BILANZ: Frau Hakim, wie kamen Sie in Ihrem Büro an der London School of Economics zum Thema «erotisches Kapital»?

Catherine Hakim: Das war eine natürliche Erweiterung meiner Forschungsarbeiten zur Familien- und Sozialpolitik oder über Frauen in der Arbeitswelt. Ich forschte weiter, weil man die Position der Frauen in der Arbeitswelt nicht beschreiben kann, ohne ihre Stellung in der Familie zu kennen. Über die Themen Hausarbeit, Zeitbudget, Einkommensverteilung in der Partnerschaft fand ich heraus, dass es ein weiteres gibt, über das in diesem Zusammenhang keiner spricht.

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Das erotische Kapital.

Richtig. Es spielt eine grosse Rolle, wie attraktiv man ist beziehungsweise als wie attraktiv man wahrgenommen wird. Da wurde mir klar, dass dieses Thema überall eine Rolle spielt – im Leben zu Hause ebenso wie in der Politik und natürlich am Arbeitsplatz.

Physische Attraktivität als unterschätzter Karrierebeschleuniger?

Genau. Politiker, die attraktiv sind, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, gewählt zu werden. Angestellte, die gut aussehen, haben grössere Aufstiegschancen und verdienen mehr. Jüngere Studien zeigen, dass selbst ein attraktiver Uniprofessor von seinen Studenten ein besseres Rating für seine Vorlesungen erhält. Das erotische Kapital spielt also auch da eine Rolle, wo wir bisher der Meinung waren, es komme nur auf das Wissen an. Dies zu erforschen, ist eine komplett neue Idee.

Dass Schönlinge, Schönheiten und gute Selbstverkäufer weiterkommen, ist doch nichts Neues.

Man mag das so vermutet haben. Aber es gibt einen Unterschied zwischen dem, was man zu wissen glaubt, und dem, was tatsächlich bewiesen werden kann. Für mein Buch konnte ich auf jede Menge aktueller Studien zurückgreifen, die das in den letzten Jahren bewiesen haben. Das erotische Kapital ist ein Phänomen des 21. Jahrhunderts – und es wird wichtiger werden. In Studien konnte bewiesen werden, dass ein starkes erotisches Kapital 10 bis 20 Prozent mehr Einkommen bewirken kann.

Wieso soll das Thema heute wichtiger sein als früher?

Aus drei Gründen. Durch die digitale Fotografie und Tools wie Facebook sind Bilder überall und jederzeit verfügbar. Man kann sich von jedem sehr schnell einen ersten Eindruck machen. In dem Masse, wie die Gesellschaft reicher wird, kann man sich mehr Luxus leisten und verlangt nach einer verfeinerten Darstellungsform. Am wichtigsten ist wohl die Veränderung der Arbeitswelt. Je mehr wir uns von der produzierenden und verarbeitenden Wirtschaft zur Dienstleistungsgesellschaft entwickeln, desto wichtiger werden Charme, Charisma und Aussehen am Arbeitsplatz. Weil man vor allem Ideen verkauft, Strategien schmiedet und Kunden binden muss, verlangt das eine optimale Präsentation. Am Fliessband spielte das noch keine Rolle.

Ihre Idee des erotischen Kapitals baut auf den drei Kapital-Typen des französischen Philosophen Pierre Bourdieu auf. Das ökonomische Kapital – was man besitzt. Das humane Kapital – was man weiss. Das soziale Kapital – wen man kennt. Sie setzen das erotische Kapital hinzu. Welcher der vier Typen ist am Arbeitsplatz am wichtigsten?

Wenn es in Studien darum geht, Erfolg im Erwachsenenleben zu bestimmen, ist die Intelligenz jeweils am wichtigsten – bei Frauen und Männern. Danach aber haben Ausbildung und Attraktivität den gleichen Impact auf den Erfolg. Das zeigt, wie wichtig das erotische Kapital ist.

Wie beurteilen Sie das erotische Kapital des neuen UBS-CEO a.i., Sergio Ermotti?

Ausgehend von Bildern, die ich gesehen habe, denke ich: ein aussergewöhnlich attraktiver Mann, der die Kunst der Selbstpräsentation sehr gut beherrscht.

In den Topetagen sind es meist Männer, die Männer an die Firmenspitze wählen. Selbst dort spielt das erotische Kapital?

Aber natürlich. Das erotische Kapital macht Männer und Frauen attraktiv – für alle Mitglieder der Gesellschaft. Das ist überhaupt nicht auf die Anziehung auf das andere Geschlecht limitiert, denn es geht primär nicht um eine sexuelle Sache. Es geht darum, für andere Leute attraktiv zu sein, damit sie einen kennen lernen wollen, mit einem zusammenarbeiten, einem Dinge, Ideen oder Strategien abkaufen wollen. Es ist eine generelle unbewusste Reaktion darauf, wie wir mit anderen Leuten zusammenarbeiten. Wer das erotische Kapital nur auf die sexuelle Reaktion zwischen den Geschlechtern anlegt, verpasst die Message total.

Wenn ich die Wahl habe, 10 000 Franken für eine Weiterbildung oder einen kleinen Schönheitsservice einzusetzen: Wie ist mein Geld besser angelegt?

Dazu gibt es keine Studien.

Was würden Sie als Erfinderin des erotischen Kapitals denn vorschlagen?

Kommt darauf an, in welchem Beruf man arbeitet und wie alt man ist. Es gibt Leute, die mit 40 Jahren noch einen MBA machen, andere finden, man sei dann schon zu alt dafür. Einige haben genügend Geld für eine Schönheitsoperation, andere nicht. Grundsätzlich gilt einfach dies: Beide, humanes Kapital und erotisches Kapital, haben den gleichen Einfluss auf den persönlichen Erfolg. Für den, der alle beruflichen Qualifikationen hat, spielt die Attraktivität als zusätzlicher Bonus. Wer aber einen Mangel hat bei seinen fachlichen Qualifikationen, kann seine Attraktivität als Alternative einsetzen.

Sie setzen das erotische Kapital aus sechs Einzelteilen zusammen: generelle Attraktivität, Sex-Appeal, Anmut/Charme, Vitalität, soziale Präsentation, sexuelles Verlangen – was sind die wichtigsten Faktoren?

Kein Element ist wichtiger als das andere. Erotisches Kapital zeigt sich am besten dann, wenn man einen Menschen neu trifft: wie man instinktiv reagiert. In den ersten 60 Sekunden wird ein Image generiert und damit klar, ob man die Person mag oder nicht.

Und das ist in allen Kulturen gleich?

Es gibt Unterschiede. In Thailand etwa sind galante Umgangsformen wichtiger, anderswo mag es eher das Gesicht sein oder ein trainierter Körper. Das kann von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich sein. Auch innerhalb der gleichen Kultur oder in verschiedenen Altersgruppen wird möglicherweise anders gewertet und gewichtet.

Ist das persönliche erotische Kapital schon in der Biologie begrenzt, oder kann man es mehren?

Es ist wie mit der Intelligenz. Jüngste Studien zeigen, dass etwa 50 Prozent der Intelligenz, die man hat, vererbt ist. Die anderen 50 Prozent kann man sich aneignen. Und so ist es meiner Ansicht nach auch mit dem erotischen Kapital. Man kann also die zweite Hälfte selber entwickeln. Tatsächlich ist es wohl einfacher, diesen Aspekt zu optimieren, als sich in kurzer Zeit bessere Qualifikationen zuzulegen. Das kann mehrere Jahre dauern, aber einen neuen Anzug hat man sich in einem Nachmittag besorgt. Die eigene Präsentation ist etwas, das man selber bestimmen kann.

Welches wäre der tiefste Einsatz, den man zur Mehrung seines erotischen Kapitals leisten könnte?

Lächeln Sie. Das ist billig, leicht erhältlich – und wird doch von vielen Menschen immer wieder vergessen.

Sie erwähnen in Ihrem Buch die Möglichkeiten des «Beau laid» – des unansehnlichen Mannes, der durch seine Fähigkeit, sich zu präsentieren, attraktiv wirkt und besticht. Wie macht der Mann das?

Es sind die üblichen Dinge: ein passenderer Haarschnitt, ein besserer Anzug, vielleicht eine Glatze, jeder hat eine Möglichkeit, mehr aus sich zu machen.

Kann auch eine wenig attraktive Frau als «Belle laide» Furore machen?

Ja, natürlich.

Kennen Sie eine solche Dame?

Denken Sie an Paloma Picasso. Sie ist zwar keine klassische Schönheit, aber sie hat einen grossartigen Stil und macht aus dem, was sie hat, das Beste. Paloma Picasso sieht doch sehr attraktiv aus.

Wer bloss an seiner Corporate Sexiness arbeitet, mindert doch seine anderen Qualifikationen.

Ich stelle das erotische Kapital nicht auf einen zu hohen Sockel. Ich sage einfach, dass es ein Faktor ist, der bis jetzt ignoriert worden ist. Es ist bewiesen in Studien, und ich weiss, dass er in Zukunft wichtiger wird.

Stehen Sie damit nicht quer im Raum? Jahrelang predigte man uns, dass es in der Arbeitswelt alleine auf die berufliche Qualifikation ankomme. Das sagen ausnahmslos alle Firmen.

Ja, genau, das sagen sie.

Was entscheidet wirklich?

Alle Studien zeigen das Gleiche. Wenn man erfahrene Leute aus Personalabteilungen befragt, dann sagen sie, dass sie bei der Kandidatenwahl keinen Wert auf die Attraktivität gelegt hätten. Experimente im Labor zeigen aber etwas Zusätzliches: Wenn die Kandidaten bei der Qualifikation gleichauf liegen, haben jene bessere Chancen, die attraktiver sind, also mit einem höheren erotischen Kapital einsteigen können.

Machen wirs kurz: Mit IQ und kurzem Rock kommt frau weiter.

Mein Gott, darauf will man das erotische Kapital in den deutschsprachigen Ländern immer reduzieren. So etwas höre ich in anderen Ländern nie! Ein wichtiger Teil des erotischen Kapitals ist es, sich gut zu präsentieren. Das hat nichts zu tun mit tiefem Ausschnitt oder kurzem Rock. Es hat damit zu tun, sich dem Anlass entsprechend zu kleiden, und nicht damit, sich bei der Arbeit als Sexobjekt zu präsentieren.

Ist es unmoralisch, wenn eine Frau exzessiv von ihrem erotischen Kapital Gebrauch macht und sich quasi an die Spitze «hochschläft»?

Sich hochschlafen ist nichts Böses. Ich sehe das nicht als unmoralisch an. Findet irgendwer etwas Schlimmes daran, wenn Männer ihre Sekretärinnen und andere junge Damen verführen? Da sagt doch auch keiner was. Mein Punkt ist: Männer benutzen ihr erotisches Kapital, um alle möglichen Vorteile zu erlangen. Frauen machen das oft nicht. Sie haben noch viel Terrain aufzuholen – damit auch sie die gleichen Vorteile erhalten, die Männer heute schon haben.

Welche weibliche Führungskraft setzt ihr erotisches Kapital optimal ein?

Zum Beispiel Christine Lagarde. Die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds zeigt keine tiefen Ausschnitte, trägt keine kurzen Röcke, dafür schönen Schmuck und einen eher männlichen Haarschnitt – und wurde so eine der mächtigsten Frauen der Wirtschaftswelt.

Wie sieht es aus mit dem erotischen Kapital von Bill Gates, einem der erfolgreichsten und reichsten Unternehmer?

Nun, ich sage ja nicht, dass man attraktiv sein muss, um Erfolg zu haben. Ich sage: Wenn man sein erotisches Kapital aktivieren kann, dann ist das ein zusätzlicher Vorteil, den man benutzen kann und soll. Es ist nicht unbedingt nötig, aber es kann helfen.

Bill Gates ...

Persönlich habe ich ihn noch nie getroffen. Ich finde ihn aufgrund der Bilder, die ich von ihm gesehen habe, nicht attraktiv. Ebenso wenig aufgrund der Interviews, die ich gelesen habe und die ihn als Workaholic zeigen, der keine Freizeitinteressen hat und nie relaxen kann. Für mich ist das ein Mensch, der weder auf dem physischen noch auf dem sozialen Level attraktiv ist.

Ein Winner-Typ, trotz einem erotischen Kapital unter null.

Wahrscheinlich ist er genau deshalb erfolgreich. Weil er 20 bis 30 Jahre seines Lebens seine ganze Kraft in die Arbeit gesteckt hat. Bill Gates hat offenbar kein erotisches Kapital und scheint alles in den Aufbau seines Unternehmens gesteckt zu haben.

Wenn Sie an der Börse Geld investieren: Ist ihnen das Kurs-Gewinn-Verhältnis wichtiger oder das erotische Kapital des Top-Managements?

Natürlich schaue ich nicht auf das erotische Kapital! Weil der Punkt doch ein ganz anderer ist: Wo kommt der Erfolg einer Firma her? An der Spitze jedes Unternehmens geht es doch darum, Ideen zu verkaufen, Strategien, Ziele. Und so viele Studien zeigen, dass attraktive Menschen besser verkaufen. Wer attraktiv ist, hat bessere Chancen, Kooperationen einzugehen. Das ergibt einen besseren Input. Das ist wichtiger, als Bilder des Managements anzuschauen.

Wie werden denn Sie beurteilt auf der Skala von 1 bis 5?

Das habe ich noch niemanden gefragt. Aber ich würde mich selber als ziemlich durchschnittlich einstufen. Wie das im Übrigen auf die allermeisten Menschen zutrifft.