Am 10. Februar erhielt Andreas Rickenbacher gleich mehrere besorgte Mails aus der australischen Konzernzentrale von CSL Behring. In der Tat fiel das Ja zur Zuwanderungsinitiative im dümmsten Moment: mitten im Endspurt des Kampfes um die Ansiedlung einer neuen Produktionsanlage des global tätigen Biotechnologie-Konzerns, immerhin eine Investition von mehreren hundert Millionen Dollar.

Der bernische Volkswirtschaftsdirektor, der über drei Jahre für den Deal gearbeitet hatte, versuchte zu beruhigen und erklärte, dass die Schweiz in der Vergangenheit auch unliebsame Volksentscheide immer mit Augenmass umgesetzt habe. Rickenbacher war offensichtlich überzeugend. Die Australier entschieden sich drei Monate später für Lengnau im Kanton Bern – und gegen Singapur.

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Vor noch nicht allzu langer Zeit war die direkte Demokratie ein Verkaufsargument für die Schweiz. Sie war Garantin für politische und gesellschaftliche Stabilität sowie für Rechtssicherheit. Drei Argumente, die bei ansiedlungswilligen Konzernen ganz weit oben auf der Hitliste der Standortfaktoren figurieren – gemeinsam mit tiefen Steuern, einem grossen Potenzial an qualifizierten Fachkräften, einer gut ausgebauten Infrastruktur sowie einer zentralen Lage. Beratungsunternehmen zeigten ihren Kunden nicht ohne Stolz, wie wirtschaftsfreundlich das Schweizervolk abstimmt, zum Beispiel als es sich mit einer Zweidrittelmehrheit gar gegen sechs Wochen Ferien für alle aussprach. Hier präsentierten sich die Schweizer als vernünftiges, arbeitsames Volk.

Erhöhter Erklärungsbedarf

Doch seit dem Ja zur Minarett-, zur Abzocker- und vor allem zur Masseneinwanderungsinitiative sticht dieser Trumpf nur noch bedingt. Denn diese drei Urnengänge beweisen, dass in der Schweiz auch fremden- und wirtschaftsfeindliche Resultate möglich sind. «Der Erklärungsbedarf gegenüber Unternehmen, die sich für einen Standort in der Schweiz interessieren, ist enorm gestiegen», sagt Balz Hösly, Präsident der Greater Zurich Area (GZA).

22 Initiativen wurden seit 1891 angenommen, neun davon in den letzten zehn Jahren. Jede Abstimmung wird zur Zitterpartie. «Die vielen sogenannt wirtschaftsfeindlichen Abstimmungs​vor​la​gen haben aus Sicht der internationalen, ansiedlungswilligen Unternehmen die Standortattraktivität der Schweiz geschwächt», sagt Peter Uebelhart, Geschäftsleitungsmitglied bei KPMG Schweiz. Die direkte Demokratie, dabei insbesondere die Ergebnisse einzelner Abstimmungen, sei bei Ansiedlungsgesprächen vermehrt ein Thema, ein Grund für besorgte Fragen. «Abstimmungsergebnisse wie am 9. Februar sorgen für Unsicherheit. Und Unsicherheit ist Gift im Wettbewerb um ansiedlungswillige Unternehmen», betont Uebelhart.

Praller Giftschrank

Der Giftschrank ist prall gefüllt. Nicht weniger als 18 Initiativen sind bei Bundesrat und Parlament hängig, elf weitere befinden sich im Stadium der Unterschriftensammlung – inklusive der Spassinitiative «Männer raus». Erbschaftssteuer, bedingungsloses Grundeinkommen, mehr Subventionen für Familien und Verheiratete, mehr AHV für alle, grüne Wirtschaft – eine Initiative jagt die andere. Im Quartalstakt wird abgestimmt. Im Jahr 2014 kamen nicht weniger als neun Initiativen vors Volk, und zwei wurden angenommen. Das gab es in der über 120-jährigen Geschichte der Initiative noch nie. Das letzte Jahr ohne Abstimmung über eine Initiative war 1983.

Auch das Parlament verbringt immer mehr Zeit mit Initiativen. In der aktuellen Legislatur hat es bereits 28 behandelt, zehn weitere stehen noch auf der Traktandenliste. Das ist ein neuer Rekord. Das lähmt die Legislative, treibt die Politiker vor sich her und beängstigt die Wirtschaft. «Es ist des Guten zu viel», sagt Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt. «Wir haben in diesem emotionalen und emotionalisierten Umfeld kaum Chancen mit technischen Argumenten und grundsätzlichen Debatten», ergänzt Urs Berger, Präsident der Mobiliar und des Versicherungsverbands. «Wir kommen an unsere Grenzen.»

Politiker wollen Leitplanken

Das findet auch die Staatspolitische Kommission des Ständerats. Für den 22. und 23. Januar hatte sie unter der Leitung der Grünliberalen Verena Diener eine Reihe von Rechtsexperten eingeladen, um den Reformbedarf im Initiativrecht zu diskutieren. Ansetzen wollten Diener und ihre Kollegen bei der Ungültigkeitserklärung. Heute ist ein Volksvorschlag ungültig, wenn er die Einheit der Materie oder die Einheit der Form verletzt oder gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstösst.

Doch das Parlament tut sich schwer mit seiner verfassungsrechtlichen Aufgabe als Schiedsrichter. Bis heute hat es von den über 300 zustande gekommenen Initiativen nur gerade vier für ungültig erklärt, zuletzt im Jahr 1996. Im Zweifelsfall für die Initiative, heisst die Devise. Oder mit den Worten des CVP-Fraktionschefs Filippo Lombardi: «Da wir schon gesündigt haben, sündigen wir weiter.»

So erklärte das Parlament die Ecopop-Initiative nicht für ungültig, obwohl sie Zuwanderungsstopp im Inland mit Geburtenkontrolle in Afrika verknüpft und deshalb für viele Experten als Paradebeispiel für den Verstoss gegen die Einheit der Materie gilt. Die SVP-Ausschaffungsinitiative und deren Durchsetzungsinitiative schafften die parlamentarische Hürde trotz Verstoss gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip und Widersprüchen zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch die Initiative für die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer wurde trotz mehrjähriger Rückwirkung durchgewinkt. Das sei der falsche Weg, sagt Lombardi. «Wir müssen jetzt Leitplanken setzen für das Initiativrecht, um dieses fundamentale Instrument der direkten Demokratie langfristig zu erhalten und nicht an die Wand fahren zu lassen.»

Immer extremer

Auch Verena Diener erkennt Handlungsbedarf. «Es ist die Rolle des Parlaments, Initiativen gültig oder ungültig zu erklären. Es sollte sich nicht vor seiner Verantwortung drücken», sagt die Ständerätin. «Denn auf jede Initiative, die wir gültig erklären, obwohl wir es nicht sollten, folgt eine nächste, die noch extremer, noch hemmungsloser ist.»

Unterstützung erhalten Diener und Lombardi auch von der Linken, obwohl diese als Opposition in der Vergangenheit selbst viel vom Initiativrecht Gebrauch gemacht hat. «Die Linke hat immer wieder Änderungen angestrebt, Gegenvorschläge ausgelöst – und so zu einer Evolution der Gesellschaft beigetragen», sagt SP-Ständerat Hans Stöckli. «Was wir jetzt mit der Durchsetzungsinitiative erleben, ist das Ausschalten des Gesetzgebers, der Bundesversammlung.» Die Volksaufträge seien widersprüchlich, immer öfter nicht umsetzbar oder gefährdeten wichtige internationale Abkommen. «Die Schweiz verliert ihre Verlässlichkeit.» Die direkte Demokratie ist gemäss Stöckli eine hervorragende Maschine zur Umsetzung des Mehrheitswillens, doch diese müsse neu justiert werden. «Mit der Abstimmung muss klar sein, was gilt. Jetzt schaffen wir mit jeder Abstimmung neue Unklarheiten.»

Mehr Verhältnismässigkeit

Ob es für eine Reform, wie sie die Ständeräte anstreben, eine Verfassungs- oder nur eine Praxisänderung braucht, lässt Diener offen. Sie will aber dem Prinzip der Verhältnismässigkeit, das ebenfalls in der Verfassung verankert ist, mehr Gewicht verleihen. Sprich: Staatliche Eingriffe in Grundrechte sind mit Blick auf das öffentliche Interesse und bei der Anwendung im Einzelfall zu überprüfen.

Lombardi wiederum fordert, dass die Initianten transparent machen müssen, wenn ihre Anliegen einem internationalen Abkommen widersprechen. Die SVP hätte demnach in ihrer Zuwanderungsinitiative auch gleich die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens fordern müssen, da Kontingente mit diesem bilateralen EU-Vertrag nicht vereinbar sind. Nichts halten Diener, Lombardi und Stöckli vom weitverbreiteten Vorschlag, die Zahl der Unterschriften zu erhöhen. Denn letztlich sei die Höhe der Unterschriftenzahl kein Indikator für die Qualität einer Initiative.

Hass-Mails gegen Reformer

Die Hürden für das Zustandekommen einer Volksinitiative sind deutlich tiefer geworden: Als das Instrument 1891 eingeführt wurde, mussten 7,65 Prozent der stimmberechtigten Männer unterschreiben. Mit der Einführung des Stimmrechts für Frauen und Auslandschweizer in den siebziger Jahren sank die Schwelle massiv ab. 1978 erfolgte mit der Verdoppelung auf 100 000 Unterschriften die Korrektur, das Quorum betrug damals wieder 2,6 Prozent. Doch seitdem ist es gesunken und liegt jetzt unter zwei Prozent.

Eine Korrektur tut not. Das denken unter anderem der frühere Staatssekretär und heutige CS-Verwaltungsrat Jean-Daniel Gerber, der Berater Thomas Held, der Ex-Nestlé-Topmanager Roland Decorvet, die wirtschaftsfreundliche Denkfabrik Avenir Suisse oder Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt. Als dieser es jedoch vor gut einem Jahr wagte, im «SonntagsBlick» die Verdoppelung der Unterschriftenzahl als eine mögliche Lösung zu propagieren, wurde er mit Hass-Zuschriften eingedeckt. Die meisten waren so derb, dass er deren Inhalt nicht wiedergeben will.

Totengräber der Demokratie

Wer es wagt, Reformen vorzuschlagen, wird als Totengräber der Demokratie verschrien – und das meist von rechts. Das ist insofern bemerkenswert, als es vor 20 Jahren die Rechten waren, die höhere Hürden wollten. 1992 reichte der SVP-Nationalrat Hanspeter Seiler einen Vorstoss ein, um die Unterschriftenzahl der Volksinitiative zu erhöhen, blieb aber trotz Rückendeckung aus den eigenen Reihen erfolglos.

Vogt setzt jetzt seine Hoffnungen auf das neue Parlament, das im Herbst 2015 gewählt wird. «Es braucht eine unaufgeregte und sachliche Diskussion.» Auch Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl fordert mit Blick auf die «hohe Kadenz bei Abstimmungen», dass «Reformen jetzt offen diskutiert werden», auch wenn es heikel sei.

Doch das scheint derzeit nur schwer möglich, wie die Reaktion auf den Vorstoss von Karl Vogler zeigt. Der CSP-Nationalrat wünscht einen Bericht vom Bundesrat zu möglichen Reformideen für das Initiativrecht und macht gleich selber ein paar Vorschläge, wie etwa den Pflichtgang zum Amt fürs Unterschreiben. «Die Initiative ist zum Wahlkampfvehikel für Parteien verkommen», sagt Vogler. Der Bundesrat ist einverstanden, ist sich aber bewusst, dass er sich damit auf dünnes Eis begibt, und betont deshalb in seiner Antwort, dass die Annahme des Postulats nicht mit der «Errichtung von allfälligen Hindernissen oder Schranken» gleichzusetzen sei. Doch allein die Diskussion geht der SVP zu weit. Parteipräsident Toni Brunner hat Widerstand markiert, die Traktandierung des Postulats wurde sogleich vertagt. «Es ist ein Reizthema, aber es ist wichtig, dass wir das jetzt anpacken», sagt Vogler.

Zwei erfolgreiche Typen von Initiativen

In den ersten sechzig Jahren waren zwei Typen von Initiativen erfolgreich: Die volkserzieherischen Initiativen, die ein Schächt-, ein Absinth- oder ein Glücksspielverbot forderten. Oder solche, die grundsätzliche Reformen im Staatswesen anstrebten, wie das von den Sozialdemokraten und der Katholisch-Konservativen Partei, der Vorläuferin der CVP, geforderte Proporzwahlrecht für den Nationalrat oder die vom Freisinn verlangte Rückkehr zur direkten Demokratie, die während des Zweiten Weltkriegs eingeschränkt worden war. Dann folgte ab Ende der achtziger Jahre die Stunde der Natur- und Alpenschützer. In jüngster Zeit hingegen wurden Strafrechtsartikel, Bauverordnungen, Zweitwohnungsquoten sowie aktienrechtliche Vorschriften in die Verfassung geschrieben. «Die Verfassung hat Besseres verdient», sagt Vogler.

Justizministerin Simonetta Sommaruga stellt die direkte Demokratie jetzt gar ins Zentrum ihres Präsidialjahres: In ihrer Antrittsrede Anfang Dezember verglich sie, die Pianistin, die direkte Demokratie mit einem Konzert. «Wir haben ein Septett, wir haben ein 246-köpfiges Orchester, und wir haben einen Chor», der sich aus jeweils etwa zweieinhalb Millionen Stimmbürgern zusammensetze. Sommaruga möchte also zurück zum ursprünglichen Zusammenspiel der Institutionen: Eine Initiative schreibt einen neuen Grundsatz in die Verfassung, der Bundesrat unterbreitet einen Gesetzesentwurf, das Parlament nimmt Korrekturen vor – und das Volk kann in einer Referendumsabstimmung nochmals Position beziehen.

Konkurrenz nützt Schwäche aus

Auch die internationale Presse fragt immer wieder, was mit den einst so wirtschaftsfreundlichen und berechenbaren Schweizern los sei. «Dies wird knallhart ausgenutzt von unseren Konkurrenten: Insbesondere Irland und England weibeln in den USA und erklären, dass die Schweiz kein sicherer Hafen mehr sei», sagt GZA-Präsident Hösly. Doch während andere Standorte der Schweiz das Wasser abgraben, merke diese es nicht einmal. «Denn die Schweiz hat nie richtig gelernt, sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten.» Sorgen bereiten Hösly auch die neusten Pläne aus der SVP-Küche mit der Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht»: «Besonders wir als Kleinstaat sind auf die Sicherheit angewiesen, welche uns und unseren international tätigen Unternehmen völkerrechtliche Vereinbarungen bieten.»

Im Vergleich zu anderen Ländern sei die Schweiz noch immer sehr stabil, sagt Regierungsrat Rickenbacher. Und auch sehr kompetitiv. «Doch die Verteilkämpfe um Ansiedlungen sind härter geworden.» Vor allem, weil die Konkurrenz aufgerüstet hat, allen voran Singapur. Aber eben auch, weil die Schweiz nach und nach ihren Nimbus als stabiler und berechenbarer Sonderfall verliert.