Beim Ansehen des Natur- und Rachedramas «The Revenant» wird man nicht umhinkommen, sich dem Appell an die Filmakademie in Hollywood anzuschliessen: «Um Himmels willen, gebt Leonardo DiCaprio endlich seinen Oscar!» Er hat nun wirklich genug für seinen romantischen Tod in den eisigen Fluten der «Titanic» gebüsst, und zwar durch fortschreitenden Wahnsinn.

In «Catch Me If You Can» sublimierte er seinen Narzissmus mit Hochstapelei, in «Shutter Island» wurde sein Polizist von Paranoia geplagt, in «Django Unchained» liess sein Südstaatler dem Sadismus freien Lauf, und in «Wolf of Wall Street» kokste er sich um den Verstand.

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Intensives erstes Drittel

Wir hätten gewarnt sein können – und doch hat uns das alles nicht auf «The Revenant» vorbereitet. Leonardo wird darin von einer wütenden Grizzly-Mutter minutenlang wie eine Puppe durch die Gegend geschleudert. Lebendig begraben. Von einer Klippe geworfen. Gurgelnde Stromschnellen herabgespült. Eingeschneit. Des Sohnes beraubt. Verraten. Seine Kehle wird aufgeschlitzt, das ewige Jungsgesicht durch einen Rauschebart verunkenntlicht. Und dann ist gerade mal das erste Drittel von Alejandro González Iñárritus Film vorbei. DiCaprio muss ja erst zum «Revenant», zum Zurückkehrer, zum Rächer werden.

Es ist eine ungeheure Kraftanstrengung. Man darf das nicht verwechseln mit der grosskotzigen, der angeberischen Kraftmeierei. Die «Rocky»-Filme sind Kraftmeierei und letztlich auch «Star Wars», dessen ungeheure Weltraum-Schlachten in langweiligen Büros entstanden sind. An Rechnern, zwischen einem Chai Latte von Starbucks und einer Gourmet-Pizza von Domino's.

Drehort am Ende der Welt

Für «The Revenant» begab sich die Filmcrew in die winterlichen Weiten Kanadas, und als der Schnee dort nicht tief genug war, zog man ins argentinische Ushuaia um. Keine Stadt dieser Welt liegt näher am Südpol. Die Temperaturen fielen auf minus 25 Grad (mit Windchill-Faktor minus 40), die elektronischen Kameras versagten ihren Dienst, und alle litten.

Dies war der Sinn der Übung. «The Revenant» – ein altmodisches Wort, das im Englischen nur noch als Synonym für Vampire überlebt hat – ist der Film des übermenschlichen Ertragens unsäglicher Leiden. Er führt uns 200 Jahre zurück in die nordamerikanische Wildnis, zu einer Expedition der US-Armee entlang des wilden Missouri zwecks Errichtung einer Basis für das lukrative Pelz-Geschäft.

Von den eigenen Leuten zurückgelassen

Die Mission endet im Desaster, als Indianer angreifen, und einige wenige Überlebende begeben sich auf den langen Weg zurück in die Zivilisation, unter ihnen der Trapper Hugh Glass. Hugh Glass, dessen Begegnung mit dem Bären es wirklich gegeben hat, das ist Leonardo DiCaprio. Er überlebt zunächst die Indianer-Attacke, bei der wir in noch nie da gewesener Plastizität Pfeile Körper durchbohren sehen, bevorzugterweise Hälse. Er überlebt dann die Grizzly-Attacke, allerdings mit zerfetztem Leib und verlorener Stimme.

Der Army ist er ein Klotz am Bein, und so lässt sie ihn in der Obhut eines gewissen John Fitzgerald zurück, der ihn entweder gesund pflegen oder anständig begraben soll. Fitzgerald, von Tom Hardy mit erdiger Böswilligkeit gespielt, dauert der natürliche Gang der Dinge zu lange, und so zerrt er den Bewusstlosen ins voreilige Grab, Erde drauf.

Alleine mit der Natur

Von nun an ist Leonardo DiCaprio allein, wir sind es mit ihm – und alle beide mit der Natur. Gewiss, «The Revenant» ist ein Frühwestern und eine Rachegeschichte und ein Survival-Epos, aber in erster Linie ein Kräftemessen zwischen Mensch und Natur. Deshalb war es die einzige richtige Entscheidung, sich beim Dreh den Elementen in Feuerland auszusetzen, statt in der warmen CGI-Stube sitzen zu bleiben.

Iñárritu und sein Kameramann Emmanuel Lubezki haben einzigartige Bilder eingefangen. Aus ihnen sprechen kristalline Schönheit und der ihr innewohnende Tod. Wer sich hierher wagt, wird mit Hunger und Schmerz belohnt. Es ist wie bei den Pubertätsriten mancher Indianerstämme oder den Exerzitien mittelalterlicher Mönche: Hunger und Schmerz sind die Mittel, um Visionen zu erlangen, und so sieht «The Revenant» zeitweise wie eine Halluzination aus, eine Vision des auf Ellbogen vorwärtsrobbenden, fiebernden, fanatisch überleben wollenden Hugh Glass.

Abkehr vom Erlösungsmotiv

In solchen Momenten fällt einem ein, dass Iñárritu und Lubezki aus einem der katholischsten Länder der Erde stammen, aus Mexiko, und tatsächlich taucht einmal wie aus dem Nichts eine zerfallene Kirche auf, bemalt mit Heiligenszenen. Man denkt an «21 Gramm» und «Babel» und «Birdman», Iñárritus frühere Filme, die bei allen Unterschieden von einem Element durchzogen waren, dem Glauben an Erlösung. Es war mehr als ein Glaube, es war schon ein Dogma der verordneten Gnade, seine Figuren mussten Erlösung finden, wider alle Logik seiner Geschichten, und dieser penetrante Unterton vergällte einem die Freude an ansonsten brillanten Werken.

Das ist der entscheidende Fortschritt, den «The Revenant» in Iñárritus Werk darstellt: Hugh Glass wird von schierer Wut getrieben, und er bleibt gnadenlos. Man kann das auch an der Farbgebung ablesen. Es gibt das reine Weiss und das eisige Blau, aber die auffallendste Farbe ist das übers Weiss gesprenkelte Rot. Blutrotes Rot.

Sterben und Überleben steht im Zeichen von Rot

In Tarantinos Schneewestern «The Hateful Eight» ist die rote Blutspur ein Spurenlese-Gag, bei Iñárritu hingegen die Grundfarbe des Sterbens – und Überlebens. Einmal, als sein Pferd tot zusammengebrochen ist, schneidet Leonardo DiCaprio dessen Bauch auf, zerrt sämtliche Eingeweide heraus und kriecht zum Schutz gegen die beissende Kälte in die warme Karkasse. Am nächsten Morgen mischt sich der frisch gefallene Schnee mit dem Blut des Tieres – aber Hugh Glass überlebt.

Mutter Natur tötet also nicht nur, sie liefert auch die Mittel zum Überleben. «The Revenant» sagt aber auch ganz deutlich: Lege dich nicht mit der Natur an, sie ist stärker als du, Mensch. Dafür stehen, neben Glass, die Indianer. Anfangs nur eine anonyme, Pfeile schleudernde Masse, gewinnen sie desto mehr an diskret-allegorischer Präsenz, je länger Glass durch die Schneeweiten robbt, watet, reitet. Wir lernen auch den Grund für ihren Zorn, Weisse haben die Tochter des Häuptlings entführt, und sie sind auf der Suche nach ihr.

Oscarreife Vorstellung des Hauptdarstellers

Es ist die exakt umgekehrte Konstellation des legendärsten aller Western, John Fords «Schwarzem Falken». John Wayne sucht darin jahrelang nach seiner von Komantschen verschleppten Nichte. Leonardo DiCaprio kommt in «The Revenant» sehr nahe an die Härte, die Verbissenheit dieses John Wayne heran.

Man versteht nicht alles in «The Revenant». Man muss auch nicht alles verstehen. Iñárritu hat seinen Film als Erlebnis aus Schmerz und Schönheit, Blut und Dreck angelegt. Das Verständnis soll nicht aus dem Kopf kommen, sondern aus den Eingeweiden. Und Leonardo muss den Oscar bekommen. Nicht auszudenken, was er als Nächstes anstellt, wenn nicht.

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