In der Europäischen Union sein oder nicht? Das ist für Grossbritannien die Frage. Hinzu kommt für Schotten und Nordiren eine zweite Hamlet-Frage: Im Vereinigten Königreich bleiben oder nicht? Entweder ... oder – sehr unenglisch eigentlich. Tatsächlich zwingt niemand die EU oder Grossbritannien, Schottland oder Nordirland, sich so wie Hamlet zu verhalten.

Warum sollten Schottland und Nordirland nicht in der EU bleiben und im Vereinigten Königreich? Warum sollte nicht sogar auch London für diese Option votieren? Alles, was nottut, ist eine Abkehr von jener Verbissenheit, die sich als Logik tarnt, und die Hamlet – nicht zufällig – im deutschen Wittenberg gelernt hatte.

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Unnötiges Leid

Wittenberg war ja die Wirkungsstätte des Theologen Martin Luther, der die erfolgreichste supranationale Institution Europas, die katholische Kirche, zerstört hat. 1521 – achtzig Jahre vor der Uraufführung des Shakespeare-Dramas – hatte Luther auf dem Reichstag zu Worms pathetisch ausgerufen: «Hier stehe ich, ich kann nicht anders.»

Hierfür wird er in Deutschland bis heute verehrt, obwohl seine Kompromisslosigkeit zwei Jahrhunderte Gemetzel im Namen der Religion und die Verwüstung des Landes zum Ergebnis hatte. Hätte er stattdessen gesagt: «Hier stehe ich – ich kann auch anders», es wäre allen Europäern viel Leid erspart worden.

Deutsche Schadenfreude über Schotten-Referendum

Leider ist solches Denken in Antinomien bis heute in Luthers Heimat weit verbreitet. «Drinnen oder draussen» – das ist das Mantra deutscher Politiker von Wolfgang Schäuble abwärts. Man werde keine «Rosinenpickerei» zulassen, sondern die Engländer für ihr Votum bestrafen, und wenn darüber das Vereinigte Königreich zugrunde geht, umso besser.

In deutschen Regierungskreisen gibt es nämlich eine gar nicht so klammheimliche Schadenfreude darüber, dass die schottischen Nationalisten über ein zweites Referendum zum Verlassen des Königreichs nachdenken. Obacht. Bloss weil jemand nicht von Westminster aus regiert werden will, heisst das nicht unbedingt, dass er gern von Brüssel aus regiert wird. Unwillige Briten sind nicht automatisch willige Europäer.

Kleine werden leiden

Vor allem macht das Virus der Desintegration Europa nicht stärker. Sicher, es macht die grossen Staaten stärker – vor allem Deutschland, das anders als etwa Spanien oder Italien keine eigenen sezessionistischen Bewegungen, keine Basken und Katalanen und keine Lega Nord kennt.

Es macht auch Brüssel stärker, da viele kleine Nationen es schwerer finden dürften, im Europäischen Parlament oder im Rat genügend Stimmen zusammenzubekommen, um Massnahmen der Kommission abzuwehren.

Wer will, der soll

Vor allem schwächt die europäische Desintegration Europas Verteidigungsbündnis, die Nato. Die Nato hat keine eigenen Streitkräfte, sondern verlässt sich auf die nationalen Armeen. Kleine Nationen haben in der Regel schwache Armeen. Kurzum, das Zerlegen grosser Nationen ist keine gute Idee, auch wenn einige romantische Föderalisten von einem «Europa der Regionen» träumen. Vielleicht später im Jahrhundert, aber nicht jetzt.

Deshalb sollte das wichtigste europäische Nato-Mitglied nicht zerlegt werden. Das Brexit-Referendum war nicht rechtlich, wohl aber politisch bindend. Und was es besagte, war: Die Engländer und Waliser wollen raus aus der EU, die Schotten und die Nordiren wollen drinbleiben. Sollen sie doch.

Einfacherer Engxit und Walexit

Und es gibt einen Präzedenzfall. 1984 schied Grönland aus, blieb aber Teil des dänischen Königreichs. Grönland ist zwar nicht England; eher ist es mit Wales vergleichbar. Entscheidend ist aber das Prinzip: Ein Königreich kann Mitglieder und Nichtmitglieder der EU umfassen. Statt Brexit also Engxit und Walexit.

Es dürfte einige Grenz- und Passprobleme geben, sie sind lösbar. Sicherlich erheblich leichter lösbar, als wenn Nordirland gezwungen wird, aus der EU auszutreten und die Grenze zur Republik Irland Aussengrenze der EU wird, mit Zoll-, Aus- und Einreisekontrollen.

Grenzen à la Mautstationen

Dafür gäbe es zwischen Schottland und England vielleicht Passkontrollen und Zollstationen – kaum schlimmer als die wiederholten Mautstationen, die man auf französischen oder italienischen Autobahnen passieren muss, wenn man sie richtig betreibt.

Sollte Schottland zugleich in der EU und dem Vereinigten Königreich bleiben, könnten Deutsche, Franzosen, Polen, Esten, Rumänen und so weiter wie schon heute in Schottland studieren und arbeiten, aber eben nicht in England oder Wales, wo es vielleicht dafür grosszügigere Quoten für Inder, Chinesen und Russen geben könnte.

Vieles bliebe beim Alten

Gewinner einer solchen Regelung wären Städte wie Edinburgh und Belfast, die Geschäftsleuten aus London eine Art wirtschaftliches Asyl bieten könnten: immer noch in der EU und zugleich immer noch in einem englischsprachigen Land.

Schottische Häfen wie Aberdeen würden auch von der Regelung profitieren. Apropos Häfen: Die britische Atom-U-Boot-Flotte könnte auch in Schottland bleiben; denn als Teil Grossbritanniens bliebe Schottland Teil der Nato. Aussen- und Verteidigungspolitik würden weiterhin in Westminster gemacht.

Sonderfall London

Und London? Angesichts des Europa-Enthusiasmus der Londoner könnte London auf die Herausforderung durch Edinburgh, Belfast und Dublin mit dem Antrag reagieren, als Sonderwirtschaftszone einen besonderen Status in der EU – und im Königreich – zu erhalten. Schon heute kann man fast überall in der City mit Euros bezahlen, falls man nicht ohnehin Plastikgeld bevorzugt. Londoner fahren mit dem Zug lieber nach Paris als nach Manchester.

Kurzum, die Londoner sind eine besondere Art Briten, ganz anders als die «Little Englanders» in der Pensionärsstadt Cheltenham oder dem proletarischen Sunderland. Warum sollte London als Sonderwirtschaftszone nicht eine Art Assoziationsabkommen mit der EU schliessen? Ein bisschen wie die Schweiz, aber mit Grenzkontrollen und einem eigenen Kommissar. Die Deutsche Bank und deutsche Banker könnten bleiben. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

«Und» ist die Lösung

Man muss halt nur wollen. Sein oder Nichtsein? Quatsch. Wohin das geführt hat, wissen wir. Am Ende des Dramas hat Hamlet das ganze dänische Königshaus und sich selbst ins Jenseits befördert, sehr zur Freude der alten Feinde des Königreichs, der Norweger. Sein und Nichtsein, drinnen und draussen – das ist hier die Lösung. Damit aus dem Brexit keine Tragödie wird.

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