An einer Stelle dampft es noch im Industriequartier. Zwischen Hardbrücke und Bahnviadukt, am westlichen Ende der Josefstrasse, zieht feiner Wasserdampf aus dem Schlot in den blauen Himmel. 420 Grad Celsius heisser, sauberer, ökologisch korrekter Dampf. 549 000 Tonnen pro Jahr.

Der Kamin der Kehrichtverbrennungsanlage ist einer der letzten Zeitzeugen in Zürich West, die an die vergangenen Zeiten des Industriequartiers erinnern. Noch rollen die 40-Tonner zu der Anlage, jedes Jahr 5000 Fahrten. Sie bringen Müll aus Deutschland hierher, füttern die Anlage mit dem Rohstoff, damit Zürich West genug Strom und Fernwärme bekommt. Bis 2020 soll das noch so weitergehen, dann wird die Anlage abgerissen. Dann wird ein weiteres Stück Industriegeschichte ausklingen, nach 116 Jahren.

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Die Geschichte von Zürich West ist noch lange nicht fertig geschrieben. Dort, wo die Zürcher früher ihren Kehricht hinbrachten, Turbinen und Schiffsmotoren herstellten, ist alles in Bewegung. Zürich West erstrahlt als Marke der blühenden Immobilienindustrie, glänzt als goldenes Label für schicke Büro- und luxuriöse Wohntürme. Und gleichzeitig bietet Zürich West Platz für ein Kulturleben, das in dieser Vielfalt an keinem andern Ort der Schweiz erlebbar ist. Alt und Neu, Arm und Reich, Arbeit und Tanz prallen nirgendwo sonst auf so engem Raum aufeinander wie hier. Immobilienkonzerne haben hier Milliarden investiert. Zürich West ist zur Projektionsfolie für die drängenden Fragen der Raumplanung geworden. Daher ist eine Zwischenbilanz der Quartiergeschichte angesagt: Wo steht Zürich West, und wohin wird sich der Stadtteil entwickeln?

Baufeld C, Hardturm. Arbeiter aus Ungarn, Polen und ostdeutschen Landgemeinden haben ihre betagten Personenwagen neben der Baustelle abgestellt. Sie sind «auf Montage» da draussen, wo Zürich gegen Westen immer unwirtlicher wird. Hier bauen sie im Auftrag des Baukonzerns Halter und der Hardturm AG ein Hochhaus. Unten wird ein Fünfsternehotel einziehen, vom elften Stockwerk an aufwärts entstehen kleine Appartements zum Preis von durchschnittlich 1,5 bis 2 Millionen Franken. Das Bautempo ist rasant: Auf Frühling 2014 ist der Einzug terminiert. Kaufwillige können das moderne Lebensgefühl mit perfekten Visualisierungen antizipieren. Was sie dort hören werden, können sie nur durch aufmerksame Lektüre der Werbeprospekte erahnen: «Der nahe Anschluss an die A1 bietet eine sehr gute Anbindung an den Individualverkehr in Richtung Basel und Bern.»

Gegenwelten. So wird Zürich West von Immobilienkonzernen um- und aufgebaut. Überall sind Baufelder eingezäunt, Bauvisiere gestellt und Baukräne platziert. Mehr als fünf Milliarden werden in Beton, Glas und Stein investiert. Hochhäuser und voluminöse Komplexe, oft so farb- und einfallslos entworfen wie die funktionalen Backoffice-Bauten von Kantonalbanken, werden bald schon die letzten Schrebergärten, Künstlerkolonien und Clublokale verdrängen.

«Halt!», rufen einige Romantiker, die sich im Biotop der Industriebrache ihre kleinen Nischen eingerichtet haben wie die Kleingewerbler im Schatten des trostlosen Heims der Heilsarmee auf dem Geroldareal. Nur wenige haben die Kraft zum Bleiben wie der sozial-ökologisch-nachhaltig-ethisch beseelte Martin Seiz (74). Der Unternehmer will eine Parzelle neben dem Schiffbau-Theater zum Kulturpark umgestalten. Auch bei ihm stehen die Visiere schon, aber er will einen Kontrapunkt setzen. Seine Vision ist die «Verbindung von Geist und Materie». Sein Areal wird die katholische Paulus-Akademie aufnehmen. 50 Mietwohnungen sollen für Menschen erstellt werden, die sich kein Luxusappartement leisten können. Und dennoch sind die Entwürfe seiner Häuser so fantasielos und langweilig wie vieles, was in Zürich West gebaut wird.

Neuerdings entsteht aus den betriebsamen Schwingungen ein reger politischer Disput. Es geht dabei um die Zukunft des Quartiers zwischen eiskalten Renditeberechnungen von Immobilien-Managern und sozialromantischer Nischennostalgie von Kleingewerblern, die sich im Container-Idyll eingerichtet haben.

«Eine seelenlose Kapitalverwertungsveranstaltung!», schimpft SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, eine HSG-Ökonomin mit grossbürgerlichen Wurzeln. «Lächerlich», erwidert Christoph Caviezel, Chef des Mobimo-Konzerns, Rechtsanwalt und seit 26 Jahren im Immobilienbusiness tätig. Er hat selbst bis Ende 2012 hier gewohnt und schätzt die Lebendigkeit: «Es hat Platz für alle.» Ein einsames Vergnügen sei es, abends um 21 Uhr durch das Quartier zu schlendern, findet wiederum Andreas Löpfe, Architekt und Immobilienökonom an der Uni Zürich. Doch auch der Experte verharrt nicht in kleinbürgerlichem Gemecker: «Es ist die einzig schräge, offene Ecke in Zürich, es hat Platz zum Denken und Leben.»

Der Disput gipfelte Anfang Februar in einer Studie, die der Mieterverein unter dem Titel «Immo Dorado Zürich West» vorlegte. Der Kernvorwurf der linksalternativen Autoren: Zürich West sei eine Goldgrube für raffgierige Konzerne, die günstigen Wohnraum und Freiräume für Künstler vernichteten.

Und dann verkündete der Stadtrat den Plan, ein Bundesasylzentrum im Quartier zu errichten. Ein Containerdorf, direkt vor den Augen der «Skyscrapies» im Mobimo Tower und im Wohnturm auf dem Toni-Areal. 15 Jahre lang soll die Asylsiedlung dort bleiben und bis zu 500 Asylbewerber aufnehmen. «Wir sind offen, und wir sind neugierig», erläuterte Stadtrat Martin Waser den Entscheid. Die «NZZ» kommentierte den Plan als «Reifezeugnis für ein Quartier, das den Kinderschuhen entwachsen ist». «Eine Win-win-Situation», meinte SP-Präsidentin Andrea Sprecher, die Lage auf dem Wohnungsmarkt werde sich entspannen. «Wahrscheinlich hat sie sogar recht», sagte SVP-Mann This Jenny, Unternehmer und Glarner Ständerat, schliesslich handle es sich um eine «ausgesprochen anspruchsvolle, aufsässige und viel zu oft auch kriminelle Kundschaft». Bereits die Ankündigung habe allfällige Käufer verunsichert, berichtet ein Grundeigentümer-Lobbyist. «Verantwortungslos», fluchte Quartiervereinspräsident Helmuth Werner.

Schöne Worte. Plötzlich ist das Stück Land, 2000 Meter lang und 700 Meter breit, ein Zankapfel. Was steckt hinter dem Hype um die Baufelder zwischen Limmat und dem riesigen Gleisfeld im Westen Zürichs?

Fest steht: Noch nie wurde in der Schweiz ein Stadtteil mit derart massivem Einsatz beworben. Für die neue Tramlinie wurden Ende 2011 nicht einfach nur Wagen auf die Schienen gesetzt – zur «Markteinführung» entwarfen Stadt und Kanton das Werbemotto «Erfahren, erforschen, erleben». Als Online-Plattform wurde ein Quartier-Blog aufgeschaltet, eine Plakatkampagne und ein Festwochenende folgten, und «Farbnasen» auf allen Zürcher Cobras sollten «die Freude über die neue Tramstrecke in Zürich West in alle Quartiere hinaustragen». Dennoch: Für die Pendler ist der Arbeitsweg entlang der Baustellen so trist wie zuvor.

In den Sommermonaten 2012 wurde im Quartier eine Freiluftgalerie unter dem Titel «Art and the City» mit 43 Kunstwerken eröffnet. Das Projekt, immerhin ein Publikumserfolg mit 5000 Besuchern, kostete 2,1 Millionen Franken, von denen die Stadt 700 000 aufbrachte.

Und als es darum ging, an den Abenden etwas Licht unter die schauerlich öde Hardbrücke zwischen Escher-Wyss-Platz und Bahnhof Hardbrücke zu bringen, da brachten die Elektriker von den Elektrizitätswerken nicht einfach nur Neonlampen unter der Brücke an. Nein, die Beamten vom Hochbauamt fassten einen Plan, den «Plan Lumière». Die «zündende Idee» kam, als zwei Gemeinderatskommissionen ein Reisli ins französische Lyon unternahmen und dort die nächtlichen Illuminationen bestaunten. Ein Planungsbüro wurde beauftragt, ein Lichtgestalter gerufen, weitere Amtsstellen involviert und schliesslich eine Projektgruppe gegründet, in der sechs Beamte und ein Architekt Einsitz nahmen. Das kostete viele Projektsitzungen, von der Idee bis zur Anbringung der LED-Leuchten vergingen zehn Jahre.

Nun sieht es in den Nächten unter der Hardbrücke so aus, als würde gerade eine Filmcrew die Szene für einen Krimi-Dreh ins grelle Licht setzen. Die Brücke gilt jetzt nicht mehr als Schandfleck städtebaulicher Sünden der siebziger Jahre, sondern als ziemlich cool – wohl bald ein Fall für den Denkmalschutz. Das alles für rund 2500 Neubewohner und 6000 neue Büropendler, die bis 2015 das Quartier beleben sollen.

Selten wurden so viele Worte um so wenig Raum verloren. Mit «Urban Luxury» wirbt Immobilienmanager Caviezel für seinen Mobimo Tower (siehe Grafik auf den Seiten 54/55). Eine «neue Dimension von Wohnbewusstsein» prophezeien andere, ein Leben im «schönen wilden Westen». In Wohnungsinseraten «pulsiert» das Leben, «ein lebendiges Miteinander» und eine «mitreissende Dynamik» sprudeln, es ist ein «Freiraum für Freigeister». «Spannend», «lebendigst» und «dynamischst». Den Marketingleuten gehen die PR-Superlative aus.

Das höchste Bürogebäude der Schweiz heisst natürlich Prime Tower: cool. Ein verbeulter Containerturm daneben, Showroom für die angesagten Taschen der Marke Freitag: noch cooler. Eine Wohnung am Gleisbett: supercool. Takeaway-Stände in einer Giessereihalle: hypercool. Eine Molkerei für 5000 Kunststudenten: megacool. Das Containerdorf «Basislager» für Künstler und Kleingewerbler für 535 Franken monatlich: megamegacool.

Aber ein neuer «Strichplatz», auf dem die Prostituierten vom Sihlquai ab August ihre Dienste in stallähnlichen Sexboxen «verrichten» sollen, draussen am Bahnhof Altstetten, gleich neben dem «Basislager»? Hmm, ziemlich uncool. Ein Containerdorf für 500 ungebetene maghrebinische Gäste? Total uncool.

So viel Multikulti auf einmal? Nun ist der Hype angekratzt und Immobilienmanager suchen nach politisch korrekten Worten. Denn das Preisgefüge am Markt könnte gestört werden, fürchten Makler und Verkäufer. Es hat sich jahrelang auf Weltklasseniveau hochgeschraubt und ist absturzgefährdet. So bewegen sich zwischen Gleisfeld und Autobahnauffahrten die Mietzinse im «quartierüblichen mittleren bis oberen Segment», wie man selbst fürs Hochhaus auf dem Toni-Areal definiert, das direkt an einem hoch frequentierten Verkehrsknotenpunkt liegt.

Überteuert. Und die Eigentumswohnungen in den neuen Wohntürmen kosten zwischen 10 000 und 23 000 Franken pro Quadratmeter – weltweit ein Spitzenwert. Luxuswohnungen im feinen Frankfurter Westend kosten 5000 Franken pro Quadratmeter, in der modernen Hamburger Hafencity 6700 Franken und in der Münchner Altstadt 7800 Franken. Im New Yorker Greenwich Village, einst auch ein Künstlerquartier und heute gefragter Stadtteil der Etablierten, sind prächtige Wohnungen in den Cast-Iron-Baudenkmälern für 10 000 Franken pro Quadratmeter zu haben. Selbst im Londoner Soho-Quartier kann günstiger gekauft werden als in Zürich West, bloss Luxusdomizile in Knightsbridge sind teurer.

Erreicht Zürich West diese Klasse? Zweifel sind angebracht. Signale der Entzauberung können schon registriert werden – nicht alle Projekte verlaufen sorgenfrei. Im Fall des Prime Towers, eines Bürohauses, ging die Spekulation auf. Die Verträge wurden lange vor Fertigstellung mit First-Class-Mietern vereinbart. 2006 begann der Zuger Immobilienprofi Han Bullens mit der Mietersuche, vor der Einweihung hatte er den Turm voll. Die Kanzlei Homburger war dabei, die Deutsche Bank und in einem Nebengebäude der Prüfkonzern Ernst & Young. Bis zur Fertigstellung kostete der Tower am Bahnhof Hardbrücke den Immobilienkonzern Swiss Prime Site 350 Millionen Franken. Ein Jahr später konnte der Konzern den Tower bereits mit einem Marktwert von 454 Millionen in seinen Büchern verbuchen.

Der Baukonzern Allreal investiert auf dem Toni-Areal insgesamt 532 Millionen Franken. Er erwartet jährlich Mieteinnahmen in Höhe von nahezu 29 Millionen Franken. 17 Millionen davon entfallen auf den Kanton als Mieter, der sich mit der Hochschule der Künste vertraglich auf 20 Jahre gebunden hat. Das gibt dem Projekt Stabilität. Doch es kam zu Planungsfehlern. Der Baukonzern schätzte die Komplexität falsch ein und konnte den Zeitplan nicht einhalten. Daher können die Studenten erst im Sommer 2014 einziehen. Die Kosten der Verzögerung muss Allreal tragen.

Ähnlich kalkuliert der Konzern auch mit den Escher-Terrassen. 51 Mietwohnungen sollen bis März 2014 bezogen werden, und in einem historischen Backstein-Annex werden bis dann die Probebühnen des Opernhauses einziehen. Allreal will die Mieten «eher im oberen Preissegment ansiedeln», doch bis anhin informierte der Konzern weder fürs Toni-Hochhaus noch für die Escher-Terrassen über die Mietzinskalkulation.

Eine Panne erschwert auch ein Prestigeprojekt des Konzerns PSP Swiss Property auf dem Gelände der ehemaligen Löwenbräu-Brauerei. Eigentlich sollten dort die Käufer Ende 2012 schon eingezogen sein, aber sie wurden auf den kommenden Sommer vertröstet. Der Wohnturm Löwenbräu Black überragt mit einer Auskragung einen darunter stehenden Backsteinbau, der als Industriedenkmal stehen bleibt. Auf dieser Seite senkte sich der Baukörper um einige Zentimeter weniger tief als geplant. Die Folge: In den Wohnungen müssen Böden und Decken mit Gipsplatten begradigt werden. Die noch freien Wohnungen werden nun mit dem «Bezugstermin auf Anfrage» beworben. Stockwerkeigentümer, die bereits unterschrieben haben, waren weniger erbaut, schliesslich bezahlten sie Millionenpreise. Der PSP-Konzern hat mit dem Löwenbräu-Areal ein Problem: Bis September 2012 lief der Verkauf der Luxuswohnungen gut. 45 der 58 Einheiten wurden bis dahin verkauft. Doch seitdem haben die Makler keine einzige Wohnung mehr losschlagen können.

Ähnlich schmerzhafte Erfahrungen macht Mobimo-Chef Christoph Caviezel. Auf die Vorwürfe der SP-Nationalrätin Badran, er mache aus Zürich West eine Goldgrube, reagiert er aufgewühlt: «Schön wärs! Bis anhin haben wir nur investiert, diese Wohnungen werfen noch keinen Gewinn ab.» Obwohl der Mobimo Tower bereits seit Ende 2011 fertig gestellt ist, verdient sein Konzern bis jetzt nämlich nur mit dem Hotelbetrieb. Der Wohnungsverkauf lief zwar zunächst gut. Von den 53 Appartements in den oberen Etagen zu Kaufpreisen von drei bis sechs Millionen Franken waren 33 bis zum Juni 2012 verkauft. Doch seither harzt es. Bis Mitte Februar 2013 konnten die Makler nur zwei weitere Wohnungen verkaufen.

«Es geht langsamer im Verkauf», sagt Caviezel. Was in den gemässigten Worten des Mobimo-Chefs nach einer leichten Verschnaufpause aussieht, betrachten einige Marktkenner als stille Trendwende auf dem Markt für teure Domizile, die sich zwischen Sommer und Herbst 2012 einstellte. Denn die Tower in Zürich West haben viel Konkurrenz bekommen. In der Hoffnung auf solvente Käufer ist durch Luxussanierungen und Neubauten ein grosses Angebot entstanden. Allein im Umkreis von 20 Kilometern um Meilen am Zürichsee verzeichnet die Immobiliendatenbank des Comparis-Internetdienstes rund 670 Wohnungs- und Häuserinserate im Segment ab 1,5 Millionen Franken. Mehr als die Hälfte davon ist sogar für mehr als zwei Millionen im Angebot, und viele haben in den vergangenen Monaten den Angebotspreis nach unten korrigiert.

Eine Hoffnung der Makler waren internationale Konzerne, die repräsentative Wohnungen für ihre hochrangigen Expats kaufen würden. «Aber diese Nachfrage findet nicht statt», sagt ein Berater, der diese Szene kennt.

Schräger Charme. Im Mobimo Tower ist man nun auf Verzweiflungsmarketing umgeschwenkt. Die Bewohner dürfen eine freie Wohnung für Partys nutzen. Ihre Freunde könnten so auf den Geschmack kommen. Als Konsequenz aus dem schleppenden Verkauf der Luxuswohnungen will sich Mobimo nun auf die Neuentwicklung im «mittleren Segment» verlegen.

Immobilienkonzerne wie Intershop, Besitzerin der Überbauung Puls 5 in Zürich West, machen derweil ihre Finanzen sturmfest. Für schwierige Zeiten haben sie die Zinsbindungen ihres milliardenschweren Hypothekenportfolios verlängert, Mobimo etwa von 5 auf 9,2 Jahre. «Wir sind eine solide Firma», sagt Caviezel. Sollten die Zinsen deutlich steigen, dann sei er gewappnet. Wie sich indes die Stockwerkeigentümer geschützt haben, das sei dann nicht mehr seine Sache.

Viele seiner Tower-Bewohner würden derlei Unbilden, wenn sie denn eintreffen sollten, wohl leicht wegstecken. Der Hedge-Fund-Gründer Rainer-Marc Frey etwa oder der Kunstsammler und Industriellenerbe Christian Bührle, die zu den Oberen im Mobimo Tower zählen. Und auch ihre Hausnachbarn sind keine Subprime-Käufer: ein Generalagent einer Versicherung, ein UBS-Manager, ein Bond-Trader, zwei Unternehmensberater, zwei Immobiliendealer, ein Fondsmanager, ein IT-Unternehmer, ein Innenarchitekt.

«Jeder muss selber wissen, wofür er sein Geld ausgibt», sagt Immobilienökonom Andreas Löpfe, «ich ziehe den Hut vor denjenigen, die dort diese Preise durchsetzen.» Für ihn ist die Entwicklung mit ein paar Hochhäusern noch nicht abgeschlossen. Als «blutleer» empfindet er noch vieles im Quartier, als «übel» die Anlage des Escher-Wyss-Platzes. Dennoch ist auch er dem «schrägen» Charme des Quartiers erlegen, weil es einen Ausbruch aus der überzivilisierten Schweiz biete. «Aber das Blut kann man nicht hineinpumpen», sagt Löpfe, «man kann es nur fliessen lassen, wenn es fliesst.»

Spannender als Zürich West findet er das Projekt der Architektengruppe Krokodil im Glatttal. Die Gruppe sieht «eine klammheimliche Stadtwerdung direkt vor unserer Nase: Die Glatttalstadt entsteht.» Die Gruppe schlägt für das zusammenwachsende Gebiet, das sich über mehrere Gemeindeterritorien entlang der neuen Glattalbahn hinzieht, die «Vision einer dichten, urbanen Stadt» vor. Und wer die Reise mit dem Tram unternimmt, entdeckt, dass die Vision nicht mehr so fern ist. Tatsächlich hat sich das Glatttal rasant entwickelt – weniger schrill zwar, aber quantitativ weitaus rasanter als Zürich West (siehe Kasten auf Seite 58).

Konkurrenz erfährt Zürich West auch auf dem Geschäftsimmobilienmarkt. Während dort neue Bürobauten bezogen werden, entsteht andernorts Leerstand. Allein im Raum Zürich kommen in den nächsten Jahren 300 000 Büroquadratmeter auf den Markt, errechnete der Dienstleister Colliers kürzlich. Auch im Quartier selbst kommt der Büromarkt unter Druck. Denn dort stehen zwischen Hardturm- und Förrlibuckstrasse betagte Bürohäuser mit Fassaden von umwerfender Scheusslichkeit, deren Leerstandsquote heute schon bis zu 36 Prozent reicht.

Grossbaustelle im Umbruch. Und während die Stadt immer noch gemächlich über ein Kongresszentrum für 3000 Gäste auf dem Geroldareal nachdenkt, haben andere schon die Baubewilligung in der Tasche. Am Flughafen hingegen entsteht unter dem Label «The Circle» neben einer grossen Hotel- und Bürolandschaft ein Kongresszentrum für immerhin 1500 Gäste. Spatenstich: noch in diesem Jahr. 2017 soll es stehen.

Im Jahr 2020 wird nur noch eine letzte Grossparzelle frei. Es wird das Grundstück an der Josefstrasse sein, auf dem die Kehrichtverbrennungsanlage steht. Die Lokalpolitiker haben bereits Ideen: bezahlbarer Wohnraum, Grünraum, vielleicht ein Hallenbad. Was sie nicht wollen: einen Büroturm.

Gewiss, noch ist Zürich West eine Grossbaustelle. Die kommenden Jahre werden das Bild des Viertels weiter verändern. Schon seit der Jahrhundertwende hat es eine bemerkenswerte Geschichte der Wiederbelebung erfahren. Diesen Erfolg kann man erst einschätzen, wenn man einen Blick in die Zeitungsarchive der neunziger Jahre wirft. Abwanderung, Leerstand, Arbeitsplatzverluste, sinkende Steuererträge – das waren die Themen. Zürich West war eine Lost Township. «Niemand wollte dorthin, das war unser Problem», erinnert sich Brigit Wehrli-Schindler, die 14 Jahre lang die Stadtentwicklung leitete.

Wenn sie die Geschichte mit ihren PowerPoint-Folien erzählt, dann verwendet sie als Zeichen der Kehrtwende eine grosse Story der BILANZ vom Juli 1999. Unter dem Bild der golden illuminierten Stadt stand der Titel: «Das strahlende Wirtschaftszentrum». Das war damals überraschend.