Die Schwäne sind bisweilen Kerle, manchmal auch Schwarze, bei Rudolf Nurejew war es sogar ein Schwein – natürlich Miss Piggy. Natalie Portman hat sich als psychopathischer «Black Swan» oscarreif selbst geritzt, und auch Barbra Streisand gibt es als tierische Ballerina. Sie tanzen mal mit, mal ohne Tutu, auf Spitze oder barfuss. Ihr Kostüm ist aus Federn, Tüll, Troddeln, Lack oder Taschentüchern.

Prinz Siegfried ist schwul, mutiert zu Tschaikowsky selbst oder zu König Ludwig II. von Bayern, der den Schwanenritter Lohengrin anhimmelte; bisweilen wird er sogar von seiner Mutter verführt. Zauberer Rotbart ist deren abtrünniger Gatte oder nur ein nasses Seeungeheuer. Mal spielt das Ganze im sagenhaften Gestern, mal im Barock, am Zarenhof, im Vögel liebenden Jugendstil oder gleich in der Gegenwart. Mal überleben alle, mal eine(r), meist keiner.

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Grosser Erfolg nach schwerem Start

Es hat schon seinen Grund, dass «Schwanensee» nicht nur das berühmteste, schillerndste, typischste aller Ballette, ja, sein Synonym wurde. Weltweit freilich erst ab den Fünfzigerjahren – seine Existenz davor war seit der Moskauer Uraufführung 1877 eher ein Trauerspiel denn eine Erfolgsstory. Die Kreation hatte keinen guten Choreografen, hielt sich aber immerhin sechs Jahre im Spielplan.

Dann folgte erst 1895, nach Tschaikowskys Tod, die bis heute massstäbliche Petersburger Fassung – bei der bereits mehr als 30 Prozent der Musik verändert worden waren und der erkrankte Marius Petipa sich die Choreografie mit seinem Ballettmeister Lew Iwanow teilte. Die hatte einigermassen Erfolg, war aber nur eines von vielen Stücken am zaristischen Hofballett. Immerhin wurde sie von Wladimir Stepanow in einer sehr speziellen Tanzschrift festgehalten.

Vom feenhaften Tanzmärchen entfernt

Sein Nachfolger Nikolai Sergejev flüchtete während der Revolution nach Europa und nahm die Aufzeichnungen mit. Ihm ist der erste komplette «Schwanensee» im Westen, 1934 in London, zu verdanken. Doch mit den heute an der Harvard University aufbewahrten Notationen beschäftigte man sich erst seit den Achtzigerjahren.

Längst aber hatte «Schwanensee» sich auf der Bühne von seinen Schöpfern emanzipiert. Was früher zunächst ein feenhaftes Tanzmärchen unter vielen gewesen war (freilich mit einer herausragenden Partitur), reizte zu vielerlei tiefensichtigeren Deutungen und Weitererzählungen. Die ambivalente Gestalt des Schwans in seiner Beziehung zu dem eigentümlich passiven und scheuen Prinzen rückte dabei immer mehr in den Mittelpunkt.

Museal, aber lebendig

Auftritt Alexei Ratmansky: Der 49-Jährige aus Kiew ist heute der meistgesuchte Klassikchoreograf der Welt, gleichzeitig interessiert er sich neben seinen eigenständigen Kreationen stark für die Vergangenheit. Die er freilich nicht nur als Archivar oder Archäologe aufbereitet, sondern für heutige Augen aufführbar macht: museal, aber lebendig.

Für «Le Corsaire» 2007 am Bolschoi-Theater hat sich Ratmansky noch den Expertenrat anderer dazugeholt, inzwischen ist er selbst Stepanow-Spezialist. Doch von seinen drei grossen historischen Petipa-Rekonstruktionen, der bei uns als komplettes Werk völlig unbekannten Tanzoperette «Paquita» 2014 in München, dem als ausstattungsprächtigem Märchen ohne Psychologie leichter rückwärts zu transferierenden «Dornröschen» 2015 in Mailand und dem jetzt von Zürich ebenfalls an die Scala weiterziehenden «Schwanensee», überzeugt letztere am wenigsten. Obwohl die Produktion unbedingt notwendig war – um genau diese Erfahrung machen zu können.

In den Details liegt der Reiz

Geht man zurück zu den Petersburger Quellen, dann findet man reizvolle Details wie beispielsweise den bewusst bäuerlich gehaltenen Eröffnungswalzer als komplexe, dabei rustikale Choreografie mit Schemeln und einem Maibaum. Überhaupt war die ganze Atmosphäre des Stücks einst viel heiterer als in den heutigen, meist als gothic tale in Schwarz und Silber gehaltenen Ausstattungen. In Zürich tut Jérôme Kaplan mit seinen farbenfrohen Bildern des Gegenguten fast zu viel. Sie verengen die sowieso nicht grosse Bühne, und der beliebige Kostümstilmix aus Mittelalter, Barock und Art nouveau verwirrt.

Ratmansky hält sich stilistisch einigermassen strikt an die Quellen, wenn er die Schwäne eher als Frauen zeichnet, mit knielangen romantischen Tutus, weissen Hütchen und einem Haarzopf. Auch sind die berühmten grazilen, erst über die späteren Praxisjahrzehnte elaborierten Vogelarme kaum ausgeprägt: Wir sehen quasi Schwanenküken nach dem Ausschlüpfen am Beginn ihrer Bühnenexistenz. Die böse Zaubertochter Odile wurde ebenfalls erst in den Vierzigerjahren zur Antipodin als schwarzer Schwan.

Lyrische Anmut und steife Ausdrucksarmut

Hier ist sie ein Glamourgirl an der Hand ihres Papas (den Manuel Renard als zur Pantomime degradierte Vogelscheuche geben muss), das den Prinzen auf seinem Hochzeitsfest verführt. Siegfried freilich ist in Gestalt von Alexander Jones ein steifer ruckeliger, ausdrucksarmer Ballerino, während Viktorina Kapitonova mit lyrischer Anmut gefällt; dass sie die Extreme der beiden Rollen nicht stärker ausspielen darf, liegt an der historistischen Vorlage.

Schwarze Schwäne gibt es aber (wie in manchen russischen Versionen) trotzdem: Sie tauchen im letzten Bild auf. Dessen sonstige Melancholie und Leidenschaft bis zum gegenwärtig meist tödlichen Ende freilich hier durch allzu heiter-tanzlustige Tschaikowsky-Einlagen von damaliger Bearbeiterhand gestört ist und durch eine Apotheose des unsterblichen Paares im Riesenschwanenboot abgemildert wird. Hier fährt der sonst so nobel zurückhaltende Dirigent Rossen Milanov schweres Blechgeschütz auf.

Lernreicher Premierenabend

Im ersten Schwanenbild hingegen waren Männer als Jägergefolge Siegfrieds zwischen die Damenriegen verwoben, auch weitete sich der berühmte weisse Pas de deux zum Trio mit dem Freund Benno (Andrei Cozlac), der dann allerdings aus der Handlung verschwand. Ratmansky thematisiert so für die Wissenden, dass am zaristischen Ballett alle Ballerino-Rollen vom 1895 bereits 51-jährigen Pavel Gerdt dargestellt wurden, der in seinen wenigen wirklichen Tanzmomenten immer gedoubelt werden musste.

Wir lernen an diesem durchaus wichtigen, aber uns heutige Betrachteraugen nicht wirklich begeisternden Premierenabend: Durch die beständige Beschäftigung in der Praxis wird eben doch Kunstausdruck auch optimiert, vertieft, verfeinert, raffinierter. Und Tradition ist nicht immer nur bequemes Weitermachen als Schlamperei. Wie gut, das einmal wieder in Zürich vorgeführt zu bekommen.

Ratmansky weist übrigens darauf hin, dass in der Stepanow-Schrift noch weitere zwanzig (!) Petipa-Stücke rekonstruierbar seien. Aber «Schwanensee» hätten wir beim nächsten Mal dann doch lieber wieder mit den Choreografenaugen des 21. Jahrhunderts betrachtet.

Die Kontributoren sind externe Autoren und wurden von bilanz.ch sorgfältig ausgewählt. Ihre Meinung muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.