Komplexität ist das Resultat von Globalisierung, der Errungenschaften von Telekommunikation und Informatik, der Beschleunigung bis hin zur Parallelisierung von Prozessen usw. Diese simple und oft gehörte Darstellung ist eine Binsenweisheit, die zum Trugschluss verführt, Komplexität wäre eine Erfindung der Neuzeit. Dies ist indes nur die halbe Wahrheit.

Das Thema ist nämlich so alt wie die Menschheit: Das komplexe und zu wirtschaftlichem wie gesellschaftlichem Stillstand führende Kastenwesen in Indien gibt es seit mehr als 3000 Jahren. Erst seitdem – zumindest in den Städten – die starre Ordnung sich aufweicht, vollzieht Indien eine kontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung, gewinnt an Wohlstand und immer mehr auch an Dynamik.

Was soll mit diesem Beispiel gesagt werden? Es gibt tatsächlich zwei Arten von Komplexität, und beide müssen gemanagt werden, wenn Komplexitätsreduktion angesagt ist:
  1. Die neue, technologiebestimmte Komplexität, deren Einzelfaktoren (Digitalisierung, Globalität, Aufhebung von Distanzen und Zeitgrenzen) zu einer Verdichtung von Prozessen führt, die subjektiv als mehr oder minder komplex erfahren werden.
  2. Die alte, vom Menschen bestimmte Komplexität, die sich nicht binnen kurzer Zeit entwickelt, sondern langsam, fast schleichend entsteht, weil Menschen, Gemeinschaften, Parteien, Unternehmen in irgendeiner Weise davon profitieren.
In diesem Beitrag soll bewusst von beiden Arten der Komplexität die Rede sein.

Komplexität besteht, weil jemand davon profitiert
Ausbaubare Prosperität als Ergebnis einer Komplexitätsreduktion: Diese Gesetzmässigkeit trifft nicht nur auf Indien, sondern auch auf viele Unternehmen zu. Das Problem ist, dass Komplexitäten jedwelcher Art sich oft nur gegen Widerstände auflösen lassen, weil es in jedem Miteinander (Nation, Unternehmen, Partei, Familie) Menschen gibt, die von der jeweiligen Komplexität profitieren.



In Unternehmen sind es mal die Lieferanten, mal die Mitarbeiter, einzelne mehr oder minder einflussreiche Führungskräfte oder Aktionäre, oft auch die Kunden.

Die nachfolgenden Beispiele sind beliebig belegbar, jedoch keineswegs vollständig:
  • Eine grosse Produkte- oder Variantenvielfalt eines Unternehmens führt häufig zu einer hohen Komplexität, beispielsweise in der Entwicklung, Beschaffung, Produktion und im Vertrieb. Davon profitieren zumindest kurzfristig die Lieferanten und Dienstleister (Aufträge), die Mitarbeiter (Arbeitsplatz), die Kunden (jedes Produkt ist irgendwie einzigartig). Langfristig jedoch kann diese Vielfalt ein Unternehmen auszehren. Die europäische Maschinenbaubranche lieferte in den Achtzigerjahren leider eine Reihe von Beispielen dieser Art.
  • Eine zu grosse Anzahl von echten oder vermeintlichen Entscheidungsträgern kann ein Unternehmen in anarchieähnliche Zustände führen und schliesslich zum Stillstand bringen, weil letztlich keiner mehr das Sagen hat. Zunächst meinen alle, davon zu profitieren, weil doch jeder mitreden kann. Auch hierzu gibt es eine Reihe von Beispielen, sei es die frühere deutsche Photo Porst oder andere oftmals politisch-ideologisch geprägte Unternehmen wie beispielsweise die deutsche linksalternative «Tageszeitung» (TAZ).
  • Zu komplexe Projekte (zu viele Stellhebel und Prozesse, zu viele unterschiedliche persönliche Interessen und Machtansprüche) sind oft zum Scheitern verurteilt. Davon profitieren – nur kurzfristig – beispielsweise all jene, die Veränderungen boykottieren oder kurzfristig nur für sich nutzen wollen. Beispiele gibt es auch dazu, wahrscheinlich in jedem Unternehmen.
Am Beispiel von Spitalunternehmen (sie stehen in diesem Beitrag stellvertretend auch für alle Industrieunternehmen mit einem hohen Bezug von externen Dienstleistungen oder Produkten) soll nachfolgend deutlich gemacht werden, worauf es ankommt, wenn diese Komplexität deutlich reduziert werden soll.

Als Felder mit besonders hohem Potenzial zur Komplexitätsreduktion sind in vielen Unternehmen, insbesondere aber im Spital, der Einkauf und die Logistik auszumachen. Diese beiden Prozesse weisen für sich bereits eine hohe Eigenkomplexität auf; gleichzeitig führen sie aber auch in den nachgelagerten Prozessen der Leistungserstellung (medizinische Versorgung, Pflege usw.) zu einem Komplexitätszuwachs.

Fallbeispiel Spitalwesen
Ein Klinikum mittlerer Grössenordnung (300 Betten) hat ein permanentes Beschaffungsportfolio von mehreren 1000 Artikeln. Das Klinikum Ludwigshafen (Deutschland), ein Kunde der Novarei AG, verfügte als 1000-Betten-Haus einst über eine Bezugspalette von 80 000 bis 100 000 Produkten (Medizinprodukte, Sterilgüter, Wäsche, Büromaterial, Nahrungsmittel, Energie, Betten, medizinische Geräte usw.).

Und jedes dieser Produkte (viele davon sind Verbrauchsgüter wie beispielsweise Spritzen, Kanülen, Abdecktücher im Operationssaal usw.) gibt es in verschiedenen Varianten von einer Vielzahl Lieferanten.

Entsprechend stark ist die Aufblähung der Prozesse pro Produkt (von der Bedarfsfeststellung über die Bestellung bis hin zur Entsorgung des jeweiligen Produkts). Und entsprechend komplex, zeitintensiv und teuer ist das Ganze.

Die Produkte- und Lieferantenvielfalt ist also ein wichtiger Stellhebel für die Optimierung des Beschaffungsprozesses. Wer seine Produkte- und Lieferantenvielfalt reduziert, spart Zeit, vereinfacht die Leistungsabläufe, verbessert meist die eigene Leistung und reduziert die Kosten.

Ein anderes Komplexität erzeugendes Feld ist die Logistik. Meist geht es ja Hand in Hand: Komplexe Beschaffungsstrukturen und -prozesse ziehen eine komplexe Logistik unmittelbar nach sich. Zu viele Produktehersteller (oder die von ihnen beauftragten Transportunternehmen) beliefern die Spitäler und deren Stationen quasi chaotisch in nicht systematisierten Intervallen (Häufigkeit), mit nicht optimalen Mengen zu nicht koordinierten Zeiten in nicht abgestimmten Gefässen usw.

Die Folge sind in der Regel chaotische Belieferungsprozesse und Qualitätseinbussen sowie ein Kostenanstieg bei den weiterführenden Prozessen (Operation, Station, Versorgung und Entsorgung).

Die Beschaffungslogistik ist somit der zweite wichtige Stellhebel eines Spitals zur Verbesserung von Abläufen und Leistungsqualität sowie zur Kostensenkung.

Konflikte der Interessengruppen
Aber Achtung: Beide Veränderungshebel klemmen gelegentlich, weil es, wie eingangs erwähnt, durchaus Personengruppen gibt, die von der jeweiligen Komplexität profitieren.

Im Fall des Spitals sind dies in der Regel vor allem die Hersteller von Medizinprodukten und die Logistikunternehmen. Denn sie verdienen ja an der Komplexität. Keineswegs unterschätzt werden sollten aber in diesem Zusammenhang die Interessen und entsprechenden Widerstände der Spitalmitarbeiter selbst. Schliesslich verlieren sie bei einer Reduktion der Artikel- und Lieferantenvielfalt unter Umständen an Freiheitsgraden bei der Auswahl.

Beim Klinikum Ludwigshafen hat man die Tragweite der daraus möglicherweise entstehenden Konflikte und die Schwierigkeit, diese Konflikte als ja parteiische Institution zu managen, sehr frühzeitig erkannt und daraufhin einen Outsourcingpartner mit der Wahrnehmung der diesbezüglichen Interessen beauftragt.

Als Zielsetzungen hatte die Klinikleitung definiert:
  • Reduktion der Produkte- und Lieferantenanzahl (siehe Kasten «Erfolgsfaktor Standardisierung»); Wirkungsziel: Kostensenkung.
  • Aufbau einer gemeinsamen Beschaffung mit anderen Spitälern; Wirkungsziel: Kostensenkung.
  • Verbesserung der Planbarkeit von Beständen, Preisen, Budgets usw.; Wirkungsziel: Sicherheit.
  • Entflechtung der externen und internen Logistikstrukturen, verringerte Lagerhaltung, geringere Kapitalbindung und gleichzeitig höchste Versorgungssicherheit (siehe Grafiken «Komplexität versus ... Wirtschaftlichkeit» und Kasten «Erfolgsfaktor Logistik»).

Radikale Vereinfachung kann ein Weg sein – der ins Aus führt
Auf welche Weise erfolgte nun die Umsetzung der Ziele? Natürlich kann man über die gnadenlose Ausdünnung von Produkten, Artikeln und Lieferanten die Prozesse eines Spitals verschlanken. Das Risiko, sich Feuer im eigenen Dach zu legen, ist in diesem Falle allerdings hoch.

Beim Klinikum Ludwigshafen und bei allen anderen Kunden geht Novarei deshalb einen strikt anderen Weg, auch wenn dieser gelegentlich ein wenig umständlicher ist.

Davon ausgehend, dass jede Komplexitätsreduktion aus den beschriebenen Gründen zu Konflikten führt, verfolgt Novarei das Ziel, dass keine der Interessengruppen einen Totalverlust oder Totalgewinn erleiden darf.

Soll heissen: Win-win entsteht nicht nur, wenn alle profitieren, sondern vor allem, wenn alle etwas preisgeben müssen. Dies zum Vorgehen.

Im Einzelnen wurden beim Klinikum Ludwigshafen folgende Handlungsfelder neu organisiert:
  • Durch eine konsequente Standardisierung der zu beschaffenden Produkte wurde die Anzahl der Produkte und auch der Lieferanten reduziert (siehe Kasten «Erfolgsfaktor Standardisierung»).
  • Durch die Bündelung der Einkaufsmacht (auch über den Zusammenschluss mit anderen Krankenhäusern) konnten in Verhandlung mit den Lieferanten günstigere Einkaufspreise erzielt werden.
  • Durch den Aufbau langfristiger Beziehungen gelang es, die Planbarkeit von Beständen, Preisen usw. zu verbessern. Die Lieferanten profitierten übrigens von gegenüber früher weit höheren Volumina.
  • Durch die Errichtung eines Logistikzentrums konnten die tägliche Just-in-Time-Belieferung der Stationen (zu festen Zeiten), kurze Versorgungswege, eine verringerte Lagerhaltung und Kapitalbindung sowie höchste Versorgungssicherheit realisiert werden (siehe Kasten «Erfolgsfaktor Logistik»).
  • Durch die Einführung einer durchgängigen und modernen IT konnten die Bestell- und Abrechnungsprozesse erheblich vereinfacht werden.
Die Resultate: Die Produktepalette konnte um 30 und die Anzahl der Lieferanten um 40 Prozent reduziert werden. Ebenso verhielt es sich mit den Logistikbewegungen: Sie betragen heute ein Zwanzigstel der früheren Bewegungen und wurden ausserdem in die Randzeiten verlegt. Gesamthaft sanken die Beschaffungs- und Logistikkosten um 25 Prozent. Wie erwähnt, profitierten auch die Lieferanten: Ihr Volumen wuchs teilweise um bis zu 100 Prozent.

Dieser Erfolg wurde indes nicht leicht errungen. Was zuvor zur Komplexität geführt hatte, nämlich die unterschiedlichen Interessen einzelner Gruppen, konnte nicht einfach übergangen werden.

Als Faustregel gilt deshalb: Vor allem die Mitarbeiter, aber auch die Lieferanten und Logistiker müssen von Anfang an in den Standardisierungsprozess usw. eingebunden werden. Teils geschieht dies durch die Integration von einzelnen Beschäftigten in die jeweiligen Teams, teils durch eine frühzeitige und ansprechende Information der Mitarbeiter.

Dieses moderate Vorgehen gegenüber den Mitarbeitern bringt klare Vorteile gegenüber dem Durchdrücken von oben. Denn die Mitarbeiter identifizieren sich so von Anfang an mit den Veränderungen. Und somit tritt auch von Anfang an ein, was durch die Systematisierung von Beschaffung und Logistik erreicht werden sollte: eine Steigerung der Qualität und gleichzeitig eine Senkung der Kosten.
Partner-Inhalte