Ich kann die moderne Kunst weder billigen noch schön finden, ich finde sie ausgesprochen scheusslich», schrieb C.G. Jung am 23. Dezember 1932 an die «Neue Zürcher Zeitung». Anlass zu diesem Brief war die Ausstellung von 460 Bildern Pablo Picassos im Kunsthaus Zürich. Diese hatte im Herbst des gleichen Jahres über 25 000 Besucher angelockt. Der selbstgerechte Psychologiepionier hatte in der «NZZ» seine Diagnose gestellt und sich als Psychiater «mit ungeteiltem Interesse» um die zugrunde liegende seelische Problematik Picassos bemüht: Er ortete eine Analogie zu seinen Patienten, die ihre Störungen in Bildern ausdrückten. Er schloss, dass bei Picasso ein «schizoider Symptomenkomplex» vorliege, seine Bilder liessen die Betrachtenden kalt und wirkten wegen ihrer paradoxen, gefühlsstörenden, schauerlichen oder grotesken Rücksichtslosigkeit erschreckend.

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Einige kauften dann trotzdem Bilder. Und jene, die es nicht taten, sollten das später bereuen: Jedes einzelne davon ist heute viele Millionen wert.

Diese Kunst, die auch in Nazideutschland als «entartet» klassifiziert und aus den Museen entfernt wurde, teilte das Schicksal von Aktien, wissenschaftlichen Erkenntnissen und medizinischem Fortschritt, Errungenschaften, die allesamt von den Zeitgenossen entweder nicht wahrgenommen oder nicht korrekt eingeschätzt wurden. Der geniale österreichische Schauspieler Oskar Werner reagierte auf schlechte Besprechungen durch Kritiker mit der Bemerkung, er rede nicht mit Eunuchen über die Liebe.

Die Unfähigkeit, die Gegenwart und das Grosse darin zu erkennen, hat Tradition: Als Beethovens Dritte Sinfonie in Wien erstmals aufgeführt wurde, ereiferten sich die Zeitungen über das Rohe und Primitive in diesem Werk. Van Gogh verkaufte bekanntlich zu Lebzeiten kein einziges Bild. Und die Uraufführung von Ravels «Boléro» in Paris provozierte im Publikum den Ausruf, der Komponist sei verrückt geworden – Ravel meinte dazu, die Ruferin habe ihn als Einzige verstanden. Für verrückt erklärt wurden auch Anleger, die früh Aktien von Apple kauften.

Wir sind also grösstenteils unfähig, die Gegenwart richtig einzuordnen und den Wert von Neuem und Ungewohntem zu erkennen. Ketzer wurden verbrannt und Galilei in einem «fairen Prozess» (so Papst Benedikt XVI.) gezwungen, die Sonne als um die Erde kreisend anzuerkennen. Als Charles Darwin die bedeutendste wissenschaftliche Erkenntnis des 19. Jahrhunderts in seinem Werk «On the Origin of Species» veröffentlichte, wurde er geschmäht und ausgegrenzt. Wenigstens blieb ihm das Schicksal, als Ketzer auf dem Scheiterhaufen zu landen, in der Neuzeit erspart. Der Arzt Ignaz Semmelweis, der entdeckte, dass Medizinstudenten, die zuvor Leichen zerschnitten hatten, anschliessend Wöchnerinnen durch Bakterienübertragung mit tödlichen Keimen infizierten, endete als vergessener medizinischer Praktiker in der Provinz.

Wir lebten in Ratlosigkeit – und wir tun dies noch heute. Einst wurde die «Chlorose», die Blutarmut junger Frauen, mit Aderlass behandelt, und heute wollen wir nichts vom Klimawandel wissen und bejubeln dafür Saubers zweiten Rang im Formel-1-Rennen von Malaysia. Und bei den Hausärzten sind wir uns auch nicht einig darüber, ob diese frei praktizieren dürfen oder in Netzwerken zusammengepfercht werden müssen.

Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.