Unlängst las ich, dass Edward D. Thomas mit 92 Jahren gestorben ist. Der Mann hat mich beeindruckt. Er führte in den späten sechziger Jahren mit einem winzigen Team die Knochenmarktransplantation zur Behandlung akuter Leukämien ein, alle anderen Forscher hatten wegen Misserfolgen aufgegeben. Diese aufwendige und belastende Prozedur ist heute, soweit anwendbar, die wirkungsvollste Methode zur Heilung von bestimmten Blutkrebsformen. Thomas erhielt dafür 1990 den Nobelpreis in Medizin.

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Thomas ist mir auch als Meister des ärztlichen Aufklärungsgesprächs in Erinnerung. 1980 betreute ich in Zürich Scott, einen jungen amerikanischen Investment Banker mit einer akuten myeloischen Leukämie. Dank einer aggressiven Chemotherapie erreichte der Patient eine Remission, also das Verschwinden aller Krebszellen. Viele erlitten aber damals einen Rückfall, der schwierig zu behandeln war. Ich schickte Scott deswegen mit der Frage einer eventuellen Knochenmarktransplantation zu Thomas. Dieser erklärte dem Patienten die Prozedur, liess viele Erklärungen unterschreiben und zeigte ihm die sterile Box, in der er einige Wochen würde verbringen müssen. «Scott, this is the place where you are probably going to die», fasste er die Risiken zusammen.

Walter Bonatti war einer der bedeutendsten Bergsteiger des zwanzigsten Jahrhunderts, sein Leben bildet den Stoff von Legenden. Mit achtzig Jahren litt er an Bauchbeschwerden, eine entsprechende Abklärung ergab das Vorliegen eines Pankreaskarzinoms. Diese Tatsache und die miserable Prognose wurden dem Patienten auf Betreiben von Frau, Freunden und im Stil traditioneller südlicher Medizin verschwiegen, er wurde bis zu seinem Lebensende wenige Monate später angelogen.

Das hat mich ziemlich erschüttert, dem Helden von Dru, Fitz Roy, K2, Mont Blanc und Matterhorn wurde verweigert, über sein eigenes Schicksal zu bestimmen. So werden Patienten auch heute noch angeschwindelt, und statt der unerfreulichen Wahrheit wird ihnen eine Dritt- oder Viertlinienchemotherapie offeriert. Es ist für Spezialisten einfacher, auszuweichen und zu beschönigen. Auch ist der Wissensvorsprung unserer Kaste fast unüberwindbar, der aus dem Internet orientierte Patient ist «confused at a higher level», und die persönliche Betroffenheit verhindert rationales Verstehen.

Das Unausweichliche auszusprechen, bleibt dann dem Palliativmediziner oder dem allenfalls etwas überforderten Allgemeinmediziner vorbehalten. Ich erinnere mich an die Zwanzigjährige, die ich erst traf, nachdem sie schon zahlreiche Behandlungen absolviert hatte. Es waren keine Pfeile mehr im Köcher, ich musste ihr sagen, dass sie demnächst an ihrer Krankheit sterben würde. Das Schreien, als sie davonlief, werde ich nie vergessen.

Das Aufklärungsgespräch von Thomas hat gewirkt, mein Patient Scott nahm die Herausforderung an, kämpfte «like hell» und wurde geheilt. Er hat mir später mehrfach davon erzählt und brachte immer ein Sixpack Coors Light mit – für Nichteingeweihte: ein Bier aus Colorado. Das hatten wir in seiner kritischen Zeit so vereinbart.

Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich.Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.