: «Zalando füllte eine Art Mode-Shopping-Vakuum in der Schweiz.» Der althergebrachte Versandhandel, der lange für einen Umsatz von 1 Milliarde Franken stand, erreichte die Jungen nicht mehr. «Mit Zalando gab es plötzlich eine Alternative für die Internet-affinen Kids – und die kostenlosen Retouren waren der ideale Lockstoff.» 

Dazu habe sich der Invasor als idealer Immigrant gezeigt. «Zalando hat Schweizer Prozesse sehr früh eingefiltert», sagt Kessler. Die Deutschen partnerten mit der Schweizer Post und führten wenige Wochen den Verkauf auf Rechnung nach Schweizer Art ein. «Zalando hat sich von Beginn weg assimiliert», sagt Kessler. Sogar der Slogan wurde eingeschweizert: Statt des schrillen Kriegsrufs «Schrei vor Glück» ging man im Land der Eidgenossen etwas sanfter zur Sache: «Schueh und Fashion online poschte» lautete der erste helvetische Lockruf. Kesslers Fazit: «Hinter Zalandos Markteintritt stand ein Meisterhirn.»

Zalandos Feldzug gelang auch deshalb, weil es in der Schweiz keinen ebenbürtigen Konkurrenten gab. Zwar gab es 2012 Schweizer Modehändler mit eigenem Webshop. «Doch diese rasselten in die Transformationsfalle», sagt Thomas Lang. Der Geschäftsführer der E-Commerce-Beratungsfirma Carpathia blickt zurück: «Die wenigen Schweizer Modehändler, die zu jener Zeit schon mit einem eigenen Online-Shop unterwegs waren, wollten ihr konventionelles Geschäft nicht mit E-Commerce kannibalisieren.»

Sie hätten weiterhin stark ins konventionelle Geschäft investiert. «So aber konnte kein radikal kundenzentriertes Online-Business entstehen.» Lang sieht den Siegeszug-Vorstoss in zwei Etappen: «In einem ersten grossen Biss erreichte Zalando die junge Generation. Mit einem zweiten holte man die Generation Vierzig plus an Bord, die früher brav in die Läden ging. Auf diesen Push hatte der konventionelle Schweizer Handel keine Antwort.» Mit den Gratis-Retouren habe das Unternehmen zudem einen grossen Shift eingeleitet: «Es verschob die Umkleidegarderobe nach Hause.»

Gratis-Retouren waren keine Neuheit

Eine Innovation waren die kostenlosen Retouren in der Schweiz nicht. Diesen Nummer-eins-Button kann sich das Online-Unternehmen Koala.ch an die Brust heften. Der Westschweizer Online-Schuhhändler ging schon 2010 mit kostenlosen Retouren live. Der Unterschied: Zalandoschaffte es damit zum grössten Player. Koala.ch aber, 2014 vom Genfer Schuhhändler Aeschbach Chaussures übernommen, blieb umsatztechnisch in der Regionalliga.

Matthias Fröhlicher, Gründer von Koala.ch und heute E-Commerce und Logistikchef bei Aeschbach Chaussures, hält die These vom idealen Immigranten Zalando für die «romantisierende Variante». Den wahren Grund für den ungestümen Erfolg von Zalando sieht er anderswo: In der geballten Werbe-Power, die sich das Unternehmen durch einen sogenannten «Media for Equity»-Deal leisten konnte. 

«Kolossaler Werbedruck»

Was Fröhlicher damit meint: Zalando ging eine wegweisende Partnerschaft mit dem deutschen Medienunternehmen ProSiebenSat.1 ein. Der Deal: Werbung gegen Firmenanteile. Beim Medienunternehmen lief das unter der Affiche «Media for Revenue». Die TV-Sender spielten die Spots für Zalando kostengünstig in Endlosschlaufe, für ProSiebenSat.1 lag dafür eine Exit-Partizipation zum Börsengang drin – Win-win. «Wenn man mir 2011 einen solchen Deal offeriert hätte, dann hätte ich auch unterschrieben», sagt Fröhlicher. Das Abkommen mit dem Medienhaus habe Zalando über Jahre hinweg «die Werbepower einer Migros verliehen». 

Beim Schweizer Erfolg von Zalando spielten auch die Preise eine Rolle. Allerdings eher auf gefühlte Art, sagt Fröhlicher: «Zalando war nie ein Preisbrecher. Aber die Firma profitierte beim Markteintritt vom Glauben der Konsumenten, dass die Preise im Internet immer tiefer seien als im stationären Handel.» 
An der Torstrasse dürften die Mietpreise in den letzten zehn Jahren gestiegen sein. Aber Nostalgie schlägt jedes Preisgift. Jüngst holten sich die Zalando-Gründer die Geburtsstätte zurück und mieteten die Wohnung wieder an. Trotz dem berauschenden Umsatzwachstum haben sie noch lange nicht genug. «Wir wollen den Umsatz bis 2020 verdoppeln», sagt Gentz

Die üblichen Gründer-Gefahren hat Riese Zalando wohl gebannt. Aber risikolos wird der Weg zur Firmen-Volljährigkeit kaum. E-Commerce-Spezialist Thomas Lang sieht eine grosse Gefahr: «Wenn die Generation Fünfzig plus als Kunde einsteigt bei Zalando, kann die Firma bei den Jungen als uncool gelten.» Die Kids würden sich dann neue Anbieter suchen, vielleicht aus China. «Die Konsumenten-Karawane zieht weiter.» Zalando könnte so vom Treiber zum Getriebenen werden. Vom Hai zum Fischfutter.

Andreas Güntert
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