An einem herrlichen Septembertag vor 50 Jahren wollten Gerd und ich über den Südpfeiler auf den Grossen Drusenturm klettern. Es sollte unsere bislang schwierigste Tour werden. Wir überwanden hundert Meter über dem Einstieg die Schlüsselstelle der Tour, eine Platte mit rauen Stellen anstelle von Griffen. Irgendwie schwindelte ich mich mit den damals schweren Schuhen da hinauf, es war das Äusserste, was ich klettern konnte. Mit gewachsenem Selbstbewusstsein wurde der weitere Aufstieg zum übermütigen Vergnügen. Gegen Mittag waren wir 350 Meter über dem Boden, als ich am Ende eines überhängenden Kamins an einem Standplatz innehielt. Gerd stieg nun voraus, nach zwanzig Metern zwängte er sich in einen engen Risskamin. Ich sah ihn nicht mehr, hörte ihn aber sagen, dass es nun leichter werde. Dann war das Vierzigmeterseil fast zu Ende. Ein schabendes Geräusch schreckte mich auf: Direkt über mir schoss Gerd in die Tiefe. Ein Zwischenhaken wurde herausgerissen, der zweite hielt. Den Seilruck spürte ich kaum, Gerd klatschte direkt über mir in die Felsen. Ruhe, dann Stöhnen. Gerd hing zusammengekrümmt im Seil, überall floss Blut.

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Heute könnte man telefonieren, eine halbe Stunde später würden Rettungsengel den Verletzten an der Longline bergen. Doch damals gab es nur Selbsthilfe, die Regeln waren einfach: Nur die gerade anwesenden Kollegen und der Betroffene selbst konnten versuchen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich behandelte die grosse blutende Wunde am Rücken mit Druckverbänden und seilte meinen Freund Länge um Länge ab. Bei ihm wechselten Phasen von Bewusstlosigkeit und Wachsein. Ich schlug Galerien von Haken in den brüchigen Fels, zerschnitt das Reserveseil und machte kunstvolle Schlingen zur Sicherung. Ich verbrauchte all unser Material. In der Dunkelheit erreichten wir nach 400 Metern Abstieg ebenen Boden.

Sogleich rannte ich zur nächsten Hütte und kehrte um 23 Uhr zu Gerd zurück. Er lebte noch. Mit zufällig anwesenden Bergsteigern trugen wir ihn nach unten zu einem Strässchen. Hier fand uns die Bergrettung, zwei Stunden später wurde Gerd operiert, er hatte die Hälfte seines Blutes verloren. Auf dem Rückweg schlief ich beim Gehen fast ein. Glücklicherweise hatte ich in der Fabrik Nachmittagsschicht, sodass ich rechtzeitig dort eintraf.

So war das damals. Wer Extrawürste wollte, musste dafür arbeiten, Krisen verlangten nach Selbsthilfe. Wer im Himalaja in Not kam, starb, wenn er den Abstieg nicht schaffte. Heute gibt es auch dort Helikopter und Helfer für Selbstüberschätzer und alternde Stars. Der Veteran Juanito Oiarzabal, der alle Achttausender der Welt zum zweiten Mal besteigen will, musste in den letzten Jahren dreimal gerettet werden. So kann er weiter versuchen, für sich einen Podestplatz in dieser Geschichte der Sinnlosigkeit sicherzustellen.

Die Versuche zur Rettung der griechischen Finanzen werden wohl weniger erfolgreich sein. Und dem Schweizer Tourismus wäre mit mehr Selbsthilfe mehr geholfen als mit bundesrätlichen Überweisungen. Steve Jobs wurde mit 30 bei Apple gefeuert, für einige Monate war er ziemlich ratlos. Dann startete er die neuen Abenteuer NeXT und Pixtar und ermöglichte die Renaissance von Apple.

Zur Geschichte mit Gerd: Er hat sein Risikoverhalten drastisch angepasst und ist nie mehr geklettert. Ob das weise war, kann ich nicht sagen. Steve Jobs empfiehlt: «Stay hungry. Stay foolish.» Ich habe Gerd vor einer Woche zu seinen zweiten fünfzig Jahren gratuliert.

 

Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.