Als ich 25-jährig war, war ich hochintelligent. Ich hatte einen Intelligenzquotienten von über 130. Ab einem IQ von 130 gehört man zu den sogenannt Hochbegabten, deren intellektuelle Leistungskraft weit über dem Durchschnitt der Bevölkerung liegt.

In Wahrheit war ich schon damals nicht besonders helle. Mein hoher IQ-Faktor erklärte sich daraus, dass ich Psychologie studierte. Wir mussten uns während des Studiums immer wieder mit Intelligenztests beschäftigen. Mit der Zeit bekamen wir bei deren Lösung eine derartige Routine, dass wir jeweils glänzend abschnitten. Ich war also nicht intelligent, ich hatte Intelligenz geübt.

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Wir sind damit bei der alten Frage, was wichtiger sei, Talent oder Übung. Es spricht einiges dafür, dass es nicht die Übung ist.

Das grösste Talent der Sportgeschichte ist Babe Zaharias, geboren 1911. Sie trainierte selten, aber sie war Weltspitze in Basketball, Baseball, Schwimmen, Tennis, Boxen, Volleyball, Handball, Bowling, Billard, Eisschnelllaufen und Radrennen. Sie gewann 17 Golfturniere der US-Profitour nacheinander. Zum Zeitvertreib nahm sie an Olympischen Spielen teil. Sie gewann Gold im Speerwurf und über 80 Meter Hürden.

Das grösste intellektuelle Talent ist wohl Gottfried Wilhelm Leibniz, geboren 1646. Er legte den Grundstein für das duale Zahlensystem und damit für die heutige IT-Technologie. Dazu erfand er unter anderem das Fliessband, das Unterseeboot, Türschlösser, den Windgeschwindigkeitsmesser, die Rechenmaschine, und er schrieb wegweisende Werke über Geschichte, Paläontologie, Linguistik und Jurisprudenz. Sein Problem war, so sagte er, dass er beim Aufwachen schon so viele neue Ideen im Kopf hatte, dass der Tag nicht reichte, um sie alle niederzuschreiben.

Man kann es andererseits auch mit Übung weit bringen. Man kann mit Fleiss, aber ohne Talent zum Torhüter des nationalen Fussballteams aufsteigen. Auch die meisten CEO, die heute an der Spitze unserer Unternehmen stehen, haben es mit Übung dorthin gebracht. Sie kämpften sich die üblichen Karriereleitern hoch: Assistent, Controller, Produktmanager, Vertriebsleiter, Marketingchef, CEO.

Dieser Typus funktioniert im Alltag wunderbar. Er funktioniert, weil Übung die Repetition des Gewöhnlichen ist.

Das Problem, so weiss die Wissenschaft, ist nun aber das Ungewöhnliche. Hier funktioniert dieser Typus oft nicht mehr, weil eine nicht repetitive und unbekannte Situation entstanden ist. Darum wird der übungsstarke Torwart den entscheidenden Elfmeter nicht halten. Der wenig talentierte, aber fleissige CEO wird in der ungewohnten Stunde der Entscheidung vermutlich den falschen Entscheid fällen. Nun fehlt das Talent.

In der Zoologie gibt es dieselbe Diskussion. Berühmt wurde in einem Versuch der Universität Oxford die Krähe Betty. Ihr Futter war in einer Röhre versteckt, daneben lagen Drähte. Betty schaffte es schliesslich, mit dem Schnabel einen Draht so zurechtzubiegen, dass sie damit das Futter aus der Röhre angeln konnte.

Viele haben das als Beweis für Intelligenz bei Tieren gewertet. Skeptiker hielten dagegen, der Vogel habe einfach so lange geübt, bis ihm die Lösung gelungen sei. Ich glaube, die Skeptiker haben recht.

Übung macht den Meister, sagt man. Ich glaube, Übung macht nur den scheinbaren Meister.

Kurt W. Zimmermann ist Verlagsunternehmer. Er ist Kolumnist und Buchautor zu den Themen Medien und Outdoor-Sport. Zudem studiert er Biologie.