Freitagmorgen, 24. Juni 2016: Europa wacht auf. Die Briten haben für ihren Austritt aus der EU gestimmt, der sogenannte Brexit ist da. Es ist ein Szenario, das seit Wochen bei Verantwortlichen in den Hauptstädten des Kontinents und an den Börsenplätzen rund um den Globus für schlaflose Nächte gesorgt hat. Mit dem Worst-Case-Szenario - den sogenannten Brexit - muss sich die EU völlig neu sortieren.

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Tag eins, Freitag, 24. Juni: Cameron unter Druck

Der britische Premierminister David Cameron - der das Referendum ansetzte und für einen Verbleib seines Landes in der EU warb - steht mit der verlorenen Volksabstimmung unter massivem politischen Druck. Er hat zuvor angekündigt, die EU «umgehend» darüber zu informieren, wenn das Königreich die Union verlässt. Diese umgehende Mitteilung könnte allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen, denn Cameron muss zunächst einmal seine eigene politische Zukunft sortieren. Die Tories sind in der Frage der EU-Mitgliedschaft tief gespalten.

Zugleich ist es durch die Entscheidung für den «Brexit» zu massiven Verwerfungen an den Finanzmärkten gekommen, zumal in den vergangenen Tagen Börsianer auf den Verbleib der Briten in der EU gesetzt haben. Die Bank of England und die Europäische Zentralbank stehen bereit, am Devisemarkt einzugreifen.

In Brüssel tagen ab 07:00 Uhr die Spitzen der Fraktionen im EU-Parlaments, ab 08:00 Uhr das Präsidium unter Führung von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Um 10:30 Uhr lädt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu einem Gespräch mit Schulz, EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte, dessen Land die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Wenig später treffen die Aussenminister unter anderem von Deutschland und Frankreich zu Beratungen in Luxemburg zusammen.

Sie und die EU-Institutionen werden voraussichtlich Erklärungen veröffentlichen, die drei Kernbotschaften enthalten. Erstens ein Bedauern über das Ausscheiden des Landes, das nach Deutschland die grösste Wirtschaftsmacht in der EU und ein militärisches Schwergewicht ist. Zweitens der Respekt gegenüber der Entscheidung des britischen Volkes. Drittens die Entschlossenheit, das Projekt EU voranzubringen. Zugleich wird versucht, eine Warnung an andere EU-Staaten zu formulieren: Nämlich nicht auf die Idee zu kommen, den gleichen Weg wie die britische Regierung zu beschreiten und mit der Option eines EU-Austritts zu spielen.

Tag drei, Sonntag, 26. Juni: «Raum B»

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will nach Angaben von EU-Vertretern am folgenden Sonntag ein Sondertreffen der Kommissionsspitze einberufen. Ein reguläres Treffen des Kollegiums war für Montag geplant. Die EU-Behörde ist dafür zuständig, die Formalitäten der Scheidung zwischen London und Brüssel zu regeln. Einen «Plan B» für diesen Fall soll es angeblich nicht geben. Ähnliche Versicherungen waren indes auch im vergangenen Sommer in der Debatte über ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone («Grexit») zu hören, bis mehrere Euro-Finanzminister schliesslich selbst von einem «Plan B» sprachen, als die Verhandlungen kurz vor dem Scheitern standen.

Doch statt eines schriftlichen Notfallplans, der den Weg in die Medien finden könnte, gebe es beim «Brexit» eher einen «Raum B», sagt ein EU-Vertreter. Dort sollten Experten und Juristen Massnahmen festzurren, die am Montagmorgen präsentiert werden könnten. Denn spätestens nach dem letzten Juni-Wochenende dürften Finanzmärkte und Bürger fragen, wie es mit der EU ohne Grossbritannien weitergehen soll.

Tag fünf, Dienstag, 28. Juni: Ein Dinner in Brüssel

EU-Gipfel in Brüssel: Auch wenn Camerons politische Karriere vorbei sein sollte, dürfte er am traditionellen Abendessen zum Auftakt des Gipfels der 28 Staats- und Regierungschefs noch teilnehmen, da vermutlich noch kein Nachfolger für ihn ernannt ist. Cameron könnte dort zudem EU-Ratspräsident Tusk offiziell darüber informieren, dass sein Land nach Artikel 50 der EU-Verträge aus der Union austritt.

Noch ist umstritten, ob Cameron diesen Schritt bereits an jenem Abend geht oder ob die Regierung in London auf Zeit spielt. Auf der anderen Seite des Tisches wird es wahrscheinlich Staats- und Regierungschefs geben, die einen sofortigen, klaren Schnitt wollen, um den Eindruck langer Verhandlungen und Sonderregelungen für die Briten sofort zu unterbinden. Das Reformpaket, das Cameron der EU im Februar abgerungen hat, ist mit dem Brexit vom Tisch.

Tag sechs, Mittwoch, 29.Juni: Ein Stuhl weniger

Der zweite Tag des EU-Gipfels wird womöglich ohne Cameron stattfinden. Die übrigen 27 Staats- und Regierungschefs dürften dann darüber debattieren, wie sie die Union zusammenhalten wollen und die Löcher im EU-Haushalt stopfen, die ein Abschied des Nettozahlers Grossbritannien reissen würde. Deutschland und Frankreich könnten zugleich Ideen für eine stärkere EU-Integration vorbringen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen oder eine gemeinsame EU-Verteidigungspolitik aufzubauen. Angesichts der Wahlen 2017 in beiden Ländern sind weitreichende Massnahmen indes unwahrscheinlich. Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte zudem eine gemeinsame Antwort aller EU-Staaten an.

Ab Tag sieben: Kein kurzer Brief zum langen Abschied

Trotz des Brexit bleiben die EU-Regeln für das Königreich noch zwei Jahre lang in Kraft. Theoretisch wäre EU-Kommissar Jonathan Hill noch weiter für die Finanzmärkte zuständig, die britischen Abgeordneten würden noch im EU-Parlament sitzen, Minister aus London an Sitzungen im EU-Rat teilnehmen. Viel zu sagen aber hätte wohl keiner von ihnen. Auch sonst könnte die Trennung bald im Schweigen enden.

Die EU hätte mit der Debatte über den Umgang mit Russland oder die Lehren aus Schulden- und Flüchtlingskrise genug Themen, um sich von den Unannehmlichkeiten der britischen Scheidung abzulenken. Und die Regierung in London - wer auch immer sie dann führt - wäre damit beschäftigt, erneute Absetzbewegungen der pro-europäischen Schotten einzudämmen.

Generell herrscht in Brüssel bei vielen Verantwortlichen die Einstellung vor, den EU-Abschied für die Briten so schmerzhaft wie möglich zu machen, um Nachahmer in anderen EU-Ländern abzuschrecken. Die von britischen Brexit-Befürwortern erwarteten Handelserleichterungen soll es jedenfalls nicht auf dem Silbertablett geben.

(reuters/ccr)