Von einem Tag auf den anderen hat das Coronavirus viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den Büros vertrieben. Obwohl immer noch einige Firmen, vor allem Banken, auf gesplittete Teams setzen müssen, weil sie ihre Prozesse nicht komplett digitalisieren konnten, gilt für eine Mehrheit der Schweizer Büroangestellten: Die Küche ist das neue Arbeitszimmer.

In den ersten Tagen war das für viele vielleicht noch ganz interessant, man war damit beschäftigt, alle technischen Aspekte zu klären. Reicht meine Mikroqualität? Ist meine Kamera scharf genug? Und wie wähle ich mich eigentlich in die Slack-Konferenz ein? Nach ein paar Tagen Übung dürfte die Technik bei den meisten passen, aber dass was fehlt, wird jetzt umso deutlicher: Der tägliche Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die gemeinsam entwickelten Routinen und Gewohnheiten. Die Beobachtung der Stimmung im Grossraumbüro, die Analyse des Verhaltens des Chefs. All das ist plötzlich nicht mehr. Und das führt zu ganz neuen Gedankenspielen und Reaktionsmustern. Was passiert da genau im Zwangs-Homeoffice? Und wie können wir die neuen Gefühle optimal kanalisieren?

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Sich selbst ausgeliefert

«Es fehlen die kollegialen, sozialen Kontakte und das Gemeinsame. Es ist stärker eine Begegnung mit sich selbst, was dazu führen kann, dass auch Fragen nach dem richtigen Beruf hochkommen», so die Managementberaterin und Führungskräfte-Coach Katja Unkel. «Ich sage bewusst ‹hochkommen›, denn sehr häufig ist es eine Bewusstmachung. Im bisherigen hektischen Berufsalltag plus Freizeit- und Sozialstress verlieren sich solche Sinnfragen, sie gehen unter; sie sind aber nicht weg, nur verdrängt.»

Ein anderer Punkt sei, dass man im Homeoffice stärker auf die jeweiligen Aufgaben fokussiert ist als im normalen Büroleben. «Sie stehen wie herausgeschält vor einem. Je abstrakter die Aufgaben sind oder je weiter weg von einem nützlichen Ergebnis, zu dem sie beitragen, desto eher werden sie als sinnlos betrachtet.» Besonders angesichts der drohenden Gefahren durch das Virus und der Aufopferungen vor allem durch das Krankenhauspersonal kann die Frage nach dem «Wozu eigentlich?» in Bezug auf den eigenen Beruf umso stärker auftreten.

Auf der anderen Seite sind Konflikte mit den Kolleginnen und Kollegen oder mit dem Chef, die oft durch die alleinige Anwesenheit provoziert werden, ebenfalls weiter weg und werden vorübergehend eingefroren. Der Pausenmodus für soziale Konflikte, die in einer Slack-Gruppe beispielsweise viel weniger stark ausgetragen werden können als im direkten sozialen Kontakt, beendet die Konflikte aber natürlich nicht.

Zeit zur Selbstreflexion

Hier bietet sich für Betroffene eine wohl einmalige Gelegenheit, mögliche Konflikte zu analysieren und zu reflektieren. Und zu erleben, dass Arbeit auch ohne den schwierigen Kollegen möglich ist. Wenn die Firmenkultur natürlich so toxisch ist, dass sich dies auf die digitalen Kommunikationskanäle ausweitet, nützt auch diese Zeit zur Selbstreflexion wenig.

«Unklare Aufträge, fehlende Abstimmungen und falsche Zuständigkeiten fallen jetzt mehr ins Gewicht, da sie deutlicher hervortreten und nerven», sagt Unkel. Vor allem dann, wenn Eltern zu Hause neben der Arbeit die Kinderbetreuung gut machen wollen. Das zwingt zur Effektivität und Effizienz. Sind die Voraussetzungen dafür nicht gegeben, birgt das Konfliktpotenzial. Da kann es schnell mal heissen, für Mitarbeitende, deren Kinder zu Hause herumturnen, und für die ohne Kinder gelten unterschiedliche Regeln. Aber hier ist Vorsicht geboten: Menschen, die plötzlich alleine zu Hause sind und bei denen auch noch der soziale Kontakt im Büro wegfällt, können ebenfalls starken psychischen Belastungen ausgesetzt sein. Ohne Rücksicht von beiden Seiten wird es schwierig.

Remote Working: Die Grundregeln

▶︎ Erreichbarkeit: Seien Sie zuverlässig. Stellen Sie sicher, dass Sie zu den vereinbarten Zeiten erreichbar sind und zeitnah auf Anfragen reagieren können. Widmen Sie den Arbeitstag nur dienstlichen Aufgaben.

▶︎ Kommunikation: Wählen Sie eine neutrale Sprache. Wird nur über Text kommuniziert, entstehen schnell Missverständnisse. Formulieren Sie E-Mails und Instant Messages so neutral wie möglich, meiden Sie zum Beispiel Sarkasmus. Lesen Sie Nachrichten immer zur Kontrolle durch.

▶︎ Reaktionszeit: Einigen Sie sich mit Kollegen auf gemeinsame Regeln, zum Beispiel darauf, wann Meetings stattfinden, auf welchen Kommunikationswegen und wie schnell reagiert werden soll. Klare Erwartungen helfen, Streit zu vermeiden. Regeln Sie auch, zu welchen Zeiten nicht mehr auf E-Mails und Telefonate reagiert werden muss.

▶︎ Vorbild: Halten Sie sich auch als Chef und Chefin an die Regeln, wählen Sie sich etwa pünktlich in Konferenzen ein und sorgen Sie dafür, dass Teilnehmende gleichermassen zu Wort kommen.

Reinhard Schmid, Gründer des S&B Instituts für Berufs- und Lebensgestaltung in Bülach, kann sich gut vorstellen, dass der Zwang zum Homeoffice bei vielen die Sinnfrage verstärkt. Besonders auch Menschen, die im Büro nicht besonders ausgelastet sind, hätten jetzt unendlich viel Zeit, über die Arbeit und das Leben überhaupt nachzudenken.

«Wenn einem der Beruf bisher Freude bereitet hat und man auch im Homeoffice entsprechende Voraussetzungen hat, die es erlauben, den Beruf weiterhin auszuüben, kann ich mir gut vorstellen, dass man diese Zeit als Job-Enrichment empfindet und man dadurch sogar neue Kompetenzen erwerben kann», sagt Schmid. Man könne die Phase also durchaus als Bereicherung empfinden.

Untauglichkeit fürs Homeoffice

«Wenn sich meine Tätigkeit, trotz Kreativität meinerseits und des Arbeitgebers, nicht als Homeoffice-tauglich erweist, dann wird es bedeutend schwieriger. Dann denke ich, dass nach einer gewissen Zeit die Menschen schon ins Grübeln kommen können und darüber nachdenken, was sich ändern liesse.» Diese Untauglichkeit für Homeoffice kann auch an der Unzulänglichkeit der digitalen Tools oder deren falscher Nutzung liegen.

Viele Teams sind es seit Jahren gewohnt, digital zu kommunizieren; sie organisieren nicht nur den Arbeitsprozess, sondern etwa auch digitale Apéros und haben das ganzheitliche Büroerlebnis ins Netz geholt. Andere sind froh, wenn sie es mit Ach und Krach schaffen, ihre Kolleginnen und Kollegen in der Telefonkonferenz zu verstehen. Die Sache mit der Sinnkrise im Homeoffice sei dann aber auch für die, die digitale Kommunikation gewohnt sind, nicht so einfach, so Schmid.

Viele Menschen würden durch die gerade gestartete Rezession von Existenzängsten geplagt. Die Bereitschaft, eine Veränderung anzugehen, wird durch finanziellen Druck oder die Angst, ganz gefeuert zu werden, behindert. Kurz zusammengefasst: Nie hatten wir so viel Zeit, uns Sinnfragen zu stellen, aber wenn die Rezession wirklich so schwer kommt, wie es erwartet wird, war es noch nie ein so schlechter Zeitpunkt, den Job zu wechseln.

Reflexionszeiten nutzen

Dennoch ist Unkel überzeugt: «Wenn nun die jetzige Ausnahmesituation dazu führt, dass wir uns mit uns selbst beschäftigen, zur Ruhe kommen, reflektieren und die sogenannte innere Stimme hören, dann ist das sicher nicht falsch.» Zu unterscheiden seien diese Gedanken aber von Panik und Angst. «Beides kann irreführend sein, weil eine Stressreaktion im Körper stattfindet. Stresshormone sind selten ein guter Ratgeber auf dem Weg zu einem sinnerfüllten Leben. Ich denke, wir Menschen wissen, wann wir aus einer Überreaktion heraus entscheiden und wann unsere echten und wahren Überzeugungen zu uns sprechen», so Unkel.

Wer unsicher ist, der solle sich selbst beschreiben, wie er oder sie im Moment agiert und welche Emotionen dominant sind. Man könne auch seinen Partner fragen, einen guten Freund oder seine Kinder. Letztere seien oftmals die ehrlichsten und direktesten Feedback-Geber.

Schmid würde sich wünschen, dass möglichst viele Menschen nach dem ersten Schock im Homeoffice die notwendige Ruhe finden, über ihre Arbeitsmarktfähigkeit nachzudenken: «Wie kann ich diese im bestehenden Beruf erhalten und weiterentwickeln, sodass ich auch in Zukunft ein Einkommen habe und Zufriedenheit im Beruf erlebe?»

Stefan Mair
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