Wieder einmal ist Multikulti gescheitert. Die deutsche Kanzlerin hat das öfter gesagt, und sie wird es wiederholen. Die Rechtspopulisten werden ihr dieses Negativbekenntnis angesichts der realen Migrationszahlen nicht abnehmen, zu Recht. Man wird von den Migranten die Annahme der deutschen Leitkultur verlangen, ohne genau zu sagen, was damit gemeint und wie die vollzogene Akzeptanz festzustellen wäre.

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Die kleiner werdende Zahl derjenigen, die am Multikulturalismus festhalten, gerät unter Druck: Wollt ihr überall Verhältnisse wie in Köln? Stehen Werte der Aufklärung wie die Gleichberechtigung der Frau und die Akzeptanz von Schwulen zur Disposition? Soll im Namen der Toleranz Unterwerfung unter den intoleranten Islam geübt werden?

Auch im Westen waren lange nicht alle gleich

Die Antworten lauten: Nein, nein und nein. Aber es wäre naiv zu leugnen, dass es eine Form des Multikulturalismus gibt, der in der Tat westliche Werte zur Disposition stellt. Wenn Multikulti nicht scheitern soll, dann müssen dessen Anhänger auch sagen, was er nicht sein darf. Vorher allerdings sollten sie darauf hinweisen, dass weder die Emanzipation der Frau noch die Gleichberechtigung von Minderheiten zu den Urwerten der Aufklärung, geschweige denn des Abendlands gehören.

Das Christentum kam lange ohne sie aus. Viele Denker der Aufklärung waren Antisemiten, und die französischen Revolutionäre verfolgten Katholiken. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung proklamierte die Gleichheit aller Männer, die Verfassung schloss aber Schwarze davon aus, und die Frauen hatten nichts zu sagen. Für den aufgeklärten Kolonialismus war die Mehrheit der Menschheit «unterentwickelt».

Für aufgeklärte Wissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts waren Geisteskranke und «Perverse» auszumerzende Schwachstellen im Sozialgefüge. Der Antisemitismus ist bis heute in Teilen Europas gesellschaftsfähig. Schwul sein war in der Bundesrepublik bis 1971 strafbar. Dass wir es, um mit Fausts Famulus Wagner zu reden, so herrlich weit gebracht haben, ist eine Folge des richtig verstandenen Multikulturalismus. Der falsche Multikulturalismus kann all das gefährden.

Anpassung an die vorherrschende Norm oder Vielfältigkeit pur

Der Multikulturalismus entstand in Amerika – wo sonst? – als Antwort auf die Theorie des «Schmelztiegels», wie sie Israel Zangwill 1908 in seinem gleichnamigen Stück formulierte. Zangwills Held David entkommt in Russland einem Pogrom und heiratet in Amerika eine Christin, deren Vater das Pogrom geleitet hatte. «Kelte und Lateiner, Slave und Teutone, Grieche und Syrer, Jude und Heide, Ost und West, Halbmond und Kreuz – sie alle schmilzt der grosse Alchemist zusammen!», schwärmt David. «Hier vereinen sie sich, um die Republik des Menschen und das Königreich Gottes zu bauen!»

Sechzig Jahre später fragten sich Frauen und Schwule, Schwarze, «Indianer» und andere, ob nicht der Schmelztiegel als Ideologie benutzt würde, um die Anpassung an die Normen «toter weisser Männer» zu erzwingen, in denen andere Erfahrungen, Narrative, Sichtweisen nicht vorkamen. Gleichzeitig verschwammen in den Kulturkämpfen der 60er-Jahre die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur, Hochsprache und Dialekt, Zentrum und Peripherie.

USA: Mit «Salatschüssel» gegen die Gleichmacherei

Zur Zweihundertjahrfeier der USA 1976 sprach man nicht mehr vom «Schmelztiegel», sondern von der «Salatschüssel», in der die verschiedenen Zutaten ihre Besonderheit beibehalten. Das ist progressiver Multikulturalismus.

Dieser Multikulturalismus nimmt das Versprechen der Aufklärung ernst, alle Menschen seien gleichberechtigt und gleichwertig – und lehnt gerade deshalb die Gleichmacherei ab. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich die eurozentrische, männerdominierte Schulweisheit träumen lässt. Auch die Aufklärer müssen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit heraustreten und die Konsequenzen ihrer Theorie anerkennen. Mischt man alle Farben zusammen, erhält man Grau. Oder schlimmer, Braun.

Untolerierbares kann nicht toleriert werden

Anhand der Diskussion über die Beschneidung sah man zuletzt, wie die verbissene Verabsolutierung emanzipativer Gedanken – in diesem Fall des Rechts unmündiger Kinder auf körperliche Unversehrtheit – umschlagen kann in die Unterdrückung von Minderheiten. Und doch bleibt es richtig, dass nicht jeder religiöse oder kulturelle Brauch von einer toleranten Gesellschaft toleriert werden kann.

Manche Formen von Multikulti machen es allerdings unmöglich, solche Diskussionen überhaupt zu führen. Denn sie stellen jede Aussage unter Verdacht, die nicht von den «richtigen» Leuten kommt. Der Gelehrte Edward Said, selbst ein Produkt britischer Bildung, tat alle Leistungen der Europäer auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften des Nahen und Mittleren Ostens als rassistischen und interessengeleiteten «Orientalismus» ab.

Seine Epigonen in den ehedem kolonisierten Ländern begründeten die «subalternen» Studien, die das westliche Narrativ nicht bloss korrigierten, sondern verwarfen. In den Hochschulen des Westens wurde der Anspruch auf universelle Bildung von den Propagandisten der «Black Studies» ebenso wie diverser Gender-Theorien verworfen.

Extremes vom anderen Ende der Skala

In seiner banalsten Form läuft dieser Relativismus auf die alte vulgärmarxistische These hinaus, das Sein bestimme das Bewusstsein. In seinen hinterhältigsten Ausprägungen erklärt der Dekonstruktivismus alles Wissen für verdächtig, alle Verallgemeinerungen für falsch, alle Identitäten für konstruiert, alle Wissenschaft zur Ideologie.

Aus dem bunten Multikulturalismus macht diese perverse Theorie eine nihilistische Nacht, in der alle Fakten grau sind. In seiner Leugnung jeglicher Normen, jeglichen Kanons, jeglicher Wahrheit ausser dem Kampf ist sie dem Denken des Nationalsozialismus näher als dem Multikulturalismus, der aus der Selbstkritik der Aufklärung hervorgeht.

Als Waffe gegen Intoleranz

Richtig verstanden ist Multikulti allerdings die wichtigste Waffe gegen die Intoleranz der Zugewanderten. In seinem Roman «Unterwerfung» lässt Michel Houellebecq einen Konvertiten darlegen, dass der Islam kompatibel sei mit den Aussagen der Naturwissenschaften und vor allem Charles Darwins.

Das mag sein. Darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, dass der Islam lernt, eine Sichtweise unter vielen zu sein. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das gilt auch für diejenigen, die behaupten, «das Volk» zu sein. Als ob Volk und Kultur je übereingestimmt hätten! Dass die Gesetze für alle gelten, auch für jene, die sie für übertrieben liberal halten, steht dabei nicht zur Debatte.

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