In den 1990er-Jahren, da sind wir oft gemeinsam gelaufen, mein Vater und ich. Damals hatte Vater mein Alter, und das Laufen war seine Rettung vor zu viel Gewicht. Er nahm damals massig ab und war wieder ziemlich in Form. Vater war früher Sprinter gewesen und ein echt schmales Hemd. Das war auch während des Studiums noch so. In den ersten Berufsjahren wurde er runder, und er zog die Laufnotbremse.

Wer will schon wie der eigene Vater sein? Ich wollte es lange nicht. Auf gar keinen Fall. Und doch kam es bei mir ganz genau so wie bei Vater. Früher viel Sport, dann nur noch Job, und alles nahm ein dickes Ende. Das Ende waren 115 Kilogramm. Das Laufen wurde auch bei mir zur Rettung. Verdammt, und ich wollte doch auf keinen Fall so werden und so sein wie mein Vater.

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Wandern – noch schlimmer als walken

Väter – wenn sie älter werden, laufen sie meist nicht mehr. Sie walken. Oder, noch schlimmer, sie wandern. Mit Stöcken bewaffnet spiessen sie Kröten im Wald auf. Väter laufen zu dritt nebeneinander im Wald und regen sich über Läufer auf, die sich leise von hinten nähern.

Väter tragen dabei uncoole Wanderschuhe, die für coole Söhne, die bunte Laufschuhe tragen, spiessig sind. Und spiessig ist einfach die Pest. Vor einigen Jahren habe ich mir spiessige Wanderschuhe gekauft. Um mit meinem Vater besser wandern zu können. Anfangs hoffte ich, dass mich dabei niemand sah. Vor einigen Wochen habe ich mir bereits das zweite Paar dieser klobigen Treter gekauft, und ich finde sie ziemlich cool.

Beim Wandern sind andere Muskeln gefordert

Wir haben sie zusammen gekauft, mein Vater und ich. Vielleicht finde ich sie auch deshalb cool. Das Laufen hat uns immer verbunden, und so wird es immer sein. Heute läuft es eben anders. Vater ist Rentner, ich laufe wie er damals, und zusammen läuft es besser, wenn wir wandern. Und das hat seine positiven Aspekte, einige sogar.

Die Wanderei ist für mein Lauftraining eine wunderbare Abwechslung. Es werden andere Muskelgruppen angesprochen, gerade wenn wir beide in unserer Heimat, dem Westerwald, wandern. Dort legen wir ordentlich Höhenmeter zurück.

Ich nutze diese Märsche in der Tat zur Regeneration, gerade in der Marathon-Vorbereitung. Ganze Tage komplett zu pausieren halte ich eher für falsch. In Bewegung zu bleiben hat gerade in der Marathon-Vorbereitung Sinn. Sehnen und Gelenke werden beim Wandern geschont. Die Muskeln lockern sich, und doch kommt das Herz ordentlich in Aktion.

Während Grossmutter ihren Mittagsschlaf hält

Das gemeinsame Wandern ist bei Vater und mir zu einem Ritual geworden. Es ist eng verknüpft mit einem Besuch bei seiner Mutter, meiner Grossmutter. Sie ist auch ein wenig meine Mutter. Denn ich bin die ersten Jahre bei ihr und meinem Grossvater aufgewachsen.

Grossmutter ist nun 86. Sie legt nach dem Mittagessen stets die Beine hoch. Dabei hält sie ihren Mittagsschlaf. Das ist so, seit ich denken kann. Das ist der Moment, in dem wir uns kurz von ihr verabschieden. Was sie kaum mitbekommt, weil sie sehr schlecht hört.

«Wir gehen dann, Mutter...» Grossmutter schaut mich an, obwohl Vater gesprochen hat. «Wir gehen dann Mutter», sagt Vater etwas lauter. Grossmutter lacht und sagt: «Wartet, ich mache das Hörgerät raus, dann höre ich besser.» Wir gehen dann. Und wandern zwei Stunden durch die Vergangenheit.

Unterstützung macht Gemeinschaftserlebnis möglich

Diese Läufe, nein, Walks, nein, Wanderungen, sind Zeitreisen auf der einen Seite. Weil sich hinter jedem Strauch, hinter jeder Weggabelung eine Geschichte versteckt. Und wenn es nur eine kleine Erinnerung ist.

Unsere letzte Wanderung war intensiver als die anderen. Wir nahmen einen Weg, der von der Gemeinde wieder der Natur übergeben wurde. So wurde der Walk ein kleines Abenteuer. Es ging über querliegende Bäume und durch Dornenbüsche. Es ging so weiter, bis wir an einen Punkt kamen, an dem wir ein Buschmesser gebraucht hätten.

Zwei Meter unter uns, getrennt durch einen kleinen Abhang, tauchte der normale Weg auf. Mit meinen uncoolen Wanderschuhen, hüpfte ich elfengleich auf den Weg. Vater schaute unsicher. Seine Augen verrieten, dass er gern cooler wäre, es aber nicht wagte, zu springen.

Als ich klein war, fing mich mein Vater auf, wenn ich auf einer Mauer balancierte und hinunterspringen wollte. Jetzt war ich es, der meinen Vater stützte und auffing. Damals konnten wir dann den gemeinsamen Weg zusammen weitergehen, auch an diesem Tag war es so. Wichtig war nur, für den anderen da zu sein. Um eben diesen gemeinsamen Weg fortschreiten zu können.

Verbindendes Erlebnis

Vater und ich sind oft komplett verschiedene Wege gegangen. Ab und an haben uns auch Wege getrennt. Manchmal sah es so aus, als ob alles den Weg versperrte, um einen gemeinsamen Weg gehen zu können. Um so glücklicher war ich in diesem Moment, als ich Vater in meinen Armen halten konnte. Worte waren nicht notwendig. Es passierte einfach.

«Dort, diesen Weg bin ich oft gejoggt als Jugendlicher», sagte Vater. «Witzig. Ich auch, als ich Grossmutter neulich alleine besuchte», entgegnete ich. Immer und immer wieder schafft das Laufen zwischen uns eine Verbindung.

Der Vater übernimmt das Training

Eine recht langsam und steil ansteigende Wiese lag vor uns. Auf der Kuppe, weit oben, vermutete Vater einen Weg, der uns zurückführen würde. Plötzlich zog er an, Vater stapfte voran. So schnell, dass der Laufkolumnist Kleiss ganz schön aus der Puste kam. Schön war das, denn hier war wieder der Beweis: Ab und zu mal Abwechslung im Training ist nicht die schlechteste Idee, die man haben kann. Abwechslung macht den Läufer zu einem besseren Läufer.

So wurde Vater für diesen Moment zum Trainer. Und wie es sich für einen guten Trainer gehört, kam er zuerst oben an. Auf dem Weg, der uns zurückführte.

Wandern als Basis von Liebe

Diese Kuppe ist meist der Punkt, an dem wir – egal, wie wir dorthin kommen – wieder Puste haben. Wir haben uns bis dahin freigelaufen, durchgeatmet und nun Luft zum Reden. Von der Seele weg. Und gerade dann sind die Gespräche besonders offen und sehr persönlich.

So selbstverständlich es ist, sich zu stützen, vor dem Sturz zu bewahren, um den Weg weitergehen zu können, so selbstverständlich ist die Nähe der Gespräche. Das gemeinsame Laufen, das zwischen uns Wandern heisst, ist die Basis von Nähe, Respekt, Lachen, Sorgen zu teilen und … Liebe.

Wenn ich könnte, würde ich verordnen, dass Läufe mit Vätern in jeden Marathon-Plan gehören. Sie machen jeden Läufer zu einem besseren Läufer. So und auch so. So läuft es.

Die Kontributoren sind externe Autoren und wurden von bilanz.ch sorgfältig ausgewählt. Ihre Meinung muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.