Europa steckt in einer stillen Krise – nicht wegen Märkten oder Regulierungen, sondern wegen nicht gelingender Nachfolge. Überall dort, wo Verantwortung übergeben werden soll, wird gezögert. Hinzu kommt, dass Nachfolge nicht nur am Ende einer Karriere schwierig ist. Das viel häufigere Problem sind Übergaben, wenn Mitarbeitende wechseln, aufsteigen oder pausieren. Neben formalen Aspekten geht es immer auch um eines: das Loslassen. Warum fällt das so schwer? Welche inneren, menschlichen Motive stehen einer erfolgreichen Stabsübergabe im Wege, und was kann man tun?

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Da ist einmal das Kontrollbedürfnis – oft ein Ersatz für innere Sicherheit–, weswegen Menschen festhalten wollen. Wer loslässt, fürchtet, Einfluss und Wert zu verlieren. Dieser vermeintliche Selbstschutz verhindert Entwicklung – bei anderen wie bei einem selbst.
Eng damit verbunden sind Identität und Selbstwert: Ich bin, was ich tue! Viele Führungskräfte verschmelzen mit ihrer Rolle. Sie wird Teil des eigenen Ichs. Loslassen ist dann nicht die Abgabe von Aufgaben, sondern der Verlust von Identität. Es weckt die stille Angst, unsichtbar zu werden.

Die Gastautorin

Katja Unkel ist Gründerin der Firma Managing People AG, die Führungskräfte und Organisationen berät, coacht und trainiert.

Macht und Eitelkeit, das süsse Gift des Einflusses, sind häufige Stolpersteine. Macht braucht Kontrolle, Bedeutung und Sichtbarkeit. Das Ego muss glänzen; andere dürfen nicht leuchten. Es wird als Bedrohung empfunden, wenn jemand erfolgreich wird. Die eigene Strahlkraft soll auch nach dem Abgang bleiben.

Vermeintliche Fürsorge und Verantwortungsgefühl verhindern, getarnt als edles Alibi, das Loslassen. Dahinter steckt oft Misstrauen, das gepaart mit Überheblichkeit zur Überzeugung führt, dass andere noch nicht so weit sind. Man will Fehler vermeiden und sicherstellen, dass der vergangene Erfolg genauso weitergeht. Gefangen in alten Erfolgsmustern, traut man den Nachfolgenden nichts zu und verhindert damit notwendige Erneuerungen.

Es gibt noch weitere Motive. Die Gründe, weshalb Menschen nicht loslassen können, sind vielfältig, doch sie folgen ähnlichen Mustern aus Kontrolle, Identität, Eitelkeit und Angst. Die Frage ist: Was kann man dagegen unternehmen? Der erste Schritt ist Bewusstmachung. Das Nichtloslassen ist oft kein böser Wille, sondern ein unbewusstes Muster. Machen wir uns dieses bewusst, können wir gegenlenken: Wo halte ich fest, obwohl ich nicht mehr müsste? Gibt es handfeste Gründe, nicht zu vertrauen? Bin ich wirklich der Beste?

Vertrauen kann man kultivieren, und zwar nicht als Gefühl, sondern als System. Vertrauen ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Es wächst, wenn Menschen Verantwortung übernehmen dürfen und Fehler kein Gesichtsverlust sind.

Auch Macht muss neu definiert werden. Führung heisst nicht, im Zentrum zu stehen, sondern Wirkung zu ermöglichen. Macht ist Verantwortung, kein Besitz. Professionalität zeigt sich darin, Einfluss zu teilen – ohne die Sorge um Bedeutung. Das Ego ist kein Teamplayer. Es braucht eine Kultur, die Egos nicht füttert, sondern entlarvt. Es muss heissen: Wer andere stark macht, stärkt das Ganze.

Hilfreich sind Prozesse, die das Loslassen fördern. Dass Übergaben keine Brüche, sondern Teil des Jobs sind, sollte strategisch mitgedacht in den individuellen Zielen stehen, um so Teil der Anreiz- und Beurteilungssysteme zu sein. Übergaberituale mit Würdigung, Dank und Reflexion stärken Kultur und Kontinuität. So wird das Gehen zu einem bewussten Teil des Führens.

Loslassen ist kein Verzicht, sondern Ausdruck von Reife. Es ist die Chance, Wirkung zu vermehren. Es ist Teil der Führungsarbeit. Nachfolge lässt sich organisatorisch fördern, sie braucht aber jeden Einzelnen. Es beginnt mit der ehrlichen Bewusstmachung der eigenen Stolpersteine. Wer diese erkennt, hat den wichtigsten Schritt getan.