Muss mal kurz innehalten. Mit der Hand übers Gesicht fahren. Es ist still draussen. Nacht liegt überm Fluss. Hab gerade ein paar Tausend Menschen sterben sehen. Bei Don Winslow. In «Tage der Toten» und im «Kartell», seinem neuen Roman. Ein Ziegelstein von einem Buch, liegt hier rechts.

Kinder, Frauen, Alte – ihnen wurde die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Babys wurden von Brücken geworfen. Zwölfjährige haben mit dem Sägemesser Gefolterten die Köpfe von den Rümpfen geschnitten.

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Sie haben Menschen in Tonnen gesteckt, diese Bestien, nachdem sie ihr Inneres nach aussen gefoltert hatten, dann haben sie Benzin genommen und sie angezündet. «Schmorbraten machen» haben sie das genannt. Und sie haben dabei sehr gelacht.

Vierzig Jahre Krieg gegen die Drogen

Es war nicht Syrien, es war Mexiko. Es war nicht der Krieg der Islamisten gegen den Westen, es war der Krieg gegen die Drogen. Der längste Krieg, den die Amerikaner je geführt haben.

Gut anderthalbtausend Seiten, acht Akte, fast zwei Romane lang ist das bis jetzt so gegangen. Vom Beginn des Drogenkriegs 1975 bis annähernd heute.

Ein Mann, Art Keller heisst er, Halbmexikaner und bibelfest, zieht darin in einen Rachekreuzzug, durch ein gewaltiges Epos aus Blut und Schnee. Ein Aufklärer auf derart verlorenem Posten, wie wohl noch nie ein Posten verloren war. Einer, der nicht aufhören kann. Der die Herren des weissen Pulvers jagt wie vor ihm nur Ahab den weissen Wal.

Winslow – die dreistufige Rakete in die Thrillerzukunft

In Mexiko war das und in Guatemala und in all den Ländern, in denen der vermeintliche Krieg gegen Drogen herrscht, von dem Winslow erzählt, den man mal als dreistufige Rakete in die Zukunft des internationalen Thrillerwesens bezeichnen konnte. Also in der ganzen Welt.

Denn der Drogenkrieg ist wie die Droge und die pilzwurzelwerkähnlich verbreitete Struktur des vielleicht erfolgreichsten Geschäftsmodells überhaupt – überall. Er macht alle gleich, dieser Krieg. Er macht alle zu Tätern, die Welt zur Hölle.

Don Winslow weiss alles darüber. Über das Wurzelwerk und über Drogen und den Krieg, der wohl nie endet. Winslow (Jahrgang 1953, gebürtiger New Yorker) hat jahrzehntelang recherchiert. Mit den Leuten gesprochen, den Händlern des Todes, den Opfern, den Ermittlern.

Auf diesem Berg von Daten, von Zahlen, Nachrichten, Geschichten, tanzte er seine ganz eigenen Romane, die dann «Zeit des Zorns» und «Kings of Cool» hiessen und «Tage der Toten». Dokuromane, streng in der Form, frei in den Perspektivwechseln.

Romane, in denen alles schrecklich wahr war und alles trotzdem so furchterregend fantastisch aussieht wie in den Bildern Hieronymus Boschs. Don Winslow war der Höllen-Breughel der Gegenwartsliteratur.

Und «Tage der Toten», Art Kellers erste Finsterlandfahrt durch Mexiko, den «War of Drugs» und wider seinen Ex-Freund und Drogenpaten Adán Barrera war sein Meisterwerk. «Krieg und Frieden» des 21. Jahrhunderts, eine Anklage, eine Racheschrift.

Das liegt jetzt hinter mir in dieser Nacht. Zettel um mich herum. Zwei, drei Dickleiber. 600 Seiten «Tage der Toten», fast 800 Seiten jetzt vom «Kartell», dem «Tage der Toten»-Sequel. Winslow hat es geschrieben, weil er noch genug Wut hatte über die Welt und den unnützen Kampf gegen die Kartelle und genug Datenmaterial. Die Geschichte des Drogenkriegs von 2004 bis beinahe heute.

Es hat wieder Tausend Tote gegeben. Es ist einfach weitergegangen. Die Geschichte und die Mechanik der Erzählung. Die Amerikaner machen alles falsch. Der Familienkrieg der Kartelle entbrennt wieder, mit anderen Mitteln.

In den Hinterzimmern wird gemauschelt, in den Folterkammern fliesst Blut. Korruption ist überall (gegen die Kartelle ist Blatters Fifa ein Kindergarten). Die Welt ist ein Abgrund des Bösen.

Emanzipation im Drogengeschäft

Die Frauen sind schön. Daran, dass sie Verantwortung übernehmen (was sie müssen, den Kartellen gehen nämlich die Männer aus), erkennt man die Ankunft der Geschichte im 21. Jahrhundert.

Es geht alles weiter. Doch Winslow ist nicht mehr derselbe. Seit ein paar Büchern schon. Und jetzt erst recht. Winslow tanzt nicht über den Daten, den Geschichten. Er schleppt sich drüber.

Vom Flirren der Perspektivwechsel ist nichts mehr übrig. Die Klischeedichte ist enorm. Die Erzählmechanik knirscht, die Figuren bleiben fad und sagen Dinge, die sie nicht ernst meinen können.

Von den Opfern, den unschuldigen, keine Spur

Die Grunddramaturgie des Duells zweier Männer wird im «Kartell» endgültig absurd. Von den wahren Opfern, den wirklich Unschuldigen, ist kaum die Rede.

Vielleicht nehm ich doch Roberto Bolaños «2666» aus dem Regal. Diesen irren Trip von Roman. Handelt von der unaufgeklärten Mordserie an Frauen in Ciudad Juárez, wo auch Winslows «Kartell» zum Teil spielt.

«2666» ist eine schwärende Wunde. «Das Kartell» ist reine Unterhaltung. Und manchmal ertappt man sich dabei, dass man es – so gut es gemeint ist, es ist sogar den unzähligen Journalisten gewidmet, die im Kampf für die Wahrheit ihr Leben liessen – für zynisch hält.

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